Das Verkehrslexikon

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BGH Urteil vom 21.05.1985 - VI ZR 201/83 - Zum Vertrauensgrundsatz zugunsten eines Kradfahrers an einer "Rechts-vor-links"-Kreuzung

BGH v. 21.05.1985: Zum Vertrauensgrundsatz zugunsten eines Kradfahrers an einer "Rechts-vor-links"-Kreuzung


Der BGH (Urteil vom 21.05.1985 - VI ZR 201/83) hat entschieden:
  1. Zur Geltung des Vertrauensgrundsatzes zu Gunsten eines Kradfahrers, dessen Sicht vor einer Straßenkreuzung, für die die Vorfahrt nicht besonders geregelt ist, nach links behindert, nach rechts aber frei ist.

  2. Zur Verpflichtung des Schädigers, einem unfallverletzten Kind den Verdienstausfall zu erstatten, der seinem Vater als Selbständigem durch unfallbedingte Krankenhausbesuche entstanden ist.


Siehe auch Vorfahrtrecht und Linksabbiegen - Annäherung bei schlechter Einsehbarkeit des Kreuzungs- bzw. Einmündungsbereichs und Stichwörter zum Thema Vorfahrt


Tatbestand:

Am 8. August 1977 kollidierte gegen 19.43 Uhr der damals 17-jährige Kläger mit seinem Kleinkraftrad auf der Kreuzung B.-Straße/U.-Straße in P.

mit einem bei dem Zweitbeklagten gegen Haftpflicht versicherten VW-Bulli, dessen Fahrer der Erstbeklagte war. Der Kläger, der auf der etwa 3,1 m breiten B.-Straße mit einer Geschwindigkeit von etwa 52 km/h gefahren war, prallte nach einem Bremsmanöver, bei dem sein Kleinkraftrad eine schon vor dem Kreuzungsbereich beginnende 10 m lange Bremsspur hinterließ, gegen die rechte Seite des VW-Bulli, der - für den Kläger von links kommend - in die Kreuzung eingefahren war. Der Erstbeklagte, dessen Sicht nach rechts auf den Kläger durch eine dichte Hecke eingeschränkt war, war auf der etwa 3,8 m breiten U.-Straße mit einer Geschwindigkeit von mindestens 40 km/h an die Kreuzung herangefahren; die Bremsspur des VW-Bulli begann erst kurz vor dem eigentlichen Kreuzungsbereich. Die Kreuzung befindet sich außerhalb der geschlossenen Ortschaft; die Vorfahrt ist dort nicht besonders geregelt.

Der Kläger, der damals bei der Bundespost als Fernmeldehandwerkerlehrling beschäftigt war, erlitt durch den Unfall eine Hirnquetschung; er war drei Wochen lang bewusstlos, 12 Wochen lang fehlte ihm das Sprachvermögen völlig. Bis zum 11. Oktober 1977 befand er sich in stationärer Behandlung im Klinikum M. Als Unfallfolgen zeigten sich im wesentlichen rechtsseitige armbetonte Lähmungen sowie grobe und rechtsbetonte ataktische Bewegungsstörungen, eine verlangsamte Sprache, Wesensveränderungen sowie eine Hirnleistungsschwäche; die Minderung der Erwerbsfähigkeit wurde auf 80% festgesetzt.

Mit der Klage hat der Kläger u.a. die Feststellung der Ersatzpflicht der Beklagten für alle unfallbedingten Zukunftsschäden sowie die Verurteilung der Beklagten zur Zahlung von Schmerzensgeld und Erstattung seiner Sachschäden und des Heilungsaufwandes begehrt. Im Rahmen des letzteren Anspruchs hat der Kläger den mit 1.600 DM (80 Stunden zu je 20 DM) bezifferten Einkommensausfall geltend gemacht, den sein Vater als selbständiger Malermeister durch die zahlreichen Krankenhausbesuche erlitten habe.

Die Beklagten haben vorgetragen, die Ansprüche des Klägers seien durch Zahlungen des Zweitbeklagten in Höhe von insgesamt 30.000 DM abgegolten; der Kläger habe den Unfall dadurch mitverursacht, dass er für die Unfallörtlichkeit zu schnell gefahren sei und keinen Schutzhelm getragen habe.

Das Landgericht hat - von der vollen Haftung der Beklagten ausgehend - dem Feststellungsantrag stattgegeben und die Beklagten unter Anrechnung der gezahlten 30.000 DM zur Zahlung von 55.603,43 DM verurteilt. Dabei hat es den Schmerzensgeldanspruch des Klägers mit 80.000 DM bemessen und ihm für die Sachschäden und den erhöhten Heilungsaufwand einen Anspruch auf Zahlung von 5.603,43 DM zuerkannt. In diesem Betrag sind die 1.600 DM enthalten, die der Kläger für den auf den Krankenhausbesuchen beruhenden Einkommensausfall seines Vaters begehrt hat.

Auf die Berufung der Beklagten hat das Oberlandesgericht die Klageansprüche insoweit, als der ihnen zugrunde liegende Schaden dadurch beeinflusst ist, dass der Kläger keinen Schutzhelm getragen hat, um 40 % und im übrigen um 20 % gekürzt. Einen Anspruch des Klägers auf Erstattung des durch die Krankenhausbesuche entstandenen Einkommensausfalls seines Vaters hat das Oberlandesgericht verneint.

Mit seiner Revision erstrebt der Kläger die Verurteilung der Beklagten ohne einen Abzug wegen der Betriebsgefahr seines Kleinkraftrades und die Zuerkennung der Besuchskosten.


Entscheidungsgründe:

I.

Nach Auffassung des Berufungsgerichts kann der Kläger von den Beklagten seinen Unfallschaden nur teilweise ersetzt verlangen. Zwar habe der Erstbeklagte das Vorfahrtsrecht des Klägers grob verletzt; er sei viel zu schnell an die Kreuzung herangefahren, an die er sich wegen der dichten Hecke, die seine Sichtmöglichkeiten auf vorfahrtsberechtigte Verkehrsteilnehmer deutlich eingeschränkt habe, nur im Schrittempo und in ständiger Bremsbereitschaft habe herantasten dürfen. Auf der anderen Seite könne dem Kläger zwar ein Fahrfehler nicht zur Last gelegt werden, doch müsse er sich die Betriebsgefahr seines Kleinkraftrades entgegenhalten lassen. Die Regel, dass gegenüber einer groben Vorfahrtsverletzung die Betriebsgefahr des die Betriebsgefahr seines Kleinkraftrades entgegenhalten lassen. Die Regel, dass gegenüber einer groben Vorfahrtsverletzung die Betriebsgefahr des anderen Fahrzeugs unberücksichtigt bleibe, komme hier wegen der besonderen Verkehrsverhältnisse nicht zum Tragen. Der Kläger sei mit einer für die Örtlichkeit recht hohen Geschwindigkeit an die für den wartepflichtigen Verkehr aus der U.-Straße erkennbar schlecht einsehbare Kreuzung herangefahren. Seine Sicht nach rechts sei - wie die Lichtbilder zeigten - auch nicht völlig frei gewesen; im übrigen habe er damit rechnen müssen, dass seine schmale Silhouette als Kradfahrer besonders schlecht wahrnehmbar gewesen sei. Die Betriebsgefahr seines Kleinkraftrades sei mit 20 % zu veranschlagen. Ferner falle ihm ein Mitverschulden zur Last, weil er keinen Schutzhelm getragen habe; die Mitverschuldensquote betrage gleichfalls 20 %. Ein Anspruch auf Ersatz des seinem Vater durch die Krankenhausbesuche entstandenen Verdienstausfalls stehe dem Kläger nicht zu, weil es sich hierbei um einen nicht erstattungsfähigen Drittschaden handele.


II.

Die Revision nimmt hin, dass das Berufungsgericht die mit der Körperverletzung des Klägers zusammenhängenden Schadenspositionen deshalb um 20 % gekürzt hat, weil der Kläger keinen Schutzhelm getragen hat. Sie wendet sich aber dagegen, dass das Berufungsgericht dem Kläger wegen der Betriebsgefahr seines Kleinkraftrades seine Ersatzansprüche um 20 % ge kürzt und ihm einen Anspruch auf Erstattung des unfallbedingten Verdienst kürzt und ihm einen Anspruch auf Erstattung des unfallbedingten Verdienstausfalls seines Vaters ganz versagt hat.

Diesen Angriffen halten die Erwägungen des Berufungsgerichts nicht stand.

1. Die Revision rügt, dass das Berufungsgericht - nur gestützt auf die ihm vorliegenden Lichtbilder - davon ausgegangen ist, dass die Sicht des Klägers nach rechts auf Verkehrsteilnehmer, die nach § 8 Abs. 1 Satz 1 StVO für ihn vorfahrtsberechtigt waren, "nicht völlig frei" gewesen sei. Hierzu macht die Revision geltend, dass der Kläger unter Beweisantritten behauptet hatte (GA 234, 235), er habe für ihn von rechts kommende vorfahrtsberechtigte Verkehrsteilnehmer schon aus einer Entfernung von gut 200 m vor dem Kreuzungsbereich beobachten können; im übrigen ließen sich aus den Lichtbildern nicht die Sichtverhältnisse im Unfallzeitpunkt erkennen, weil das Gelände damals anders bepflanzt gewesen sei.

Diese Rüge greift durch. Der Grundsatz der Erschöpfung der Beweismittel gebot die Erhebung der angebotenen Beweise (BGHZ 53, 245, 259).

Das Berufungsurteil beruht auf diesem Verfahrensverstoß. Wäre dem Kläger der Beweis seiner Behauptung gelungen, so hätte er nicht mit einem Abzug wegen der Betriebsgefahr seines Kleinkraftrades belastet werden dürfen.

a) Das Berufungsgericht hat in dem Verkehrsverstoß des Erstbeklagten mit Recht eine grobe Vorfahrtsverletzung erblickt. Der Erstbeklagte, der wegen der Hecke für ihn auf der B.-Straße von rechts nahende vorfahrtsberechtigte Verkehrsteilnehmer nicht oder nur schwer erkennen konnte, musste sich vorsichtig in die Kreuzung hineintasten (§ 8 Abs. 2 Satz 3 StVO). Dies bedeutet, dass er so langsam fahren musste, dass er beim Ansichtigwerden eines vorfahrtsberechtigten Verkehrsteilnehmers auf der Stelle anhalten konnte (vgl. Senatsurteil vom 11. Januar 1977 - VI ZR 268/74 - VersR 1977, 524, 526; vgl. ferner Jagusch/Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 27. Aufl. 1983, § 8 StVO Rdn. 58; Mühlhaus/Janiszewski, StVO, 10. Aufl. 1984, § 8 Anm. 7 b). Dieses Gebot hat der Erstbeklagte verletzt. Er ist mit einer Geschwindigkeit von mindestens 40 km/h an die für ihn unübersichtliche Kreuzung herangefahren.

Hierin liegt ein grober Vorfahrtsverstoß.

b) Für den Kläger stellte sich - trifft seine Behauptung zu - die Verletzung seiner Vorfahrt durch den Erstbeklagten als unabwendbares Ereignis (§ 7 Abs. 2 StVG) dar; er durfte auf die Beachtung seines Vorfahrtsrechts vertrauen. Der vorfahrtsberechtigte Verkehrsteilnehmer kann sich grundsätzlich darauf verlassen, dass auch ein für ihn nicht sichtbarer Verkehrsteilnehmer sein Vorfahrtsrecht beachten werde. Diese Regel gilt nicht nur, wenn der vorfahrtsberechtigte Verkehrsteilnehmer auf einer bevorrechtigten Straße fährt, sondern auch dann, wenn ihm das Vorfahrtsrecht deshalb zusteht, weil er von rechts kommt (§ 8 Abs. 1 Satz 1 StVO); an Kreuzungen allerdings unter der Voraussetzung, dass er die kreuzende Straße nach rechts zur Beurteilung seiner eigenen Wartepflicht gegenüber dem von dort herannahenden Verkehr rechtzeitig und weit genug einsehen kann (vgl. Senatsurteile vom 22. November 1960 - VI ZR 23/60 - VersR 1961, 69 und vom 21. Juni 1977 - VI ZR 97/76 - VersR 1977, 917, 918). Dass diese Voraussetzung hier vorliege, hat der Kläger behauptet und unter Beweis gestellt. Diese Beweise hätte das Berufungsgericht erheben müssen.

c) Auch die weiteren Erwägungen, mit denen das Berufungsgericht die Anrechnung der Betriebsgefahr des Kleinkraftrades begründet hat, vermögen die Entscheidung nicht zu tragen. Dies gilt zunächst für die Überlegung, dass der Kläger mit etwa 52 km/h risikoreich gefahren sei, weil die Kreuzung - für ihn erkennbar - für den ihm gegenüber wartepflichtigen (Links-)Verkehr auf der U.-Straße schlecht einsehbar gewesen sei. Denn für den Kläger war die Lage dann, wenn er die U.-Straße nach rechts rechtzeitig und weit genug einsehen konnte, ähnlich übersichtlich, wie wenn er eine Vorfahrtsstraße befahren hätte; er konnte dann auf die Beachtung seines Vorfahrtsrechts durch den wartepflichtigen Verkehr aus der U.-Straße vertrauen und brauchte deshalb seine Geschwindigkeit bei Annäherung an die Kreuzung nicht herabzusetzen (vgl. die zitierten Senatsurteile vom 22. November 1960 und 21. Juni 1977). Zwar kann der Vorfahrtsberechtigte auf die Beachtung seiner Vorfahrt u.a. dann nicht mehr vertrauen, wenn die besondere örtliche Verkehrslage ihm konkreten Anlass gibt, hieran zu zweifeln. Der Umstand, dass für den Wartepflichtigen die kreuzende Straße nach rechts schwer einzusehen ist, reicht aber, wie gesagt, allein nicht aus, um das Vertrauen des Vorfahrtsberechtigten zu erschüttern. Nichts anderes gilt für die weitere Überlegung des Berufungsgerichts, dass der Kläger als Kradfahrer für den Wartepflichtigen schwerer als ein PKW erkennbar gewesen sei. Denn der Vertrauensgrundsatz schützt den vorfahrtsberechtigten Kradfahrer nicht weniger als den vorfahrtsberechtigten PKW-Fahrer.

Konnte der Kläger auf die Beachtung seines Vorfahrtsrechts durch den Erstbeklagten vertrauen, dann kann er das auch einer Zurechnung der Betriebsgefahr nach §§ 7, 17 StVG entgegensetzen. Auch die gesteigerten Sorgfaltspflichten eines "Idealfahrers", auf die die Feststellung eines unabwendbaren Ereignisses nach § 7 Abs. 2 StVG abzuheben hat, vermögen den Vertrauensgrundsatz hier nicht einzuschränken. Insoweit muss sich der Schutz des Vorfahrtsberechtigten auch im Rahmen der Gefährdungshaftung voll durchsetzen.

2. Die Revision rügt weiter mit Recht, dass das Berufungsgericht den Anspruch des Klägers auf Erstattung des Verdienstausfalls seines Vaters, der diesem durch die Krankenhausbesuche entstanden ist, deshalb für unbegründet gehalten hat, weil es sich um einen nicht erstattungsfähigen Drittschaden handele. Mit dieser Entscheidung hat sich das Berufungsgericht zur Rechtsprechung des erkennenden Senats in Widerspruch gesetzt. Danach ist der Verdienstausfall eines Vaters, der durch Besuche bei seinem unfallverletzten Kind verursacht wird, zu den Heilungskosten zu rechnen (vgl. Senatsurteile vom 22. Oktober 1957 - VI ZR 227/56 - VersR 1957, 790 und vom 18. April 1961 - VI ZR 122/60 - VersR 1961, 545). Dieser Grundsatz gilt allgemein; er gilt auch dann, wenn der Vater - wie im Streitfall - als selbständiger Handwerker tätig ist. Allerdings kann die Schadensminderungspflicht (§ 254 Abs. 2 BGB) gebieten, dass der Vater in einem zumutbaren Umfang zeitliche Umdispositionen trifft, die den Verdienstausfall möglichst gering halten.

Der Kläger hat unter Beweisantritt behauptet (GA 243), dass die Besuche seiner Eltern auch aus medizinischer Sicht erforderlich und der in Ansatz gebrachte Aufwand von 80 Stunden ebenso wie der Stundensatz von 20 DM angemessen gewesen seien. Angesichts des Vortrags der Beklagten ist das Berufungsgericht gehalten (§ 139 ZPO), den Kläger darauf hinzuweisen, dass sein Vorbringen hinsichtlich der Möglichkeit und Zumutbarkeit zeitlicher Umdispositionen seines Vaters der Ergänzung bedarf. Der Vortrag des Klägers bedarf - wie die Revisionserwiderung mit Recht geltend macht - ferner einer Ergänzung dahin, dass durch die Krankenhausbesuche des Vaters tatsächlich ein Verdienstausfall eingetreten ist. Dabei besteht die Möglichkeit einer Schadensschätzung nach § 287 ZPO.


III.

Das Berufungsurteil war deshalb aufzuheben, soweit es dem Kläger die Betriebsgefahr seines Kleinkraftrades zur Last gelegt und ihm den geltend gemachten Anspruch auf Erstattung des unfallbedingten Verdienstausfalls seines Vaters aberkannt hat. Die Sache war an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, um ihm Gelegenheit zu geben, sowohl zur Frage der Sichtmöglichkeit des Klägers auf die von rechts einmündende Straße als auch zur Entstehung und Vermeidbarkeit des Verdienstausfalls des Vaters des Klägers die erforderlichen Beweise zu erheben.