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OLG München Urteil vom 26.04.2013 - 10 U 4118/11 - Grundsätze der Schmerzensgeldbemessung
OLG München v. 26.04.2013: Grundsätze der Schmerzensgeldbemessung
Das OLG München (Urteil vom 26.04.2013 - 10 U 4118/11) hat entschieden:
Die Höhe des zuzubilligenden Schmerzensgeldes hängt entscheidend vom Maß der durch das haftungsbegründende Ereignis verursachten körperlichen und seelischen Beeinträchtigungen des Geschädigten ab, soweit diese bei Schluss der mündlichen Verhandlung bereits eingetreten sind oder zu diesem Zeitpunkt mit ihnen als künftiger Verletzungsfolge ernstlich gerechnet werden muss. Wird nach einem Verkehrsunfall bei dem Geschädigten durch ein Sachverständigengutachten eine Gesamt-MdE von 100 %, mindestens aber 80 %, nachgewiesen, so ist ein Schmerzensgeld von 250.000 Euro angemessen.
Siehe auch Schmerzensgeld und Halswirbelschleudertrauma - Lendenwirbelschleudertrauma
Gründe:
A.
Der Kläger macht gegen die Beklagten als Gesamtschuldner Ansprüche auf materiellen und immateriellen Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall vom 29.03.2004 gegen 18.00 Uhr auf der Hauptstraße in T. geltend. Hinsichtlich des Parteivortrags und der tatsächlichen Feststellungen erster Instanz wird auf das angefochtene Urteil vom 09.09.2011 (Bl. 367/383 d. A.) Bezug genommen (§ 540 I 1 Nr. 1 ZPO).
Das Landgericht hat nach Beweisaufnahme die Beklagten samtverbindlich verurteilt, an den Kläger ein Schmerzensgeld in Höhe von 120.000,00 € sowie einen Betrag von 29.214,50 € nebst Nebenforderungen zu bezahlen, im Übrigen bereits unter dem 20.09.2006 ein Teilanerkenntnisurteil betreffend den ursprünglich mit der Klageschrift unter Antrag Ziffer 3 geltend gemachten Feststellungsantrag erlassen (Bl. 83/84 d.A.) und im Übrigen die Klage abgewiesen.
Hinsichtlich der Erwägungen des Landgerichts wird auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils Bezug genommen.
Gegen dieses dem Kläger am 13.09.2011 und den Beklagten am 14.09.2011 zugestellte Urteil haben der Kläger mit einem beim Oberlandesgericht München am 13.10.2011 und die Beklagten mit einem ebenfalls am 13.10.2011 eingegangenen Schriftsatz Berufung eingelegt und diese nach jeweiliger Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist (Bl. 403 bzw. 405) mit beim Oberlandesgericht München jeweils am 14.12.2011 eingegangenen Schriftsätzen (Bl. 406/426 bzw. 427/438 d. A.) begründet.
Der Kläger hat beantragt,
das Teilendurteil des Landgerichts München II vom 09.09.2011 in den Ziffern 1 und 2 abzuändern und neu zu fassen wie folgt:
- Die Beklagten werden verurteilt, als Gesamtschuldner an den Kläger ein angemessenes Schmerzensgeld zu zahlen, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, mindestens aber weitere 300.000,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über den jeweiligen Basiszinssatz hieraus seit 24.06.2004.
- Die Beklagten werden verurteilt, als Gesamtschuldner an den Kläger 76.331,14 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über den jeweiligen Basiszinssatz hieraus seit 08.03.2006 zu zahlen.
Die Beklagten haben beantragt,
die Berufung der Gegenseite zurückzuweisen.
Die Beklagten haben mit ihrer Berufung beantragt,
- Das Teilendurteil des Landgerichts München II vom 09.09.2011, Az. 3 O 4175/06, wird dahingehend abgeändert, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verurteilt werden, an den Kläger ein weiteres Schmerzensgeld in Höhe von 50.000,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu bezahlen.
- Das Teilendurteil des Landgerichts München II vom 09.09.2011, Az. 3 O 4175/06, wird dahingehend abgeändert, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verurteilt werden, an den Kläger 19.391,00 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu bezahlen.
Im Übrigen wird das Teil-Endurteil des Landgerichts München II vom 09.09.2011, Az. 3 O 4175/06, aufgehoben und die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger hat seinerseits beantragt,
die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
Der Senat hat gemäß Beweisbeschluss vom 27.07.2012 (Bl. 472/475 d. A.) Beweis erhoben durch Einholung eines schriftlichen medizinischen Sachverständigengutachtens über die tatsächliche Behauptung des Klägers, dass er durch den Verkehrsunfall am 29.03.2004 gegen 18.03 Uhr auf der Hauptstraße in T. eine gesamt MdE von 100 %, mindestens aber von 80 % erlitten habe, sowie dass die Medikamente gemäß Ziffer 3.2.3 der Klage medizinisch notwendig und erforderlich waren und die dortigen Preise angemessen und ortsüblich sind, sowie die Behandlungskosten gemäß Ziffer 3.2.4. der Klage medizinisch erforderlich und angemessen waren. Hinsichtlich des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Gutachten des Sachverständigen Dr. med. A. G. vom 20.12.2012 (Bl. 483/496 d.A.) verwiesen.
Ergänzend wird auf die vorgenannten Berufungsbegründungsschriften, die Berufungserwiderungen des Klägers und der Beklagten, die weiteren im Berufungsverfahren eingereichten Schrift-sätze des Klägers vom 08.04.2013 (Bl. 507/508 d. A.) und der Beklagten vom 16.04.2013 (Bl. 510 d. A.) sowie die Sitzungsniederschrift vom 27.04.2012 (Bl. 455/458 d. A.) Bezug genommen.
B.
Die statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete, somit zulässige Berufung des Klägers hat in der Sache teilweisen Erfolg. Dagegen war die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
I.
Die alleinige Haftung der Beklagten gegenüber dem Kläger aus dem streitgegenständlichen Verkehrsunfall dem Grunde nach ist unstreitig.
1. Dem Kläger war gemäß §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1, 11 Satz 2 StVG, § 253 Abs. 2 BGB i.V.m. § 3 Nr. 1 Pflichtversicherungsgesetz (in der bis 31.12.2007 geltenden Fassung) ein Schmerzensgeld von weiteren 200.000,00 € zuzusprechen.
Über die bereits vom Erstgericht angeführten Erwägungen, auf die sich der Senat bezieht und die er sich zu Eigen macht, ist zu berücksichtigen, dass aufgrund des vom Senat eingeholten weiteren medizinischen Sachverständigengutachtens des Sachverständigen Dr. med. G., dem Chefarzt des Krankenhauses L., der dem Senat als Spezialsenat für Verkehrsunfallsachen aus langjähriger Erfahrung als qualifizierter Sachverständiger bekannt ist, nunmehr feststeht, dass der Kläger durch den Verkehrsunfall eine Gesamt-MdE von 100 %, mindestens aber von 80 % erlitten hat. Gegen dieses Gutachten hat auch keine Partei Einwendungen erhoben. Im Hinblick auf die vom Erstgericht bereits zutreffend dargestellten unfallbedingten Beschwerden und Leiden des Klägers, hält der Senat über die bereits bezahlten 50.000,00 € (Vorschuss am 29.06.2004 10.000,00 €, am 14.02.2005 10.000,00 € und am 08.09.2006 30.000,00 €, verrechnet in der Berufungsbegründung auf das Schmerzensgeld (Bl. 428)) ein weiteres Schmerzensgeld in Höhe von 200.000,00 € für angemessen. Die Höhe des zuzubilligenden Schmerzensgeldes hängt entscheidend vom Maß der durch das haftungsbegründende Ereignis verursachten körperlichen und seelischen Beeinträchtigungen des Geschädigten ab, soweit diese bei Schluss der mündlichen Verhandlung bereits eingetreten sind oder zu diesem Zeitpunkt mit ihnen als künftiger Verletzungsfolge ernstlich gerechnet werden muss (BGH VersR 1976, 440; 1980, 975; 1988, 299; OLG Hamm zfs 2005, 122 [123]; Senat in st. Rspr., zuletzt etwa Urt. v. 29.10.2010 - 10 U 3249/10 [juris]).
Die Schwere dieser Belastungen wird vor allem durch die Stärke, Heftigkeit und Dauer der erlittenen Schmerzen und Funktionsbeeinträchtigungen bestimmt (grdl. RG, Urt. v. 17.11.1882 - RGZ 8, 117 [118] und BGH - GSZ - BGHZ 18, 149 ff. = NJW 1955, 1675 ff.; ferner BGH NJW 2006, 1068 [1069]; OLG Hamm zfs 2005, 122 [123]; Senat in st. Rspr., zuletzt etwa Urt. v. 29.10.2010 - 10 U 3249/10 [juris]).
Besonderes Gewicht kommt etwaigen Dauerfolgen der Verletzungen zu (OLG Hamm zfs 2005, 122 [123]); OLG Brandenburg, Urt. v. 08.03.2007 - 12 U 154/06 [juris]; Senat in st. Rspr., zuletzt etwa Urt. v. 29.10.2010 - 10 U 3249/10 [juris]). Da nach dem nunmehr in der Berufungsinstanz eingeholten Sachverständigengutachten erhebliche Dauerfolgen, nämlich eine Gesamt-MdE von 100 %, mindestens aber 80 %, nachgewiesen sind, war ein erheblich höheres Schmerzensgeld zuzusprechen.
2. Das Erstgericht hat dem Kläger hinsichtlich verschiedener Sach- und Vermögensschäden bereits 1.636,50 € zugesprochen. Hinsichtlich der weiteren materiellen Schadenspositionen haben die Parteien für Brille, Fahrrad, Telefonkosten, Heilbehandlungskosten, Reha-Aufwendungen, Fahrtkosten Ehefrau, Fahrtkosten Kläger, Ergometer, Wandlampen, Medikamente, Arzt- und Behandlungskosten, Fahrtkosten Kläger und Auslagen einen weiteren Betrag von 1.520,00 € unstreitig gestellt.
3. Der Verdienstausfall in Höhe von 5.261,40 € zusätzlich zu den vom Erstgericht bereits ausgeurteilten 1.500,00 € wurde von den Parteien unstreitig gestellt und beträgt 6.761,40 €.
4. Haushaltsführungsschaden hat der Kläger beantragt für die Zeit von 01.04.2004 bis - mit Klageerweiterung vom 31.05.2009 - 30.06.2009 (Bl. 286). Der Senat hält hier angesichts der Ausführungen der Ehefrau des Klägers, den konkreten Wohn- und Arbeitsplatzverhältnissen des Klägers sowie dessen Ehefrau anders als das Erstgericht unter Zugrundelegung der Tabelle 1 in Schulz-Borck/Hofmann (Schadenersatz bei Ausfall von Hausfrauen und Müttern im Haushalt, 6. Auflage) eine wöchentliche Haushaltsführungstätigkeit von 25 Stunden für ausreichend nachgewiesen. Entsprechend der ständigen Rechtsprechung des Senats ist für die Stunde ein Nettostundensatz von 8,00 € anzusetzen.
Die von der Klageseite nicht substantiiert angegriffenen Feststellungen des Sachverständigen Dr. G. in seinem Gutachten vom 12.05.2010 (Bl. 318/322) betreffen den Zeitraum ab der Krankenhausentlassung des Klägers. Während seines stationären Aufenthalts im April und Mai 2004 ist der Kläger allerdings zu 100 % für jede Haushaltsführungstätigkeit ausgefallen. Unter Heranziehung der oben genannten Parameter ergibt sich insoweit ein Schaden von je 868,00 €, insgesamt also 1.736,00 €. Für die übrige Zeit hat der Sachverständige die MdH schlüssig und nachvollziehbar dargelegt. Der Senat legt seinen Berechnungen daher dieses Gutachten zu Grunde.
Deshalb ergibt sich für das Jahr 2004 mit 7 Monaten und 80 % MdH ein Betrag von 4.861,00 €, für das Jahr 2005 mit 12 Monaten und 60 % MdH ein Betrag von 6.192,00 € sowie für die Zeit von 2006 bis 30.06.2009 mit 42 Monaten und 40 % MdH ein Betrag von 14.448,00 €. Der Gesamtbetrag für den Haushaltsführungsschaden für 01.04.2004 bis 30.06.2009 beläuft sich somit auf 27.237,00 €.
5. Dem Kläger steht gegen die Beklagten ein Anspruch auf Ersatz seiner unfallbedingt aufgewendeten vorgerichtlich entstandenen Rechtsanwaltskosten als adäquat kausaler Schaden zu.
Angefallen ist eine Geschäftsgebühr gemäß § 118 Abs. 1 Satz 1 BRAGO aus dem Betrag, den die Beklagten vorprozessual als gerechtfertigt angesehen und gezahlt haben, nämlich 23.119,78 €. Im Hinblick auf die überdurchschnittlichen Folgen des Verkehrsunfalls erscheint auch dem Senat eine 10/10-Geschäftsgebühr angemessen. Die Besprechungsgebühr gemäß § 118 Abs. 1 Satz 2 BRAGO berechnet sich aus dem berechtigten Begehren des Klägers, damit aus 405.154,90 € (200.000,00 € Schmerzensgeld, 37.154,90 € sonstige materielle Schäden, 168.000,00 € Feststellungsanspruch). Damit fallen aus 23.019,78 € eine 10/10-Geschäftsgebühr in Höhe von 686,00 € sowie eine 10/10-Besprechungsgebühr von 2.642,00 € an. Hinzu kommen das Post- und Telekommunikationsentgelt (§ 26 BRAGO) von 20,00 € und damals 16 % Mehrwertsteuer ergibt 3.883,68 €, hierauf hat die Beklagte zu 2) 1.614,72 € bezahlt, so dass sich ein Restbetrag von 2.268,96 € ergibt.
6. Verzugszinsen:
Hinsichtlich des angemessenen Schmerzensgeldes sind die Beklagten mit dem 24.06.2004 in Verzug geraten. Der Kläger hat im Schreiben vom 09.06.2004 unter Fristsetzung bis zum 23.06.2004 um einen angemessenen Schmerzensgeldvorschuss gebeten unter Beifügung von zwei Chefarztbriefen (vgl. Palandt-Grüneberg, 72. Auflage § 286 BGB Rz. 19). Die Zahlung vom 29.06.2004 in Höhe von 10.000,00 € auf das Schmerzensgeld erfolgte unter dem Vorbehalt der Rückforderung (Bl. 15); ihr ist damit keine Tilgungswirkung zuzusprechen. Auch der weiteren Zahlung von 10.000,00 € am 14.02.2005 kommt mangels eindeutiger endgültiger Tilgungsbestimmung - es wurde auf die frühere Zahlung Bezug genommen - keine Erfüllungswirkung zu. Die Zahlung vom 08.09.2006 in Höhe von 30.000,00 € erfolgte ohne Zweckbestimmung. Erst mit ihrer Berufungsbegründung vom 14.12.2011 (Bl. 427/438 d. A.) haben die Beklagten die 50.000,00 € eindeutig verrechnet.
Da die Beklagte mit Schreiben vom 16.02.2006 endgültig weitere Zahlungen abgelehnt hat, ist hinsichtlich der übrigen materiellen Schadenspositionen ab 08.03.2006 Verzug eingetreten (§ 288 Abs. 1, 286 Abs. 2 Nr. 3 BGB). Der Haushaltführungsschaden wurde erst mit Schriftsatz vom 31.05.2009 (Bl. 286 d. A.) für den Zeitraum 01.07.2006 bis 30.06.2009 in Höhe von weiteren 36.000,00 € geltend gemacht. Dieser Schriftsatz wurde den Beklagten unter dem 11.06.2009 zugestellt. Maßgeblich ist damit für den berechtigten Teilbetrag von 12.384,00 € (36 Monate x 344,00 €) das Rechtshängigkeitsdatum damit ab 12.06.2009.
II.
Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 91, 92 ZPO. Wie bereits das Erstgericht zutreffend ausgeführt hat, liegen die Voraussetzungen des § 93 ZPO in Bezug auf das Teilanerkenntnisurteil vom 20.09.2006 nicht vor. Der Senat nimmt insoweit auf die Ausführungen des Erstgerichts Bezug und macht sich diese zu Eigen.
III.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit dieses Urteils beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
IV.
Die Revision war nicht zuzulassen. Gründe, die die Zulassung der Revision gem. § 543 II 1 ZPO rechtfertigen würden, sind nicht gegeben. Mit Rücksicht darauf, daß die Entscheidung einen Einzelfall betrifft, ohne von der höchst- oder obergerichtlichen Rechtsprechung abzuweichen, kommt der Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung zu noch erfordern die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts.