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OLG Frankfurt am Main Urteil vom 02.03.2006 - 3 U 220/05 - Kein Anscheinsbeweis bei fehlerhaftem Verhalten des Vorausfahrenden als mögliche Unfallursache

OLG Frankfurt am Main v. 02.03.2006: Kein Anscheinsbeweis bei fehlerhaftem Verhalten des Vorausfahrenden als mögliche Unfallursache




Das OLG Frankfurt am Main (Urteil vom 02.03.2006 - 3 U 220/05) hat entschieden:

  1.  Ein Autofahrer darf den Verkehrsfluss nicht dadurch behindern, dass er ohne Ankündigung und ohne für den nachfolgenden Verkehr erkennbare Ursache plötzlich abbremst.

  2.  Der Anscheinsbeweis für ein Verschulden des Auffahrenden beruht auf dem Erfahrungssatz, dass das Auffahren im gleichgerichteten Verkehr regelmäßig auf mangelnde Aufmerksamkeit, überhöhte Geschwindigkeit oder einen ungenügenden Sicherheitsabstand des Auffahrenden zurückzuführen ist. Voraussetzung für seine Anwendung ist deshalb das Vorliegen einer Standardsituation, in der eine allenfalls denkbare andere Ursache so unrealistisch erscheint, dass sie außer Betracht bleiben kann.

  3.  Die für die Anwendung des für ein Verschulden des Auffahrenden sprechenden Anscheinsbeweises erforderliche Typizität der Unfallkonstellation fehlt, wenn ein Umstand vorliegt, der als Ursache aus dem Verantwortungsbereich des Vordermanns in Betracht kommt, etwa ein dem Auffahren unmittelbar vorausgegangener Spurwechsel des Vordermanns oder dessen dem Auffahren vorangegangenes grundloses Abbremsen. Ist ein solcher atypischer Umstand unstreitig, fehlt die Typizität der Unfallkonstellation und damit die Voraussetzung für eine Anwendung des Anscheinsbeweises.


Siehe auch
Auffahrunfall nach Ampelstart bei Grün
und
Stichwörter zum Thema Auffahrunfälle

Zum Sachverhalt:


Der Kläger beansprucht Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall, der sich am 30.11.2004 gegen 14.15 Uhr in O1 in der A-Straße im Bereich ihrer Kreuzung mit der B-Straße - in der Nähe der Straßenbahn-Haltestelle C - ereignet hat. Beteiligte Fahrzeuge waren der vom Kläger gefahrene Pkw X (…) des Klägers und der von der Beklagten zu 1) gefahrene Pkw Y (…) des Beklagten zu 2), der bei der Beklagten zu 3) haftpflichtversichert ist.

Der Kläger befuhr die mittlere Fahrspur der A-Straße in Richtung Innenstadt. Die Beklagte zu 1) fuhr in der gleichen Richtung hinter ihm. In der gemeinsamen Fahrtrichtung gesehen befindet sich unmittelbar hinter der Einmündung der D-Straße eine Lichtzeichenanlage (LZA). Vor der LZA standen zunächst der Kläger und - dahinter - die Beklagte zu 1) mit ihren Fahrzeugen, weil das Signal rot angezeigt wurde; hierbei stand der Pkw des Klägers als erstes wartendes Fahrzeug unmittelbar vor der dort markierten Haltelinie. Nachdem die LZA für den Kläger und die Beklagte zu 1) auf grün umschaltete, fuhren sowohl der Kläger als auch die Beklagte zu 1) an. Noch vor Erreichen der hier nach der Unfallskizze rund 11 bis 12,50 m hinter der erwähnten Haltelinie in einem Winkel von etwa 35° zu überquerenden Straßenbahnschienen bremste der Kläger sein Fahrzeug wieder ab und die Beklagte zu 1) fuhr auf.

Der Kläger hat behauptet, er habe seinen Pkw in Höhe der LZA nach der Einmündung der D-Straße verkehrsbedingt verlangsamt, um sich zu vergewissern, daß sich von links und rechts keine Straßenbahn nähere. Die Beklagte zu 1) sei infolge Unaufmerksamkeit und/oder eines zu geringen Sicherheitsabstands aufgefahren.

Die Beklagten haben vorgetragen, der Kläger habe sein Fahrzeug unmittelbar nach dem Anfahren an der LZA ohne ein für die Beklagte zu 1) erkennbares Motiv aus der bis dahin erreichten Geschwindigkeit von etwa 20 bis 30 km/h plötzlich wieder bis zum Stillstand abgebremst.

Das Landgericht hat die Klage als unbegründet abgewiesen, weil der Kläger - die Richtigkeit seines Sachvortrags unterstellt - den Unfall dadurch selbst verursacht habe, daß er unmotiviert abbremste. Gegenüber dieser ganz überwiegenden Unfallursache sei die mitwirkende Betriebsgefahr des Pkw des Beklagten zu 2) unbeachtlich und ein Verschulden der Beklagten zu 1) sei zu verneinen.

Die Berufung des Klägers blieb erfolglos.





Aus den Entscheidungsgründen:


"... Die zulässige, insbesondere form- und fristgerecht eingelegte und begründete Berufung hat in der Sache keinen Erfolg. Das Landgericht hat die Klage im Ergebnis zu Recht abgewiesen, Das Vorbringen des Klägers in der Berufungsinstanz vermag an der Entscheidung nichts zu ändern. Der geltend gemachte Schadensersatzanspruch nach §§ 823 I BGB, 7. 17, 18 StVG, 3 PflVG ist nicht begründet.

...

Auch nach der neuen Sachdarstellung des Klägers bleibt es dabei, daß die wesentliche, wenn nicht die einzige Unfallursache ein eigenes Verschulden des Klägers war. Er war verpflichtet, sich im Straßenverkehr so zu verhalten, daß kein Anderer geschädigt, gefährdet oder mehr, als nach den Umständen unvermeidbar, behindert oder belästigt wird (§ 1 II StVO). Ohne triftigen Grund durfte er nicht so langsam fahren, daß er den Verkehrsfluß behinderte (§ 3 II StVO). Aus diesen Verkehrsregeln folgt, daß ein Fahrer den Verkehrsfluß auch nicht dadurch behindern darf, daß ohne Ankündigung und ohne für den nachfolgenden Verkehr erkennbare Ursache plötzlich abbremst, denn dadurch kann das Auffahren des durch ein derartig verkehrswidriges Fahrmanöver überraschten Hintermanns provoziert und für diesen unvermeidlich werden.




In einer solchen Konstellation kann der bei Auffahrunfällen häufig gerechtfertigte Anscheinsbeweis für ein Verschulden des Auffahrenden nach § 286 ZPO nicht angewendet werden. Voraussetzung für eine Anwendung des Erfahrungssatzes, daß das Auffahren im gleichgerichteten Verkehr regelmäßig auf mangelnde Aufmerksamkeit, überhöhte Geschwindigkeit oder einen ungenügenden Sicherheitsabstand des Auffahrenden zurückzuführen ist, ist das Vorliegen einer Standardsituation, in der eine allenfalls denkbare andere Ursache so unrealistisch erscheint, daß sie außer Betracht bleiben kann. In diesen Fällen ist es dem Auffahrenden zumutbar, gegebenenfalls den Gegenbeweis für eine von ihm behauptete atypische Verursachung des Unfalls zu führen. Die für die Anwendung des Anscheinsbeweises erforderliche Typizität der Unfallkonstellation fehlt aber, wenn ein Umstand vorliegt, der als Ursache aus dem Verantwortungsbereich des Vordermanns in Betracht kommt, etwa ein dem Auffahren unmittelbar vorausgegangener Spurwechsel des Vordermanns oder dessen dem Auffahren vorangegangenes grundloses Abbremsen. Solche Umstände werden in der Rechtsprechung meist unter dem Gesichtspunkt erörtert, daß ihr Vorliegen den zu Lasten des Auffahrenden gehenden Anscheinsbeweis erschüttern kann. Dies setzt aber voraus, daß der atypische Umstand streitig ist (so etwa für den Fall des grundlosen Abbremsens in der Entscheidung OLG Köln r + s 1996, 17). Ist er - wie hier - unstreitig, fehlt es bereits unstreitig an der Typizität der Unfallkonstellation und damit für eine Anwendung des Erfahrungssatzes, daß das Auffahren im gleichgerichteten Verkehr regelmäßig auf mangelnde Aufmerksamkeit, überhöhte Geschwindigkeit oder einen ungenügenden Sicherheitsabstand des Auffahrenden zurückzuführen ist, denn als Ursache kommt in diesen Fällen auch das gefährliche Fahrmanöver des Vordermanns in Betracht.



Das vom Kläger behauptete eigene Fahrverhalten erscheint auch nach der persönlichen Anhörung des Klägers wenig plausibel und stellt jedenfalls einen schuldhaften Verstoß gegen das Gebot dar, den Verkehrsfluß nicht dadurch zu behindern, daß ein Fahrzeugführer sein Fahrzeug ohne Ankündigung und ohne für den nachfolgenden Verkehr erkennbare Ursache plötzlich abbremst. Hätte der Kläger die Verkehrssituation mit der gebotenen ständigen Vorsicht und Rücksicht auf andere Verkehrsteilnehmer (§ 1 I StVO) beobachtet, hätte ihm klar sein müssen, daß die LZA, an der er angehalten hatte, dazu bestimmt war, die Verkehrsverhältnisse im Bereich der atypisch strukturierten Kreuzung zu ordnen und insbesondere den Kraftfahrzeugverkehr und den Betrieb der kreuzenden Straßenbahn auseinander zu halten. Das Erkennen einer sich in einiger Entfernung - aus seiner Sicht von links hinten - in der A-Straße in Richtung G-Straße annähernden Straßenbahn durfte der Kläger unter diesen Umständen nicht als konkrete Gefährdung mißdeuten, zumal der Straßenbahnzug sich nach den Angaben des Klägers in diesem Moment noch vor der bereits im Rücken des Klägers liegenden Straßenbahnhaltestelle "C" befand und damit - nach dem Maßangaben in der polizeilichen Unfallskizze - mindestens 25 m von der Kreuzung entfernt, während der Kläger bereits fast die kreuzenden Schienen erreicht hatte. Bei Betätigung der gebotenen Vorsicht und Rücksicht hatte der Kläger deshalb nach seiner eigenen Sachdarstellung keinen Grund für das unfallursächliche Abbremsen.

Gegenüber dem Verschulden des Klägers fällt die mitwirkende Betriebsgefahr des Pkw des Beklagten zu 2) und ein nur zu vermutender Verschulden der Beklagten zu 1) als Unfallursache so wenig ins Gewicht, daß beides bei der Haftungsabwägung vernachlässigt werden kann. ..."

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