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OLG Hamm Urteil vom 30.09.1996 - 6 U 63/96 - Zur erhöhten Betriebsgefahr eines Geländewagens

OLG Hamm v. 30.09.1996: Zur erhöhten Betriebsgefahr bei einer Geschwindigkeit von 20 km/h im verkehrsberuhigten Bereich mit einem Geländewagen




Das OLG Hamm (Urteil vom 30.09.1996 - 6 U 63/96) hat entschieden:

   Die kastenförmige Bauweise und Frontbügel eines Geländewagens erhöhen das Verletzungsrisiko bei Kollisionen mit Personen. Gegenüber Pkw üblicher Bauweise liegt deshalb eine erhöhte Betriebsgefahr vor.

Siehe auch
Betriebsgefahr bei verschiedenen Fahrzeugarten
und
Betriebsgefahr - verschuldensunabhängige Gefährdungshaftung




Tatbestand:


Die damals 10 3/4 Jahre alte Klägerin ist am 13.5.1994 in D. - in einem verkehrsberuhigten Bereich (Zeichen 325) - als linksabbiegende Radfahrerin mit einem für sie von links kommenden Pkw (Geländefahrzeug, Opel Frontera) des Beklagte zu 1) (Haftpflichtversicherer Beklagte zu 2)) kollidiert. Sie erlitt einen Unterschenkelbruch links und eine Zahnverletzung.

Unter Berufung auf eine Vorfahrtsverletzung und Überschreitung der zulässigen Geschwindigkeit durch den Beklagten zu 1) verlangt sie vollen Ersatz ihres erstinstanzlich nach Abzug von Zahlungen der Beklagten noch mit 2.004,60 DM ermittelten Schadens sowie ein angemessenes Schmerzensgeld (Vorstellung 10.000 DM, 4.500 DM sind gezahlt) und die Feststellung der Ersatzpflicht der Beklagten auf materielle und immaterielle Zukunftsschäden.

Die Beklagten halten die erfolgten Zahlungen für ausreichend und berufen sich auf ein schweres Mitverschulden der Klägerin, weil sie zu weit links, zu schnell und unaufmerksam gefahren sei.

Das Landgericht hat der Klage, bis auf einen geringen Abzug "neu für alt" bei dem Fahrrad, voll stattgegeben und die Beklagten verurteilt, 1.842,10 DM nebst Zinsen zum Ersatz des materiellen Schadens und weitere - über den gezahlten Betrag hinaus - 5.500 DM Schmerzensgeld zu zahlen. Auch dem Feststellungsbegehren hat es entsprochen.

Dagegen richtet sich die Berufung der Beklagten.

Die Klägerin begehrt Zurückweisung der Berufung und im Wege der Anschlussberufung Verzinsung des Schmerzensgeldes von 10.000 DM mit 4 % Zinsen seit dem 21.11.1995 abzüglich gezahlter 4.500 DM.





Entscheidungsgründe:


Die Berufung der Beklagten hat keinen Erfolg. Auf die Anschlussberufung der Klägerin waren die Beklagten zu verurteilen, das landgerichtlich über den gezahlten Betrag hinaus zuerkannte Schmerzensgeld - mangels Mitteilung des genauen Zeitpunktes der erfolgten Zahlung nur diesen Schmerzensgeldteil - antragsgemäß zu verzinsen.

Die Beklagten schulden der Klägerin gemäß den §§ 7 StVG, 823, 847, 254 BGB, 3 PflVG vollen Ersatz ihres materiellen und immateriellen Schadens.

1. Der Beklagte zu 1) hat seine Pflichten als Pkw-Fahrer schuldhaft verletzt und dadurch den Unfall herbeigeführt. Er ist für die Örtlichkeit deutlich zu schnell gefahren.

In dem gemäß § 42 Abs. IV a mit Zeichen 325 StVO verkehrsberuhigten Bereichen darf nur mit Schrittgeschwindigkeit gefahren werden; Fußgänger dürfen die Straße in ganzer Breite benutzen; Kinderspiele sind überall erlaubt.


Gegen die Pflicht, mit Schrittgeschwindigkeit zu fahren, hat der Beklagte zu 1) in erheblichem Maße verstoßen. Nach den Feststellungen des Sachverständigen, der die Bremsspuren und den Beulenversatz - diesen unter Hinzuziehung des Ergebnisses mehrerer Versuche - ausgewertet hat, hat sich der Beklagte zu 1) dem Unfallbereich mit ca. 25 km/h, jedenfalls aber mit deutlich mehr als 20 km/h, genähert. Das ist weit mehr als Schrittgeschwindigkeit.

Diese erhöhte Geschwindigkeit ist auch für den Unfall ursächlich geworden. Schon mit 13 km/h, also nicht erst mit der noch deutlich niedriger anzusetzenden Schrittgeschwindigkeit, wäre der Unfall vermieden worden. Der Beklagte zu 1) hätte anhalten können, und die Klägerin hätte dann problemlos an seinem Pkw vorbeifahren können. Insoweit wird auf das Zeit-Weg-Diagramm des Sachverständigen verwiesen. Bei dieser Vermeidbarkeitsbetrachtung hat der Sachverständige auf die Sichtlinie so, wie sie sich durch die unfallnahen Polizeifotos für den Unfallzeitpunkt ermitteln lässt, abgestellt.

2. Die Beklagten müssen den Unfallschaden in vollem Umfang ersetzen; eine Kürzung wegen eines Mitverschuldens der Klägerin ist nicht gerechtfertigt. Nach den Feststellungen des Sachverständigen hat sich die Klägerin im Unfallbereich mit maximal 15 km/h genähert und bei Sichtbarwerden des Fahrzeugs abgebremst, so dass sie im Unfallzeitpunkt nur noch eine geringe, gegen Null tendierende Geschwindigkeit hatte. Sie ist also nicht, wie die Beklagten behaupten, mit erheblicher Geschwindigkeit gegen das Fahrzeug gefahren; es war vielmehr gerade umgekehrt. Ob von der Klägerin auch im verkehrsberuhigten Bereich eine niedrigere Annäherungsgeschwindigkeit und ein Einbiegen in engem Bogen zu erwarten war, lässt der Senat offen. Ein darin etwa liegendes geringes Verschulden der noch kindlichen Klägerin tritt hier jedenfalls gegenüber dem gravierenden Verschulden des Beklagten zu 1) und der relativ hohen Betriebsgefahr seines Fahrzeuges zurück.

Wie bereits dargelegt, ist der Beklagte zu 1) deutlich zu schnell gefahren. Er musste auch mit radfahrenden Kindern rechnen und so fahren, dass er jederzeit auf kurze Entfernung anhalten konnte. Ausgewirkt hat sich auch die gegenüber einem Pkw üblicher Bauart erhöhte Betriebsgefahr des geländegängig gebauten Fahrzeuges des Beklagten zu 1). Nach den Feststellungen des Sachverständigen wäre die Klägerin von der abgeflachten und gerundeten Vorderfront eines Pkws üblicher Bauweise abgewiesen worden mit der Folge, dass größere Schäden mit Wahrscheinlichkeit vermieden worden wären. Die kastenförmige Bauweise des Fahrzeuges des Beklagten zu 1) und der Frontbügel haben diese Abweisung verhindert und so den Schadensumfang wesentlich mitbestimmt.



3. Das Schmerzensgeld ist vom Landgericht nicht zu hoch festgesetzt worden.

a) Die Klägerin hat bei dem Unfall einen Unterschenkelbruch links mit Verschiebung der Fragmente und multiple Schürfungen an beiden Armen und Schenkeln erlitten. Nach operativer Versorgung und Richtung des Beins konnte sie zwar schon am 25.5.1994 aus der stationären Behandlung entlassen werden. Das Bein ist aber noch etwa sechs Wochen eingegipst gewesen, ein Umstand, der die Klägerin in einem Alter getroffen hat, in dem Kinder regelmäßig einen erheblichen Bewegungsdrang haben. Zahlreiche krankengymnastische Behandlungen haben sich angeschlossen. Es ist eine Beinlängendifferenz zurückgeblieben, die durch entsprechendes Schuhwerk ausgeglichen werden muss. Der Senat ist bei der Schmerzensgeldberechnung davon ausgegangen, dass entsprechend dem ärztlichen Behandlungsbericht des Orthopäden Dr. Sch. vom 30.1.1996 die Beinlängendifferenz möglicherweise noch etwas zunehmen wird. Eine schon jetzt abzusehende geringe Zunahme ist durch das Schmerzensgeld abgegolten. Nicht abgegolten sind eine ungewöhnliche Zunahme und dadurch verursachte weitere Folgen, z.B. eine künftige Wirbelsäulenschädigung.

b) Bei dem Unfall ist ferner der obere rechte erste Schneidezahn der Klägerin abgebrochen und der erste linke obere Schneidezahn gelockert worden. Es musste ein kieferorthopädischer Eingriff erfolgen und anschließend ein Zahn wieder aufgebaut und mit einer Krone versorgt werden. Wegen des noch nicht abgeschlossenen Wachstums muss die Krone möglicherweise noch mehrfach erneuert werden. Diese Beeinträchtigung sowie die Frakturen des Zahnschmelzes in den benachbarten Zähnen sind durch das Schmerzensgeld abgegolten. Nicht abgegolten sind darüber hinausgehende, jetzt noch nicht abzusehende Schäden, die sich etwa im Zuge des Wachstums noch herausstellen können.

Der zusätzlich zuerkannte Schmerzensgeldbetrag ist gemäß den §§ 288, 291 BGB antragsgemäß zu verzinsen. Dem Zinsantrag konnte nicht in vollem Umfang entsprochen werden, weil der Zahlungszeitpunkt der bereits erfolgten Zahlung von unstreitig 4.500 DM nicht mitgeteilt werden konnte.

4. Hinsichtlich der materiellen Schäden ist das angefochtene Urteil nicht zu beanstanden. [Wird ausgeführt]

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