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BGH Urteil vom 19.11.1985 - VI ZR 176/84 - Zu den Voraussetzungen des Anscheinsbeweises bei einem Zusammenstoß auf der linken Fahrbahn im Begegnungsverkehr
BGH v. 19.11.1985: Zu den Voraussetzungen des Anscheinsbeweises bei einem Zusammenstoß auf der linken Fahrbahn im Begegnungsverkehr
Der BGH (Urteil vom 19.11.1985 - VI ZR 176/84) hat entschieden:
Zu den Voraussetzungen des Anscheinsbeweises für Fahrerverschulden bei einem Zusammenstoß auf der linken Fahrbahn im Begegnungsverkehr.
Tatbestand:
Am Abend des 11. Juli 1981 gegen 23.00 Uhr befuhr der Erstbeklagte (im folgenden: der Beklagte) mit seinem bei der Zweitbeklagten haftpflichtversicherten PKW die B-Straße in B. in südlicher Richtung. Die Klägerin saß auf dem Beifahrersitz. Etwa 60 m hinter einer leichten Linkskurve der 12 m breiten Straße stieß der Beklagte mit einem entgegen kommenden Motorrad zusammen. Der Motorradfahrer verstarb an den Folgen des Unfalls; die Klägerin wurde erheblich verletzt. Sie erlitt u.a. offene Sprunggelenkluxationsfrakturen, eine Unterschenkelfraktur, Rippenserienfrakturen und ein Schädelhirntrauma.
Die Klägerin hat vorgetragen, sie könne sich an das Unfallgeschehen nicht erinnern. Da das Fahrzeug des Beklagten auf der für ihn linken Seite der Straße zum Stehen gekommen sei und sich auch die Unfallspuren auf dieser Straßenseite befänden, sei anzunehmen, dass der Beklagte von seiner Fahrbahn abgekommen sei und den Unfall verschuldet habe.
Die Beklagten haben erwidert, der Beklagte sei vorschriftsmäßig rechts gefahren, als ihm plötzlich auf seiner Fahrbahn ein grelles Scheinwerferlicht entgegengekommen sei. Er habe gebremst und das Lenkrad herumgerissen, habe aber einen Zusammenstoß nicht mehr vermeiden können.
Die Klägerin begehrt die Zahlung eines Schmerzensgeldes und die Feststellung der Ersatzpflicht der Beklagten. Das Landgericht hat ihr ein Schmerzensgeld von 30.000 DM zuerkannt und dem Feststellungsbegehren entsprochen. Die Berufung der Beklagten war ohne Erfolg. Mit der Revision verfolgen sie ihren Klageabweisungsantrag weiter.
Entscheidungsgründe:
I.
Das Berufungsgericht hat ein Verschulden des Beklagten bejaht. Es hat - sachverständig beraten - zum Unfallhergang folgende Feststellungen getroffen: Der Beklagte ist zunächst auf seiner rechten Fahrbahnseite gefahren und hat dann durch eine abrupte Lenkbewegung den Wagen nach links gerissen. Als der PKW sich in einer schleuderartigen Drehbewegung bereits auf der Gegenfahrbahn befand, ist das Motorrad in einem Winkel von 40-50 gegen die rechte Vorderseite zwischen Vorderrad und Beifahrertür gestoßen. Der Kollisionsort lag unweit der Fahrbahnmitte auf der Gegenfahrbahn des Beklagten. Woher das Motorrad unmittelbar vor dem Zusammenstoß gekommen ist, hat sich nicht klären lassen. Es kann auf seiner Fahrbahnhälfte dem Beklagten entgegengefahren sein. Genausogut kann es dem Beklagten aber auch auf dessen Fahrbahnseite entgegengekommen oder von einem rechts neben der Straße verlaufenden Radweg schräg in die Fahrbahn des Beklagten hineingefahren sein. Der Motorradfahrer, der nicht unerheblich unter Alkoholeinfluß stand, war kurz vor dem Unfall mit dem ihm nicht gehörenden Motorrad zu einer Probefahrt aufgebrochen.
Nach Auffassung des Berufungsgerichts spricht der Beweis des ersten Anscheins für ein schuldhaftes Verhalten des Beklagten. Es erwägt dazu: Da sich der Zusammenstoß auf der Gegenfahrbahn des Beklagten ereignet habe, spreche der erste Anschein dafür, dass der Beklagte entweder unaufmerksam gewesen sei oder seine Geschwindigkeit schuldhaft nicht so eingerichtet habe, dass er sein Fahrzeug zu beherrschen vermochte. Der abrupte Lenkausschlag, der das Abkommen von der Fahrbahn eingeleitet habe, begründe einen weiteren Anscheinsbeweis für ein Verschulden des Beklagten.
II.
Die Ausführungen des Berufungsgerichts zum Anscheinsbeweis werden von der Revision mit Recht angegriffen.
1. Der Beweis des ersten Anscheins spricht für ein Verschulden des Kraftfahrers, wenn dieser ohne erkennbaren Anlass auf die Gegenfahrbahn gerät und dort mit einem entgegenkommenden Fahrzeug zusammenstößt (Senat, Urteile vom 2. Februar 1955 - VI ZR 278/53 - VersR 1955, 189; vom 24. Februar 1959 - VI ZR 62/58 = VersR 1959, 465, 466; vom 24. März 1959 - VI ZR 82/58 = VersR 1959, 518, 519; vom 19. Januar 1960 - VI ZR 16/59 = VersR 1960, 523; vom 7. Oktober 1960 - VI ZR 180/59 = VersR 1960, 1017; vom 13. Juni 1961 - VI ZR 224/60 = VersR 1961, 846; vom 16. Juni 1964 - VI ZR 93/63 - VersR 1964, 1102, 1103; vom 15. April 1966 - VI ZR 246/64 = VersR 1966, 693; vom 25. März 1969 - VI ZR 252/67 = VersR 1969, 636, 637). Der Ort des Zusammenstoßes weist aber für sich genommen nicht immer nach der Lebenserfahrung auf ein Verschulden des Fahrers hin, der seine rechte Fahrbahn verlassen hat (Senat, Urteile vom 24. Februar 1959, vom 24. März 1959, vom 7. Oktober 1960 und vom 16. Juni 1964 = aaO). Die Anwendung des Anscheinsbeweises bei Verkehrsunfällen setzt Geschehensabläufe voraus, bei denen sich nach der allgemeinen Lebenserfahrung zunächst der Schluss aufdrängt, dass der Verkehrsteilnehmer seine Pflicht zur Beachtung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt verletzt hat. Es muss sich um Tatbestände handeln, für die nach der Lebenserfahrung eine schuldhafte Verursachung typisch ist (Senat, Urteil vom 24. März 1958 = aaO). Der bloße Umstand, dass ein Kraftfahrer auf die Gegenfahrbahn geraten ist, reicht als Grundlage für einen Anscheinsbeweis nicht stets aus. Wenn im zu entscheidenden Einzelfall weitere Umstände des Unfallgeschehens bekannt sind - sei es dass der Kläger sie selbst vorträgt oder dass sie unstreitig oder vom Gericht festgestellt sind -, so müssen sie in die Betrachtung mit einbezogen werden. Das gesamte feststehende Unfallgeschehen muss nach der Lebenserfahrung typisch dafür sein, dass derjenige Verkehrsteilnehmer, der sich im Augenblick des Zusammenstoßes auf seiner Gegenfahrbahn befunden hat, schuldhaft gehandelt hat. Wenn das feststehende Gesamtgeschehen nicht die notwendige Typizität aufweist, d.h. wenn dieses Geschehen nicht so eindeutig ist, dass sich nach der Lebenserfahrung der Schluss auf das Fehlverhalten eines der Beteiligten aufdrängt, dann reicht der bloße Umstand, dass einer der Unfallbeteiligten sich am Schluss des Unfallgeschehens auf der Gegenfahrbahn befand, als Grundlage für einen gegen ihn sprechenden Anscheinsbeweis nicht aus. In einem solchen Fall spricht der erste Anschein nicht für ein schuldhaftes Fehlverhalten des auf die Gegenfahrbahn Geratenen. Das bedeutet, dass dieser Unfallbeteiligte nicht gezwungen ist, einen gegen ihn sprechenden Anschein auszuräumen oder zu entkräften. Vielmehr hat, wer daraus einen Ersatzanspruch herleiten will, das schuldhafte Fehlverhalten ohne die Erleichterungen des Anscheinsbeweises auf Grund der konkreten Umstände des Falles nachzuweisen.
2. Im vorliegenden Fall steht fest, dass der Beklagte zunächst rechts auf seiner Fahrbahnhälfte gefahren ist und dann mit einer plötzlichen Lenkbewegung sein Fahrzeug nach links in den Bereich der Gegenfahrbahn gelenkt hat. Auf der anderen Seite ist ungeklärt, woher der Motorradfahrer gekommen ist, der sich nach einer Feier das Motorrad zu einer Probefahrt ausgeliehen hatte. Bei dieser Sachlage fehlt es an einem typischen Geschehensablauf. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts begründet die abrupte Lenkbewegung keinen Anscheinsbeweis für ein Verschulden des Beklagten. Es drängt sich lediglich der Schluss auf, dass die Lenkbewegung eine Reaktion auf die Annäherung des Motorradfahrers darstellte. Dass es sich dabei um eine fehlerhafte Reaktion gehandelt hat, lässt sich dem Geschehen dagegen nicht entnehmen. Die Möglichkeit einer Fehlreaktion ist zwar nicht auszuschließen. Sie liegt aber keinesfalls näher als das Gegenteil. Es ist eine allgemein bekannte Erfahrungstatsache, dass Kraftfahrer bei einer Schreckreaktion instinktiv von einer plötzlich wahrgenommenen Gefahr weglenken. Diese Erfahrung steht der Annahme entgegen, dass der Motorradfahrer ordnungsgemäß auf seiner Fahrbahnhälfte dem Beklagten entgegengekommen ist und dieser - etwa infolge Übermüdung oder aus Unaufmerksamkeit auf das Erscheinen des Motorradfahrers zu spät oder zu heftig oder aus anderen von ihm zu vertretenden Gründen fehlerhaft reagierend - seinen PKW ausgerechnet in die Fahrbahn des entgegenkommenden Motorrades hineingelenkt haben soll. Das festgestellte abrupte Lenkverhalten des Beklagten unmittelbar vor der Annäherung des Motorradfahrers nach links lässt es vielmehr keineswegs von der Hand weisen, dass das Motorrad plötzlich von vorne rechts entgegengekommen ist und der Beklagte im letzten Augenblick instinktiv nach links ausgewichen ist. Damit sind zwar noch nicht die Voraussetzungen für einen Anscheinsbeweis zu Lasten des Motorradfahrers gegeben. Bei dieser Sachlage spricht aber jedenfalls kein Anscheinsbeweis für ein Verschulden des Beklagten. Dass das Fahrzeug des Beklagten sich im Augenblick des Zusammenstoßes kurz jenseits der Mittellinie befand, legt bei diesem Gesamtgeschehen nicht den aus einer Unfalltypik herleitbaren Schluss nahe, dass den Beklagten ein Verschulden an dem Unfall trifft. Damit fehlt die Grundlage für einen gegen ihn sprechenden Anschein.
Da bereits die Voraussetzungen für einen Anscheinsbeweis zu Lasten des Beklagten nicht vorliegen, stellt sich die Frage der Erschütterung des Anscheinsbeweises nicht.
III.
Nach den nicht angegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts ist der Nachweis eines Verschuldens des Beklagten auch nicht auf Grund der konkreten Umstände des Falles zu führen. Damit kann das Berufungsurteil keinen Bestand haben.
Die Klage ist insgesamt abzuweisen. Da dem Beklagten ein Verschulden nicht nachzuweisen ist, scheidet eine Haftung der Beklagten für die Folgen des Verkehrsunfalls vom 11. Juli 1981 gegenüber der Klägerin aus. Eine Gefährdungshaftung nach dem Straßenverkehrsgesetz kommt nicht in Betracht, weil die Klägerin Insassin des PKW des Beklagten war (§ 8 a Abs. 1 Satz 1 StVG).