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OLG München Urteil vom 29.01.2010 - 10 U 3891/09 - Zur Anwendung von Schmerzensgeldtabellen bei der Bemessung des unfallbedingten Schmerzensgeldes

OLG München v. 29.01.2010: Zur Anwendung von Schmerzensgeldtabellen bei der Bemessung des unfallbedingten Schmerzensgeldes


Das OLG München (Urteil vom 29.01.2010 - 10 U 3891/09) hat entschieden:
Da es eine absolut angemessene Entschädigung für nichtvermögensrechtliche Nachteile nicht gibt, weil diese nicht in Geld messbar sind, unterliegt der Tatrichter bei der ihm obliegenden Ermessensentscheidung von Gesetzes wegen keinen betragsmäßigen Beschränkungen. Die in den Schmerzensgeldtabellen erfassten „Vergleichsfälle“ bilden nur „in der Regel den Ausgangspunkt für die tatrichterlichen Erwägungen zur Schmerzensgeldbemessung“. Sie sind nur im Rahmen des zu beachtenden Gleichheitsgrundsatzes als Orientierungsrahmen zu berücksichtigen. Es handelt sich nicht um verbindliche Präjudizien.


Siehe auch Schmerzensgeld und Stichwörter zum Thema Personenschaden


Tatbestand:

A.

Von der Darstellung des Tatbestandes wird abgesehen (§§ 540 II, 313 a I 1 ZPO i. Verb. m. § 26 Nr. 8 EGZPO).


Entscheidungsgründe:

B.

Die statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete, somit zulässige Berufung hat in der Sache Erfolg.

I.

Der Kläger hat gegen die Beklagten aus dem streitgegenständlichen Verkehrsunfall einen über den in erster Instanz bereits zugesprochenen Betrag (von 5.500,- Euro) hinaus gehenden begründeten Schmerzensgeldanspruch in Höhe von wie vom Kläger in der Berufung beantragt weiteren 4.500,- Euro.

Zur Begründung wird auf den Hinweis anlässlich der Ladung vom 06.10.2009 (Bl. 130 d.A.) Bezug genommen.

Die Einwendungen der Beklagten dagegen in den Schriftsätzen vom 10.11.2009 (Bl. 131/135 d.A.) und vom 19.01.2010 (Bl. 138/139 d.A.) überzeugen nicht.

1. Soweit die Berufungsbeklagten das gegenüber dem Antrag nur reduziert zugesprochene Schmerzensgeld mit Hinweisen auf vergleichbare Fälle begründen, ist dies nicht zielführend. Denn §§ 253 II BGB, 11 S. 2 StVG sprechen von „billiger Entschädigung in Geld“. Da es eine absolut angemessene Entschädigung für nichtvermögensrechtliche Nachteile nicht gibt, weil diese nicht in Geld messbar sind (BGH GSZ 18, 149 [156, 164]; OLG Hamm zfs 2005, 122 [123]; Senat, Urt. v. 01.07.2005 - 10 U 2544/05 [Juris] = SVR 2006, 180 [nur Ls.]; v. 29.07.2005 - 10 U 2507/05 und v. 28.10.2005 - 10 U 3813/05; Diehl zfs 2007, 10 [11 unter 2]; Beschl. v. 19.01.2009 - 10 U 4917/08), unterliegt der Tatrichter bei der ihm obliegenden Ermessensentscheidung von Gesetzes wegen keinen betragsmäßigen Beschränkungen (BGH VersR 1976, 967 [968 unter II 1]; Senat, Urt. vom 05.03.2004 - 10 U 4794/03, v. 29.07.2005 - 10 U 2507/05 und v. 28.10.2005 - 10 U 3813/05; v. 27.10.2006 - 10 U 3345/06 [Juris]; Beschl. v. 19.01.2009 - 10 U 4917/08; Jaeger/Luckey, Schmerzensgeld, 4. Auf. 2008, Rz. 962-966 m.w.N.; Bamberger/Roth/Spindler, BGB, 2. Aufl. 2007, § 253 Rz. 28.). Die in den Schmerzensgeldtabellen erfassten „Vergleichsfälle“ bilden nur „in der Regel den Ausgangspunkt für die tatrichterlichen Erwägungen zur Schmerzensgeldbemessung“ (BGH VersR 1970, 134; 1970, 281 [dort betont der BGH weiter: „Inwieweit alsdann der Tatrichter die früheren Maßstäbe einhält oder - sei es unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Entwicklung, sei es im Zuge einer behutsamen Fortentwicklung der Rechtsprechung - überschreitet, liegt wiederum in seinem pflichtgemäßen, in der Revisionsinstanz nicht nachprüfbaren Ermessen.“]), sind nur im Rahmen des zu beachtenden Gleichheitsgrundsatzes als Orientierungsrahmen zu berücksichtigen (BGH VersR 1961, 460 [461]; 1964, 842 (843); 1967, 256 [257]; OLG Köln VersR 1978, 650 = DAR 1978, 105 = r+s 1978, 122 [„nur geringer Erkenntniswert“]; OLG Saarbrücken zfs 1999, 101 = OLGR 1999, 258; OLG Hamm NJW 2000, 3219 und zfs 2005, 122 [123]); OLG Karlsruhe VersR 2001, 1175; OLG Koblenz, Urt. v. 27.10.2003 - 12 U 714/02; OLG München [1. ZS], Beschl. v. 26.08.2005 - 1 W 2282/05 [Juris]; OLGR 2006, 92; Senat, Urt. v. 30.06.1976 - 10 U 1571/76 [Juris] = VersR 1977, 262 [nur Ls.]; v. 05.03.2004 - 10 U 4794/03; v. 01.07.2005 - 10 U 2544/05 [Juris] = SVR 2006, 180-181 [red. Leitsatz]; v. 29.07.2005 - 10 U 2507/05; v. 28.10.2005 - 10 U 3813/05 und v. 08.09.2006 - 10 U 3471/06; v. 22.09.2006 - 10 U 3149/06 [Juris]; v. 27.10.2006 - 10 U 3345/06 [Juris]; v. 15.06.2007 - 10 U 5176/06 [Juris]; v. 29.06.2007 - 10 U 4379/01 [Juris]; Bachmeier, Verkehrszivilsachen, 2. Aufl. 2010, Rz. 564: „Orientierungshilfe“; Jaeger/Luckey a.a.O.; Geigel/Pardey, Der Haftpflichtprozess, 25. Aufl. 2008, Kap. 7 Rz. 54: „Anhaltspunkte“; Hacks/Ring/Böhm, Schmerzensgeldbeträge, 28. Aufl. 2010, S. 16: „Anregung“ für die eigenverantwortliche Rechtsfindung; Mertins VersR 2006, 47 [50]: „Anhaltspunkte mit einer erheblichen Streuweite“; vgl. aus rechtstatsächlicher Sicht ebenso Musielak VersR 1982, 613 [618]), sind aber keine verbindliche Präjudizien (BGH VersR 1970, 134; Senat, Urt. v. 30.06.1976 - 10 U 1571/76 [Juris] = VersR 1977, 262 [nur Ls.]; Beschl. v. 19.01.2009 - 10 U 4917/08).

Deshalb können aus der Existenz bestimmter ausgeurteilter Schmerzensgeldbeträge keine unmittelbaren Folgerungen abgeleitet werden (Senat, Urt. v. 05.03.2004 - 10 U 4794/03 und v. 08.09.2006 - 10 U 3471/06; OLG Hamm zfs 2005, 122 [124]). Verweise auf solche Vergleichsfälle ohne umfassende Herausarbeitung der Fallähnlichkeit, die neben den Verletzungen weitere 11 Variable, nämlich Geschlecht, Alter, Beruf, Vorschädigung, Empfindlichkeit, Einkommen und Vermögensverhältnisse des Geschädigten, sowie Verschulden, Einkommen, Vermögensverhältnisse und Versicherung des Schädigers zu berücksichtigen hat (Berger VersR 1977, 877 [878 unter II 3]), sind also nicht weiterführend. Die zitierte Entscheidung des OLG Hamm ist nicht einschlägig, da dort die in der Hinweisverfügung herausgestellten, hier schmerzensgelderhöhend zu berücksichtigenden Umstände gerade nicht vorlagen. Die zitierte Entscheidung des OLG Frankfurt betrifft eine gänzlich andere Verletzung.

2. Im Übrigen bleibt es auch dabei, dass von einer verzögerten Regulierung ausgegangen werden muss. Ausweislich der beigezogenen polizeilichen Ermittlungsakten (PI Landshut, Az. BY 2109-011447-08/8) hatte der Beklagtenvertreter entsprechend seines eigenen Schriftsatzes vom 14.10.2008 am gleichen Tag Einsicht in die Polizeiakten erhalten. Aus diesen ergab sich, dass die ihm am 04.08.2008 zugefaxten Auszüge aus den polizeilichen Ermittlungsakten inzwischen offenbar korrigiert wurden mit der zwingenden Folge, dass bereits am 14.10.2008 hätte erkannt werden können, dass der ursprünglich geglaubte Unfallverlauf, wie er sich noch aus der vorgelegten Anlage B 1 ergeben hatte und Gegenstand der Klageerwiderung vom 13.10.2008 war, nicht mehr zutreffend ist. Dennoch wurde dieser alte Kenntnisstand nicht nur nicht korrigiert und dem Kläger kein Kostenvorschuss angewiesen, sondern sogar noch mit Schriftsatz vom 28.11.2008 (Bl. 29/30 d.A.), also auch noch deutlich vor dem Verhandlungstermin vom 19.01.2009, ein Sachverhalt aufrechterhalten, der mit dem Inhalt der eingesehenen polizeilichen Ermittlungsakten nicht in Deckung zu bringen ist. Zu Recht hat der Kläger darüber hinaus darauf hingewiesen, dass selbst nach dem Vorbringen der Beklagten, wonach sie in der Sitzung vom 19.01.2009 erkannt haben wollen, dass die geltend gemachten Ansprüche des Klägers dem Grunde nach berechtigt waren, erst noch einmal 6 Monate abgewartet wurden, ohne dass dem Kläger ein Vorschuss bezahlt wurde. Erst auf das Endurteil hin erfolgte eine erste Zahlung. Dieses Verhalten der Beklagten im laufenden Prozess rechtfertigt eine Erhöhung des Schmerzensgelds.


II.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 91 I, 100 IV ZPO.


III.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO i. Verb. m. § 26 Nr. 8 EGZPO.


IV.

Die Revision war nicht zuzulassen. Gründe, die die Zulassung der Revision gem. § 543 II 1 ZPO rechtfertigen würden, sind nicht gegeben. Mit Rücksicht darauf, dass die Entscheidung einen Einzelfall betrifft, ohne von der höchst- oder obergerichtlichen Rechtsprechung abzuweichen, kommt der Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung zu noch erfordern die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts.



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