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OLG Köln Urt. v. 09.10.2007 - 15 U 105/07 - Zur Erhöhung des Schmerzensgeldes in der Berufungsinstanz

OLG Köln v. 09.10.2007: Zur Zulässigkeit einer Schmerzensgelderhöhung durch das Berufungsgericht nach entsprechender Rüge des Rechtsmittelführers


Das OLG Köln (Urteil vom 09.10.2007 - 15 U 105/07) hat entschieden:
Die Bemessung des angemessenen Schmerzensgeldes stellt sich nicht selbst als Tatsache im Sinne von § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO dar, sondern als Ergebnis einer umfassenden Würdigung der den Billigkeitserwägungen zugrunde liegenden Umständen des Einzelfalls. Daher kann das Berufungsgericht auf entsprechende Rüge des Rechtsmittelführers auch ein gegenüber dem angefochtenen Urteil höheres Schmerzensgeld zusprechen.


Siehe auch Schmerzensgeld und Stichwörter zum Thema Personenschaden


Zum Sachverhalt: Der Kläger nimmt die Beklagten wegen eines Verkehrsunfallereignisses vom 22.03.2003 auf der Q.-Straße in I. auf Zahlung von Schmerzensgeld und Feststellung von deren Ersatzpflicht für alle künftigen materiellen und immateriellen Schäden als Gesamtschuldner in Anspruch, und zwar den Beklagten zu 1) als Halter und Fahrer und die Beklagte zu 2) als Haftpflichtversicherer des auf das von dem Kläger geführte Fahrzeug auffahrenden PKW. Die Einstandspflicht der Beklagten für alle dem Kläger aus dem Unfallereignis erwachsenen Ansprüche dem Grunde nach ist unstreitig.

Erstinstanzlich haben die Parteien darüber gestritten, ob der Kläger bei dem Unfall über eine HWS-Distorsion hinaus, auf die die Beklagte zu 2) vorgerichtlich ein Schmerzensgeld von 1 000,00 € zahlte, einen Larynx-Bandabriss mit bleibenden Folgen erlitten hat und ob ihm deswegen eine billige Entschädigung in Höhe weiterer 4 000,00 € zusteht.

Mit am 26.04.2007 verkündetem Urteil hat der Einzelrichter der 21. Zivilkammer des Landgerichts Köln – 21 O 493/04 - die Beklagten als Gesamtschuldner unter Klageabweisung im Übrigen verurteilt, an den Kläger ein weiteres Schmerzensgeld von 2 500,00 € Basiszinssatz seit dem 03.09.2004 sowie vorgerichtliche Anwaltskosten in Höhe von 131,00 € nebst Zinsen seit dem 12.04.2005 zu zahlen, und festgestellt, dass die Beklagte zu 2) verpflichtet ist, dem Kläger allen materiellen und immateriellen Schaden zu ersetzen hat, der ihm aus dem Verkehrsunfall mit dem Beklagten zu 1) am 22.08.2003 auf der Q.-Straße in I. noch entstehen wird, soweit der Anspruch nicht auf Sozialversicherungsträger oder andere Dritte übergegangen ist.

Gegen dieses Urteil hat der Kläger form- und fristgerecht Berufung eingelegt und begründet, soweit das Landgericht hinter seinem erstinstanzlich zuletzt gestellten Antrag auf Zahlung von Schmerzensgeld in Höhe weiterer 4 000,00 € um die Differenz von 1 500,00 € zurückgeblieben ist. Klageerhöhend verlangt er darüber hinaus die Zahlung von weiteren 5 000,00 €, also über den vorgerichtlich von der Beklagten zu 2) gezahlten Betrag von 1 000,00 € und den von dem Landgericht zuerkannten weiteren Betrag von 2 500,00 € hinaus weitere 6 500,00 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 03.09.2004.

Die Beklagten, die auf Zurückweisung der Berufung antragen, verteidigen das angefochtene Urteil als rechtsfehlerfrei. Sie meinen, die Festsetzung des Schmerzensgeldes durch das Landgericht sei für das Berufungsgericht bindend. Insoweit beruhe die angefochtene Entscheidung auf der gemäß § 287 ZPO eröffneten Ausübung von Ermessen, die nur auf Ermessensfehler hin überprüfbar sei.

Die Berufung des Klägers war erfolgreich.


Aus den Entscheidungsgründen:

"... Dem Kläger steht gegenüber dem Beklagten zu 1) gemäß § 11 Satz 2 i.V.m. §§ 7 Abs. 1, 17 Abs. 1 und 2, 18 Abs. 1 und 3 StVG wie auch gemäß § 253 Abs. 2 i.V.m. § 823 Abs. 1 BGB und i.V.m. §§ 823 Abs. 2 BGB, 229 StGB ein Anspruch auf Zahlung von Schmerzensgeld in Höhe von weiteren 6 500,00 € zu, für dessen Erfüllung die Beklagte zu 2) als Haftpflichtversicherer gemäß § 3 Nr. 1 und 2 PflVG gesamtschuldnerisch mit einzustehen hat.

(1) Die Haftung der Beklagten als Gesamtschuldner dem Grunde nach für alle dem Kläger infolge des Unfallereignisses vom 22.08.2003 entstandenen und entstehenden materiellen und immateriellen Schäden, bei dem der Beklagte zu 1) mit seinem von ihm gesteuerten Pkw auf das von dem Kläger geführte und stehende Fahrzeug auffuhr, ist unstreitig und steht rechtskräftig fest, nachdem die Beklagte zu 2) nicht ihrerseits gegen den in dem Urteil des Landgerichts vom 26.04.2007 enthaltenen Feststellungstenor Rechtsmittel eingelegt hat. Aufgrund dieses Urteils steht ferner fest, dass der Kopf des Klägers bei dem Unfall zeitweise zwischen der Kopfstütze des Fahrersitzes und dem Fahrzeugdach festgesteckt hat und der Kläger infolge dessen einen Larynx-Bandabriss mit bleibender Dehnung oder jedenfalls eine Verletzung der am Kehlkopf ansetzenden Muskulatur mit bleibenden, auch äußerlich sichtbaren und sogar leicht vernehmbaren Schluckbeschwerden erlitten hat. Konkrete Anhaltspunkte, die Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der insoweit von dem Landgericht auf der Grundlage der schriftlichen Gutachten, insbesondere des medizinischen Gutachtens im Rahmen seiner Beweiswürdigung getroffenen Feststellungen i.S.v. § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO begründen könnten, sind nicht ersichtlich. Die Rechtsverteidigung der Beklagten beanstandet diese denn auch nicht.

(2) Mit seiner Berufung beanstandet der Kläger gemäß §§ 513 Abs. 1 Alt. 1, 546 ZPO letztlich mit Erfolg, dass ihm das Landgericht nicht ein höheres Schmerzensgeld zuerkannt hat.

(2.1) Allerdings geht die Rüge des Klägers, das Landgericht habe bei der Festsetzung des angemessenen Schmerzensgeldes wesentliche Gesichtspunkte zu seinen Gunsten außer Acht gelassen, fehl. Insoweit rügt er in der Sache eine fehlerhafte Feststellung der von dem Landgericht im Rahmen seiner gemäß §§ 11 Satz 2 StVG, 253 Abs. 2 BGB i.V.m. § 287 ZPO zu treffenden Ermessensentscheidung i.S.v. §§ 513 Abs. 1 Alt. 2, 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO. Diese Rüge ist unbegründet. Das Landgericht hat das Alter des Klägers zum Unfallzeitpunkt und die voraussichtlich bis zu seinem Lebensende bestehenden Unfallfolgen, insbesondere seine Schluckbeschwerden unter In-Bezugnahme des medizinischen Gutachtens ausdrücklich in seine Billigkeitserwägungen aufgenommen. Die unfallbedingte HWS-Distorsion hat es ebenfalls in den Tatbestand des angefochtenen Urteils als unstreitig aufgenommen und diesen Gesichtspunkt in seiner Entscheidung zur Höhe des Schmerzensgeldes ausdrücklich als Bemessungstatsache angeführt. Von einer verzögerten Regulierung durch die Beklagte zu 2) kann entgegen der Auffassung des Klägers nicht ausgegangen werden. Soweit es um die Anerkennung der Haftung dem Grunde nach, den Ersatz von Sachschäden und die Zahlung einer billigen Entschädigung für die unstreitige HWS-Distorsion ging, hat der Kläger selbst bereits in der Klageschrift eine umfängliche Regulierung eingeräumt, ohne dies in zeitlicher Hinsicht einzuschränken. Was die auf der Grundlage beider von dem Landgericht eingeholten Gutachten feststehenden weiteren unfallbedingten Verletzungen und Folgen anbetrifft, ist zu berücksichtigen, dass die Beklagten diese einschließlich deren Dauerhaftigkeit von Anfang an bestritten haben und bestreiten durften. Die insoweit von dem Kläger erlittenen Verletzungen nebst Folgewirkungen stellen sich als eher seltene und untypische Schädigungen aufgrund eines Auffahrunfalles dar.

(2.2) Auch sonstige konkreten Anhaltspunkte, die Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der vorliegend zu berücksichtigenden Tatsachen begründen könnten, sind nicht ersichtlich, § 529 Abs. 1 Nr. 1 Halbs. 2 ZPO. Das Landgericht ist ersichtlich von dem ihm eröffneten Ermessen ausgegangen und hat alle relevanten Gesichtspunkte des vorliegenden Einzelfalls, insbesondere das Maß der unfallbedingten Lebensbeeinträchtigung des Klägers und den Grad des Verschuldens des Beklagten zu 1) in Entsprechung der hierzu höchstrichterlich entwickelten Grundsätze ( grundlegend: BGH, GS f. Zivilsachen, Beschluss vom 06.07.1955 – GSZ 1/55 – BGHZ 18, 149 ff.), die zu § 847 BGB a.F. aufgestellt und auch heute noch im Rahmen der §§ 253 Abs. 2 BGB, 11 Satz 2 StVG uneingeschränkt fortgelten ( vgl. nur: Staudinger-Schiemann, BGB, Neubearbeitung 2005, § 253 Rdnrn. 34 ff.; MünchenerKommentar-Oetker, BGB, 5. Aufl., § 253 Rdnrn. 36 f.), berücksichtigt. Zur Orientierung geeignete Entscheidungen, in denen aufgrund vergleichbarer Schädigungen ein Schmerzensgeld zugesprochen worden ist, hat auch der Senat nicht aufzufinden vermocht. Soweit die Beklagten anführen, das Schmerzensgeld mindernd müsse sich die von dem medizinischen Sachverständigen gesehene Möglichkeit der Besserung der Schluckstörungen durch logopädische Therapie auswirken, hat das Landgericht auch diesem Gesichtspunkt ersichtlich durch In-Bezugnahme des medizinischen Gutachtens Rechnung tragen wollen.

(2.3) Zum Erfolg der Berufung führt indes die verbleibende Rüge des Klägers, das Landgericht habe auf der Grundlage der in die Billigkeitserwägungen einbezogenen Gesichtspunkte ein höheres Schmerzensgeld für angemessen erachten müssen. Die Bemessung des angemessenen Schmerzensgeldes stellt sich nicht selbst als Tatsache im Sinne von § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO dar, sondern als Ergebnis einer umfassenden Würdigung der den Billigkeitserwägungen zugrunde liegenden Umständen des Einzelfalls. Insoweit rügt der Kläger eine entscheidungserhebliche Rechtsverletzung, die der Senat für begründet hält.

(2.3.1) Die Auffassung der Beklagten, der Senat sei als Berufungsgericht an die von dem Landgericht im Wege des Ermessens gemäß § 287 ZPO festgelegte Schmerzensgeldhöhe gebunden, teilt der Senat nicht. Mit ihrer Ansicht vertreten sie letztlich den Standpunkt, die Prüfungskompetenz der Berufungsgerichte bestehe seit dem Inkrafttreten der Reform des Zivilprozesses vom 27.07.2001 (Zivilprozessreformgesetz = ZPO-RG, BGBl I, 1887) nur noch in den Grenzen, denen auch das Revisionsgericht unterliege. Richtig ist insofern, dass mit der Revision die Ausübung des Ermessens als solche nicht angreifbar ist. Das Revisionsgericht hat lediglich zu prüfen, ob die Voraussetzungen für eine Ermessensentscheidung vorgelegen haben, ob das Ermessen überhaupt ausgeübt worden ist und ob die Grenzen der Ermessensausübung eingehalten wurden ( vgl. etwa: Zöller-Gummer, ZPO, 25. Auflage, § 546 Rdnr. 14; Thomas/Putzo-Reichold, ZPO, 25. Auflage, § 546 Rdnr. 13; jew.m. BGH-Rspr.-Nachw.). Hiermit tragen sie der den Berufungsgerichten weiterhin zugewiesenen Funktion der Kontrolle und Beseitigung von Fehlern der erstinstanzlichen Entscheidung nicht hinreichend Rechnung. Die eingeschränkte Prüfungsbefugnis des Revisionsgerichts folgt nicht etwa aus § 546 ZPO, sondern aus dem Gesamtregelungsgehalt der §§ 545, 546 und 559 ZPO (§§ 549, 550, 561 ZPO a.F.) und der hieraus fließenden und durch §§ 543, 544 ZPO besonders betonten Funktion der Revision, im Interesse der Fortbildung des Rechts und der Wahrung der Rechtseinheit zu prüfen, ob das Berufungsgericht über seinen Bezirk hinausreichendes Recht nicht oder nicht richtig angewendet hat. Eine solche „Leitbildfunktion“ über seine Grenzen hinaus kommt einem Berufungsgericht ungeachtet dessen, dass § 513 Abs. 1 nur auf § 546 ZPO und nicht die weiteren revisionsrechtlichen Vorschriften Bezug nimmt, auch von seiner ihm von dem Gesetzgeber zugedachten Funktion, einen Rechtstreit einer dem konkreten Fall gerecht werdenden Lösung zuzuführen, nicht zu. Zweck der Reform war es u.a., dass das Berufungsgericht von solchen Tatsachenfeststellungen entlastet werden sollte, welche die erste Instanz bereits vollständig und überzeugend getroffen hat, § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO (BT-Dr 14/4722, S. 61). Nur „überzeugende Urteile (sollen) möglichst bald in Rechtskraft erwachsen“ (BT-Dr 14/4722, S. 59). Dementsprechend ist die Berufungsinstanz wie bei der Überprüfung der Auslegung von Individualvereinbarungen durch das Vordergericht ( vgl.: BGH, Urteil vom 14.07.2004 – VIII ZR 163/03 – NJW 2004,2751 ff.) auch im Fall einer auf § 287 ZPO gründenden Entscheidung berufen, den Prozessstoff auf der Grundlage der nach § 529 ZPO berücksichtigungsfähigen, insbesondere erstinstanzlich festgestellten Tatsachen selbstständig nach allen Richtungen von Neuem zu prüfen ( so ausdrücklich auch: Eichele/Hirtz/Oberheim-Hirtz, Handbuch Berufung in Zivilsachen, 2006, S. 188; vgl. auch: BGH, Urteil vom 18.11.2004 – IX ZR 229/03 – NJW 2005, 291 ff., 293; BGH, Urteil vom 09.03.2005 – NJW 2005, 1583 ff.; Gaier, NJW 2004, 2041 ff., 2041; Musielak-Ball, ZPO, 5. Aufl., § 529 Rdnr. 24).

... (folgen Ausführungen zu den Verletzungen)

Unter Berücksichtigung der Gesamtumstände erachtet der Senat eine Entschädigung für die von dem Kläger nach dem Vorstehenden erlittenen Verletzungen und Verletzungsfolgen von insgesamt 10 000,00 € für angemessen. Nach Abzug der bereits vorgerichtlich gezahlten 1 000,00 € und der ihm von dem Landgericht insoweit rechtskräftig zugesprochenen weiteren 2 500,00 € verbleibt der mit der Berufung insgesamt noch verfolgte Betrag von 6 500,00 €. ..."