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OLG Hamm Urteil vom 07.02.2007 - 20 U 134/06 - Das Abkommen von einer schmalen Fahrbahn auf den Grünstreifen begründet nicht ohne Weiteres grobe Fahrlässigkeit
OLG Hamm v. 07.02.2007: Das Abkommen von einer schmalen Fahrbahn auf den Grünstreifen begründet nicht ohne Weiteres grobe Fahrlässigkeit
Das OLG Hamm (Urteil vom 07.02.2007 - 20 U 134/06) hat entschieden:
- Das Abkommen von einer schmalen Fahrbahn auf den Grünstreifen begründet nicht ohne Weiteres grobe Fahrlässigkeit.
- Wenn ein Versicherungsnehmer nicht in der Lage ist, einen plausiblen Grund für das Abkommen von der Fahrbahn anzugeben, kann daraus keine Umkehr der Beweislast abgeleitet werden, die nach § 61 VVG dem Versicherer obliegt.
Zum Sachverhalt: Der Kläger machte nach einem Unfallschaden Entschädigungsansprüche aus einer bei der Beklagten genommenen Vollkaskoversicherung geltend.
Die Parteien stritten darüber, ob der Kläger den Unfall grob fahrlässig verursacht hat.
Der Kläger kam am 04.11.2004 gegen 10.10 Uhr mit seinem versicherten PKW Opel Astra (amtl. Kennz. ... ) auf der Landstrasse L ... zwischen P und X nach Durchfahren einer Linkskurve auf gerader Strecke nach rechts von der Fahrbahn ab, konnte das Fahrzeug durch Gegenlenken nicht mehr auffangen und prallte gegen einen Straßenbaum. Am Fahrzeug entstand Totalschaden.
Der Kläger gab zur Unfallursache an, er sei unaufmerksam gewesen. Er habe durch einen Blick auf den Beifahrersitz kontrolliert, ob er "alles dabei habe", insbesondere, ob seine Geldbörse auf dem Beifahrersitz liege. Die zum Unfallzeitpunkt gefahrene Geschwindigkeit hat er mit 90 km/h angegeben.
Die Beklagte verweigerte eine Entschädigung und warf dem Kläger grob fahrlässige Unaufmerksamkeit vor.
Das Landgericht hat Beweis erhoben und ein Gutachten des Dipl.Ing. T zum Unfallhergang eingeholt. Der Sachverständige kommt zu dem Ergebnis, dass aus technischer Sicht nicht festzustellen ist, warum der Kläger von der Fahrbahn abgekommen ist. Es sei aus technischer Sicht problemlos möglich, über einen Zeitraum von 05 bis 1,0 s auf den Beifahrersitz zu schauen, ohne das Fahrzeug dabei unbeabsichtigt nach rechts zu lenken.
Das Landgericht hat grobe Fahrlässigkeit verneint und dem zuletzt gestellten Klageantrag entsprochen.
Mit der Berufung verfolgte die Beklagte ihren Abweisungsantrag erfolglos weiter.
Aus den Entscheidungsgründen:
"... Der Senat hat keine Umstände festgestellt, die den Vorwurf einer grob fahrlässigen Verursachung des Unfalls rechtfertigen.
Grob fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt objektiv in besonders hohem Maß außer acht lässt, also das nicht beachtet, was jedermann in seiner Lage ohne weiteres einleuchtet, und wer sich darüber hinaus auch subjektiv vorwerfen lassen muss, dass der Verstoß schlechthin unentschuldbar ist.
Darlegungs- und beweisbelastet für den Schuldvorwurf der groben Fahrlässigkeit ist gemäß § 61 VVG der Versicherer. Allerdings ist es zunächst Sache des Versicherungsnehmers, ihn entlastende Tatsachen näher zu substantiieren, da der Versicherer außerhalb des von ihm darzulegenden Geschehensablaufs steht und die maßgebenden Tatsachen nicht kennen kann (BGH, Urt.v. 29.01.2003 - IV ZR 173/01 - NJW 2003, 1118). Trägt der Versicherungsnehmer ihn entlastende Tatsachen vor, steht es zur Beweislast des Versicherers, diese zu widerlegen.
Der Kläger hat Unaufmerksamkeit vorgetragen: Er habe kurze Zeit auf den Beifahrersitz geschaut und müsse dabei versehentlich nach rechts gelenkt haben, so dass er von der Fahrbahn abgekommen sei.
Der Sachverständige T hat dazu ausgeführt, dass es technisch problemlos möglich ist, kurzfristig seinen Blick von der Fahrbahn abzuwenden und auf den Beifahrersitz zu richten, ohne dabei eine Lenkbewegung auszuführen, die das Fahrzeug von der Fahrbahn abbringt. Aus dem Spurverlauf war eine Lenkbewegung des Klägers nach rechts um 20 º über eine Zeitspanne von bis zu 1 Sekunde abzulesen, die das Fahrzeug auf den unbefestigten Fahrbahnrand führte.
Die Ausführungen des Sachverständigen zu der Möglichkeit, ein Fahrzeug auch bei von der Fahrbahn abgewandtem Blick in der Spur zu halten, entsprechen den Erfahrungen des Senats.
Der Beklagten ist mithin zuzugestehen, dass der vom Kläger geschilderte Kontrollblick auf den Beifahrersitz allein den Unfall nicht erklärt. Allerdings ist daraus nicht abzuleiten, dass der Kläger nicht nur wie von ihm geschildert seinen Blick auf den Nebensitz gerichtet hat, sondern dass er darüber hinaus - was die Beklagte vermutet - sich möglicherweise nach heruntergefallenen Gegenständen gebückt hat, ein Verhalten, das in der Rechtsprechung gemeinhin als grob fahrlässig eingestuft wird (vgl. schon Senat, Urt.v. 26.11.1986 20 U 122/86 - VersR 1987, 353; Senat, Beschl.v. 24.22.1989 20 W 59/89 - r+s 1990, 228; OLG Frankfurt, r+s 1997, 101).
Einen Beweis für diese ihre Vermutung hat die Beklagte nicht angeboten.
Wenn ein Versicherungsnehmer nicht in der Lage ist, einen plausiblen Grund für das Abkommen von der Fahrbahn anzugeben, kann daraus keine Umkehr der Beweislast abgeleitet werden, die nach § 61 VVG dem Versicherer obliegt.
Schließlich rechtfertigt auch das Abkommen von der Fahrbahn allein nicht den Vorwurf eines schlechthin unentschuldbaren Verstoßes gegen die Sorgfaltspflicht eines Kraftfahrzeugführers.
Wie das Abkommen von einer sehr breiten, gut ausgebauten und etwa mit Randstreifen versehenen Fahrbahn ohne plausiblen Grund zu beurteilen sein würde, kann der Senat offen lassen. Im Streitfall ist der Kläger von einer schmalen Fahrbahn mit unbefestigtem Randstreifen abgekommen; der Spurverlauf zeigt, dass er mit den rechten Rädern auf die dichte Grasnarbe neben seiner Fahrspur geraten ist, und dies bei einer Lenkbewegung, die nach den Berechnungen des Sachverständigen eine Zeitraum von nicht mehr als einer Sekunde gedauert hat.
Aus einem solchen Fahrfehler ist dem Kläger nicht der Vorwurf eines schlechthin unentschuldbaren Verstoßes gegen seine Sorgfaltspflichten zu machen. ..."