Das Verkehrslexikon
BGH Urteil vom 05.02.1974 - VI ZR 195/72 - Zur Regelung des Vorfahrtrechts bei abknickender Vorfahrt
BGH v. 05.02.1974: Zur Regelung des Vorfahrtrechts bei abknickender Vorfahrt
Der BGH (Urteil vom 05.02.1974 - VI ZR 195/72) hat entschieden:
Sind bei einer Kreuzung zwei der Straßen durch die dafür vorgeschriebene Beschilderung zu einer abknickenden Vorfahrtstraße verbunden, so gilt für die beiden anderen Straßen der Grundsatz "rechts vor links"; die in ihnen aufgestellten Wartegebotszeichen (StVO Bild 30 = StVO 1970 Zeichen 205) regeln lediglich die Wartepflicht in bezug auf die abknickende Vorfahrt. Daran ändert sich auch dann nichts, wenn in einer dieser untergeordneten Straßen statt des Wartegebotszeichens das "Stop-Schild" einschließlich der Haltelinie (StVO Bild 30a, StVO Bild 30b = StVO 1970 Zeichen 206, StVO 1970 Zeichen 294) angebracht ist.
Siehe auch Abknickende Vorfahrt und Stichwörter zum Thema Abbiegen
Tatbestand:
Am 14. Juni 1970 fuhr der bei der klagenden Ortskrankenkasse versicherte Bäckerlehrling A mit seinem Kleinkraftrad in M (Landkreis O) in einem Bereich, in dem vier Straßen rechtwinklig zusammentreffen, seitlich gegen einen von der Zweitbeklagten gesteuerten Pkw. Zwei dieser Straßen waren zu einer abknickenden Vorfahrtstraße zusammengefasst und ordnungsgemäß durch Verkehrszeichen gekennzeichnet. Die beiden Fahrer kamen aus den untergeordneten Straßen und wollten ihre Fahrt jeweils geradeaus auf der Vorfahrtstraße fortsetzen. Das Mitglied der Klägerin kam für die Zweitbeklagte von rechts.
Die Erstbeklagte ist der Haftpflichtversicherer der Zweitbeklagten.
Das Mitglied der Klägerin erlitt bei dem Unfall Verletzungen, die u.a. eine 29-tägige Krankenhausbehandlung erforderlich machten.
Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, die Zweitbeklagte (demnächst: die Beklagte) habe die Vorfahrt ihres Versicherten A verletzt. Sie begehrt deshalb, indem sie einem etwaigen Mitverschulden A Rechnung trägt, von beiden Beklagten 70 % der von ihr aufgewendeten Kosten für Heilungsmaßnahmen sowie – im Hinblick auf ihre Krankengeldzahlungen und wegen des ihr zustehenden Quotenvorrechts – auch 70 % des Verdienstentgangs ihres Versicherungsnehmers.
Das Landgericht hat der Klage stattgegeben. Das Oberlandesgericht hat wegen der Ersparnis A an häuslichen Verpflegungskosten während des Krankenhausaufenthalts die Forderung der Klägerin geringfügig gekürzt und im übrigen die Berufung der Beklagten zurückgewiesen.
Mit der (zugelassenen) Revision erstreben die Beklagten weiterhin die völlige Abweisung der Klage.
Entscheidungsgründe:
I.
Das Berufungsgericht hat sich (in dem inzwischen in VRS 43, 402 veröffentlichten Urteil) der vom Kammergericht (VRS 39, 462) und im Schrifttum (vgl. Bouska, DAR 1961, 328) vertretenen Auffassung angeschlossen, bei einer Kreuzung mit abknickender Vorfahrt gelte für den Verkehr auf den beiden untergeordneten Schenkeln der Kreuzung untereinander der Grundsatz des (damals noch geltenden) § 13 Abs. 1 StVO, also "rechts vor links". Die Beklagte habe deshalb die Vorfahrt A verletzt.
II.
Der Standpunkt des Berufungsgerichts ist richtig; er folgt bereits aus der gesetzlichen Regelung in § 13 StVO a.F. = § 8 StVO n.F.
1. Nach § 13 Abs. 1 StVO a.F. hatte an Kreuzungen und Einmündungen grundsätzlich der Verkehrsteilnehmer die Vorfahrt, der von rechts kam. Abweichend von diesem Grundsatz war vorfahrtberechtigt, wer eine durch amtliche Verkehrszeichen (als bevorrechtigt) gekennzeichnete Straße benutzt (Absatz 2) bzw. der Kreisverkehr, wenn an den Einmündungen das Verkehrszeichen nach Bild 27 b der Anlage zur StVO a.F. aufgestellt war. Der Bundesgerichtshof hat daraus die Regel abgeleitet, dass in allen Fällen des Zusammentreffens gleichgeordneter (gleichrangiger) Straßen der Grundsatz "rechts vor links" gilt (Urteile vom 29. Juni 1960 – VI ZR 125/59 = LM StVO § 13 Nr. 18 und vom 24. April 1964 – 4 StR 388/63 = LM StVO (StS) § 13 Nr. 20). Er hat dies ausdrücklich entschieden für das Zusammentreffen des Verkehrs aus den beiden Schenkeln einer Straßengabel, der sich in Richtung auf die gemeinsam weiterführende Straße bewegt (Urt.v. 24. April 1964 – 4 StR 388/63 – aaO, vgl. auch Cramer, Straßenverkehrsrecht § 9 StVO RN 13). Die Rechtsprechung der Oberlandesgerichte hat den Grundsatz "rechts vor links" inzwischen zutreffend auch im Verhältnis von zwei Verkehrsteilnehmern untereinander angewendet, die aus verschiedenen Nebenstraßen von derselben Seite und an derselben Stelle in eine Vorfahrtstraße einfahren (OLG Hamm VRS 17, 77; OLG Hamburg VRS 29, 126, 129; OLG Saarbrücken JBlSaar 1960, 13) oder in eine sog. Straßenspinne aus zwei Straßen einbiegen, von denen jede mit einem Wartegebotsschild gekennzeichnet ist (OLG Stuttgart NJW 1956, 722; OLG Neustadt, DAR 1958, 226; vgl. auch Cramer aaO, § 8 RN 38; Mühlhaus, StVO., 1. Aufl. § 13 a.F. Anm. 7a und 3. Aufl., § 8 n.F., Anm. 9a). Das muss auch für zwei Straßen gelten, die ihrerseits einer sog. abknickenden Vorfahrtstraße untergeordnet sind (so auch außer der vom Berufungsgericht in Bezug genommenen Entscheidung KG VRS 39, 462, das OLG Bremen VersR 1966, 740 (LS) vgl. auch Krumme/Sanders/Mayr, Straßenverkehrsrecht, § 8 StVO neu, Anm. B II 3 f cc ; Möhl in Müller, Straßenverkehrsrecht, 22. Aufl., § 8 RN 21; Möhl/Rüth, StVO und verkehrsrechtliche Bestimmungen des StGB, § 8 StVO RN 21). Denn auch diese Straßen sind untereinander gleichrangig. Ihnen gegenüber bevorrechtigt sind nur die zu einer abknickenden Vorfahrtstraße zusammengefassten beiden anderen Straßen. Für den jetzigen Rechtszustand gilt nichts anderes (vgl. § 8 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 StVO n.F.).
2. Die Revision meint, schon deshalb könne auf das Verhältnis der beiden nicht bevorrechtigten Straßen zueinander die Regel des § 13 Abs. 1 StVO a.F. keine Anwendung finden, weil es sich bei der Verkehrsanlage, auf der sich der Unfall ereignete, nicht um eine "Kreuzung" gehandelt habe; vielmehr seien die beiden nicht bevorrechtigten Straßen auf einen bevorrechtigten abknickenden Straßenzug "eingemündet". Dem kann nicht gefolgt werden. Um Einmündungen handelt es sich nur beim Zusammentreffen von Straßen mit nur einer Fortsetzung (BGH, Urt.v.12. April 1951 – III ZR 23/50 = LM StVO § 10 Nr. 2 = VRS 3, 180). Kreuzungen i.S. der Straßenverkehrsordnung sind – wovon das Berufungsgericht zutreffend ausgeht – immer dann gegeben, wenn sich zumindest zwei Fahrbahnen verschiedener Straßen schneiden und sich jenseits fortsetzen (Jagusch, Straßenverkehrsrecht, 18. Aufl. § 13 StVO a.F. Anm. 8 und 20. Aufl. § 8 StVO RN 32). Ob sich dabei die eine oder die andere der einander schneidenden Straßen mit geringer seitlicher Versetzung fortsetzt, wie dies hier hinsichtlich der von der Beklagten befahrenen Straße der Fall war, spielt keine Rolle (vgl. Jagusch, aaO § 13 StVO a.F. Anm. 8; RGSt HRR 1942 Nr. 620 = VAE 1942, 156). Dies ist nur nach der tatsächlichen Lage und unabhängig davon zu beurteilen, wie die Vorfahrt geregelt ist. Eine andere Auslegung würde übrigens dem Wortlaut des § 13 Abs. 2 Satz 3 StVO a.F. widersprechen. Danach konnten gerade zwei "an einer Kreuzung aufeinanderstoßende Straßenteile entgegen ihrem natürlichen Verlauf (also abknickend) zu einem bevorrechtigten Straßenzug zusammengefasst werden (dass die Worte "entgegen ihrem natürlichen Verlauf" in der Neufassung beseitigt sind, spielt für die entscheidende Frage der Vorfahrt keine Rolle). Zudem hat der Senat auch dann den Bereich, in dem vier oder mehr Straßen aufeinander treffen, als Kreuzung bezeichnet, wenn die Vorfahrtstraße nicht gerade, sondern abgeknickt verläuft (vgl. BGHZ 44, 257 und 56, 1).
3. Zutreffend nimmt das Berufungsgericht ferner an, an der Geltung des Grundsatzes "rechts vor links" ändere auch der Umstand nichts, dass in den beiden untergeordneten Straßenteilen der in der Kreuzung zusammentreffenden Straßen verschiedene, die Wartepflicht gebietende Verkehrszeichen aufgestellt waren. Diese negativen Vorfahrtzeichen gewähren, wie das Berufungsgericht ebenfalls richtig bemerkt, untereinander keinen Rang der Vorfahrt. In ihrer die Vorfahrt regelnden Bedeutung sind sie gleichwertig. Sie zeigen lediglich an, wie sich der Wartepflichtige zu verhalten hat, wenn er sich der Vorfahrtstraße nähert: ob er gezwungen wird, sein Fahrzeug zum Stehen zu bringen, oder ob es ausreicht, dass er sich in anderer Weise ausreichende Übersicht über die Verkehrslage in der Vorfahrtstraße verschafft. Dass auf der vom Kläger befahrenen Straße das "Halt-Schild" stand (und zugleich auf der Fahrbahn die Haltlinie des Bildes 30 b markiert war), während auf der von der Beklagten befahrenen Straße lediglich das Wartegebotszeichen nach Bild 30 der Anlage zur StVO a.F. aufgestellt war, erklärt sich daraus, dass die Fahrlinien des aus der von der Beklagten benutzten Straße kommenden Verkehrs sich nicht so schnell wie die das aus der vom Kläger befahrenen Straße kommenden Verkehrs mit den Fahrlinien der bevorrechtigten abknickenden Vorfahrtstraße berührten.
4. Rechtlich unbedenklich ist schließlich auch die Auffassung des Berufungsgerichts, A habe auch nicht deshalb die Vorfahrt der Beklagten verletzt, weil diese sich bereits in den Straßenzug der abknickenden Vorfahrt eingereiht gehabt habe. Darauf kommt es hier nicht an.
Das nach der Verkehrssituation im Einzelfall mehr oder weniger vollzogene Einordnen auf eine bevorrechtigte Straße kann keine Grundlage für eine allgemeine Regelung sein (BGHSt 8, 338, 342 = NJW 1956, 433, 434). Die Vorfahrtberechtigung erstreckt sich nämlich auf die gesamte Kreuzungsfläche (BGHSt 20, 238, 240 = NJW 1965, 1772 m.w. Nachw.). Zwar hat der Senat im Urteil vom 23. Februar 1960 (VI ZR 47/59 = VersR 1960, 279 = VRS 18, 252 = NJW 1960, 814), dem sich der 4. Strafsenat angeschlossen hat (BGHSt 16, 19, 20 = NJW 1961, 1075), ausgesprochen, ein Wartepflichtiger werde zu einem gleichberechtigten Benutzer der vorrangigen Straße, sobald sich sein Fahrzeug in den Verkehrsraum dieser Straße so eingefügt habe, dass es wie ein auf der vorrangigen Straße herannahendes Fahrzeug erscheint. Dieser Grundsatz, der zum Vorfahrtrecht gegenüber dem Gegenverkehr beim Linkseinbiegen auf einer Straße mit Richtungsfahrbahnen und breitem Mittelstreifen entwickelt wurde, lässt sich aber auf den normalen Kreuzungsverkehr nicht übertragen. Im Urteil vom 23. Februar 1960 (aaO) heißt es ausdrücklich, dass bei dem üblichen Fall, bei dem sich – wie hier – Straßen mit je einer Fahrbahn kreuzen, die zufällige Stellung des Einbiegenden auf der Kreuzung nichts an seiner Wartepflicht ändert. Ein Fall, wie ihn der III. Zivilsenat in seinem Urteil vom 30. November 1964 (III ZR 231/63 = VersR 1965, 188) entschieden hat (dazu Gelhaar/Thuleweit, Haftpflichtrecht des Straßenverkehrs S. 94 zu § 13 StVO Fn. 365), liegt hier nicht vor. Von einer Einordnung in den fließenden Verkehr der abgeknickten Vorfahrtstraße kann überdies auch keine Rede sein, solange sich der Verkehrsteilnehmer noch im Kreuzungsbereich aufhält (vgl. KG VRS 39, 462, 464). Eine andere Betrachtungsweise ... würde, worauf das Berufungsgericht mit Recht hinweist, dazu führen, dass sich im Kreuzungsbereich ein Übergang von der Wartepflicht in das Vorrecht vollzöge, was die Verkehrslage in bedenklichem Maße unsicher machen würde. Es befände sich dann vielfach der Rücksichtslosere im Recht, der noch schnell vor dem für ihn von rechts kommenden Verkehrsteilnehmer auf die Vorfahrtstraße zufährt (vgl. OLG Neustadt DAR 1958, 226). Das darf nicht das Ergebnis einer Auslegung von Verkehrsvorschriften sein.
III.
Die vom Berufungsgericht vorgenommene Schadensabwägung und die Entscheidung über die Höhe des Klageanspruchs werden von der Revision nicht angegriffen. Sie lassen auch keinen Rechtsfehler zum Nachteil der Beklagten erkennen.