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OLG Koblenz Beschluss vom 20.09.2004 - 1 Ss 227/04 - Ausführlich zu grober Pflichtverletzung, Gleichgültigkeit und Augenblicksversagen
OLG Koblenz v. 20.09.2004: Darlegungen zum Fahrverbot wegen grober Pflichtverletzung, zur Gleichgültigkeit des Betroffenen und zum Augenblicksversagen
Das OLG Koblenz (Beschluss vom 20.09.2004 - 1 Ss 227/04) hat entschieden:
- Grob pflichtwidrig handelt der Betroffene auch dann, wenn er schuldhaft nicht die in einer konkreten Verkehrssituation (Fahrbahnverengung, Baustellen- oder Kreuzungsbereich u.ä.) gebotene erhöhte Aufmerksamkeit an den Tag legt und deshalb ein Verkehrszeichen übersieht. Dass er die erlaubte Höchstgeschwindigkeit „ausnutzt” (oder auch überschreitet), genügt dazu allein noch nicht (Abweichung von OLG Frankfurt NStZ-RR 2003,123).
- Allerdings kann die Überschreitung der (gesetzlichen oder vom Betroffenen angenommenen) Höchstgeschwindigkeit Anlass für die Prüfung sein, ob das Übersehen des Verkehrszeichens auf Gleichgültigkeit beruht.
- Das Entfallen des Regelbeispiels (z.B. wegen Augenblicksversagens) schließt ein allein auf § 25 Abs. 1 Satz 1 StVG gestütztes Fahrverbot nicht zwangsläufig aus. Bei Fehlen der Voraussetzungen des § 4 Abs. 2 Satz 2 BKatV bedarf es allerdings näherer Feststellungen und einer Gesamtabwägung. Nur wenn die Beharrlichkeit der Pflichtverletzung von ähnlich starkem Gewicht ist wie im Regelfall, ist ein Fahrverbot verhältnismäßig.
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Zum Sachverhalt: Das AG hat den Betr. durch Urteil vom 28. 4. 2004 wegen fahrlässigen Überschreitens der außerörtlichen Höchstgeschwindigkeit um 41 km/h zu einer Geldbuße von 325 € verurteilt. Von der Verhängung des einmonatigen Regelfahrverbots hat es gegen Erhöhung der Regelgeldbuße abgesehen. Nach den Urteilsfeststellungen befuhr der Betr. als Fahrer eines Pkw am 30. 4. 2003 die BAB A 3 mit einer Geschwindigkeit von 141 km/h (nach Abzug von 3% Toleranz von den gemessen 146 km/h), obwohl die zulässige Höchstgeschwindigkeit 1,4 km vor der Messstelle durch beidseits aufgestellte VZ 274 zunächst auf 130 km/h und 1,1 km vor der Messstelle durch ein entsprechend aufgestelltes Schilderpaar auf 100 km/h beschränkt war.
Der Betr. hatte sich darauf berufen, das zuletzt aufgestellte Schilderpaar übersehen zu haben. Er sei von einer zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 130 km/h ausgegangen und „habe den im Fahrzeug befindlichen Tempomaten darauf eingestellt, anscheinend nicht genau auf 130 km, sondern etwas darüber”.
Das AG hat einen groben Pflichtverstoß mit der Begründung verneint, „der Betr. (sei) irrtümlich von einer Geschwindigkeitsbeschränkung von 130 km/h ausgegangen”. Es hat „trotz seiner Voreintragung”, zu der das AG festgestellt hat, dass die Verhängung einer Geldbuße von 600 € und zwei Monaten Fahrverbot gegen den Betr. wegen einer am 14. 10. 2001 begangenen Geschwindigkeitsüberschreitung von 102 km/h (!) am 30. 4. 2002 rechtskräftig geworden war, auch keine beharrliche Verletzung seiner Pflichten als Kraftfahrer angenommen, weil sich der Betr. durch die Nutzung des Tempomaten bemüht habe, rechtstreu am Straßenverkehr teilzunehmen. Es habe dem Betr. nicht an rechtstreuer Gesinnung und Einsicht gefehlt, sondern nur an mangelnder Aufmerksamkeit. Nach Auffassung der Bußgeldrichterin konnte die Verhängung eines Fahrverbots außerdem mit Rücksicht auf den vom Betr. befürchteten Arbeitsplatzverlust als Außendienstmitarbeiter unter dem Gesichtspunkt der unbilligen Härte entfallen. Das AG hat „deshalb das Absehen vom Fahrverbot gegen Erhöhung der Geldbuße um mehr als das Doppelte für gerechtfertigt” erachtet, „um den Betr. zu verkehrsgerechtem Verhalten zu mahnen”. Die Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft führte im Rechtsfolgenausspruch zur Aufhebung und Zurückverweisung.
Aus den Entscheidungsgründen:
1. Die zum objektiven Tatgeschehen und zur subjektiven Tatseite getroffenen Feststellungen tragen den Schuldspruch wegen fahrlässiger Geschwindigkeitsüberschreitung außerhalb geschlossener Ortschaften um 41 km/h. Da das AG die Einlassung des Betr., das die zulässige Geschwindigkeit auf 100 km/h herabsetzende Schilderpaar (das nach den Urteilsfeststellungen nur ein einziges Mal vor der Messstelle aufgestellt war) übersehen zu haben, rechtsfehlerfrei für unwiderlegbar erachtet hat, scheidet eine Verurteilung wegen vorsätzlicher Tatbegehung aus.
2. Die Entscheidung des AG, trotz Verwirklichung eines Regelbeispiels (§ 4 Abs. 1 Nr. 1 BKatV i.V.m. lfd. Nr. 11.3.7 des BKat in der zur Tatzeit gültigen Fassung) unter Erhöhung der Regelgeldbuße von 100 € auf 325 € kein Fahrverbot anzuordnen, hält in mehrfacher Hinsicht sachlich-rechtlicher Prüfung nicht stand.
a) Die Verneinung grob pflichtwidrigen Verhaltens des Betr. i.S. d. § 25 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 StVG ist nicht frei von Rechtsfehlern. Die grobe Pflichtwidrigkeit beinhaltet eine objektive und eine subjektive Komponente. Objektiv muss es sich um eine abstrakt oder konkret gefährliche OWi handeln, wie sie immer wieder die Ursache schwerer Unfälle ist. Subjektiv ist erforderlich, dass die objektiv schwerwiegende Zuwiderhandlung auf groben Leichtsinn, grobe Nachlässigkeit oder Gleichgültigkeit zurückgeht.
Im BKat hat der Gesetzgeber eine Vielzahl von Verkehrsverstößen als i.d.R. grob pflichtwidrig vorbewertet. Die Regelwirkung entfällt – mit der Folge, dass kein Fahrverbot verhängt werden kann –, wenn der Betr. ein die Höchstgeschwindigkeit begrenzendes Zeichen nicht wahrgenommen hat, es sei denn, gerade diese Fehlleistung beruht ihrerseits auf grober Nachlässigkeit oder Gleichgültigkeit. (BGHSt 43, 241 ff. = NZV 97, 525). Es muss sich also um eine momentane Unaufmerksamkeit gehandelt haben, die nur den Vorwurf einfacher Fahrlässigkeit (Schlagwort: „Augenblicksversagen”) begründet. Daraus folgt, dass gravierendes, praktisch kaum anders als durch Vorsatz erklärbares Versagen („Übersehen" mehrfach hintereinander aufgestellter Schilder oder eines sog. Geschwindigkeitstrichters) von vornherein als Augenblicksversagen ausscheiden. Daraus folgt weiter, dass aber auch die Unwiderlegbarkeit der Behauptung eines Betr., er habe das geschwindigkeitsbegrenzende Verkehrszeichen übersehen, nicht zwangsläufig den Vorwurf grob pflichtwidrigen Verhaltens entfallen lässt. Die Anordnung eines Fahrverbots ist vielmehr in aller Regel auch dann geboten, wenn nur scheinbar ein Augenblicksversagen vorliegt, weil
aa) der Betr. schuldhaft eine Ursache für das Übersehen gesetzt hat (z.B. durch Telefonieren; OLG Karlsruhe NZV 2004, 211 unter Hinweis auf KG, 2 Ss 319/99 vom 19. 1. 2000);
bb) der Betr. schuldhaft nicht die in einer konkreten Verkehrssituation (Fahrbahnverengung, Baustellenbereich, Kreuzungsbereich u.ä.; s. z.B. BayObLG DAR 1999, 559) gebotene erhöhte Aufmerksamkeit an den Tag legte und deshalb ein Verkehrszeichen übersah;
cc) der Verstoß Ausdruck von Gleichgültigkeit gegenüber Ge- und Verbotsnormen des Straßenverkehrsrechts ist.
zu aa) Für diese Alternative bieten die tatrichterlichen Feststellungen keinen Anhaltspunkt. Dass der Betr. an der Messstelle auch die von ihm irrtümlich angenommene Höchstgeschwindigkeit von 130 km/h um 11 km/h überschritten hatte, ist in diesem Zusammenhang ohne jede Bedeutung, weil dieses Fehlverhalten in die Zeit nach dem Passieren des übersehenen Verkehrszeichens fiel und deshalb nicht ursächlich für das Übersehen gewesen sein kann. Für einen nachweisbaren Ursachen- und Vorwerfbarkeitszusammenhang zwischen einem Verhalten des Betr. bei der Annäherung an das Z. 274 („100") und dessen Nichtbeachtung geben die Urteilsgründe nichts her.
zu bb) Auch die zweite Alternative ist zu verneinen. Zwar hat das OLG Frankfurt (NStZ-RR 2003, 123) in einem wohl vergleichbaren Fall entschieden, es liege nicht nur einfache Fahrlässigkeit vor, und ausgeführt:
„Zur „Erschütterung” der indiziellen Wirkung der Verwirklichung des Regelbeispiels reicht es aber nicht schon aus, dass der Kraftfahrzeugführer - nicht widerlegt - das Vorschriftszeichen 274 aufgrund einfacher Fahrlässigkeit übersehen hat. Voraussetzung ist weiterhin, dass er die ohne das Vorschriftszeichen maßgebliche Höchstgeschwindigkeit eingehalten hat (vgl. BGH, NZV 1997, 525f.). Es ist nämlich kaum vorstellbar, dass einem Kraftfahrer keine grobe Pflichtwidrigkeit zur Last fällt, wenn er bereits die ohne das Vorschriftzeichen maßgebliche Höchstgeschwindigkeit überschreitet und zudem noch das die Geschwindigkeitsbeschränkung anordnende Vorschriftzeichen übersieht. Hierbei reichen auch bereits geringfügige Überschreitungen der zulässigen Höchstgeschwindigkeit aus, da das Ausnutzen der Höchstgeschwindigkeit jeden Kraftfahrer zu besonderer Aufmerksamkeit verpflichtet. In diesen Fällen kommt daher die Indizwirkung der Verwirklichung des Regelbeispiels ohne Einschränkungen zum Tragen.”
Dem kann jedoch so nicht gefolgt werden. Abgesehen davon, dass auch etwas, was „kaum vorstellbar” ist, im Einzelfall durchaus gegeben sein kann, ist im Grunde schon nicht erkennbar, unter welchem Gesichtspunkt das für die Annahme grober Pflichtwidrigkeit notwendige subjektive Element hier geprüft und bejaht wurde. Die Nichteinhaltung der ohne das Vorschriftszeichen maßgeblichen Höchstgeschwindigkeit (im dortigen Fall 100 km/h gem. § 3 Abs. 3 lit.c StVO) kann im Einzelfall für Gleichgültigkeit sprechen (s. dazu unten cc). Der Hinweis auf das „Ausnutzen der Höchstgeschwindigkeit” muss wohl so verstanden werden, dass das OLG Frankfurt von jedem Verkehrsteilnehmer, der sich an der Grenze gesetzeskonformer Geschwindigkeiten bewegt, ein erhöhtes Maß an Aufmerksamkeit verlangt, welches ein Übersehen von Verkehrszeichen nicht zuließe – wobei dann wiederum allein aus dem Übersehen ohne weiteres der Schluss gezogen wird, der Betr. habe es grob pflichtwidrig an der gebotenen erhöhten Aufmerksamkeit fehlen lassen. Dem läge das unrealistische Bild eines perfekten Kraftfahrers zugrunde, der den unterschiedlichen Grad seiner Aufmerksamkeit davon abhängig machen würde, ob er beispielsweise 130 km/h auf begrenzungsfreier Strecke oder auf einem Streckenabschnitt mit entsprechender Geschwindigkeitsbegrenzung fährt. Im Übrigen ist der Entscheidung des OLG Frankfurt auch nicht zu entnehmen, ob der dortige Betr. vor dem Übersehen des die Geschwindigkeit dort auf 80 km/h begrenzenden Schildes die Höchstgeschwindigkeit überhaupt „ausgenutzt” hatte: Der vom OLG Frankfurt offenbar gezogene Schluss von der (später) gemessenen Geschwindigkeit auf eine früher – nämlich beim Übersehen des weiter reduzierenden Zeichens – innegehabte „Grenzgeschwindigkeit” ist durchweg nicht möglich. Angesichts ständig kurzfristig wechselnder Verkehrsgeschehnisse und der Beschleunigungskraft moderner Pkw kann es durchaus sein – und entspricht im Übrigen auch täglicher Praxiserfahrung -, dass die eigene Geschwindigkeit etwa wegen Spurwechsels oder Herauslassens eines langsameren (z.B. auf einen Lkw aufschließenden) Fahrzeugs deutlich reduziert und dann wenige Sekunden später wieder stark erhöht wird. Sollte dies - was kaum jemals feststellbar sein dürfte, weil es eine weitere, „vorgeschaltete” Messstelle erfordern würde - der Fall gewesen sein und der Kraftfahrer infolgedessen das (im Frankfurter Fall) Z. „80” bzw. (im vorliegenden Fall) „100” deutlich unterhalb der „Grenzgeschwindigkeit” passiert und übersehen haben, so hätte auch die Erfüllung einer erst nach dem Übersehen einsetzenden Pflicht zu erhöhter Aufmerksamkeit das bereits Geschehene nicht mehr verhindern können.
Aber auch wer die erlaubte Höchstgeschwindigkeit tatsächlich „ausnutzt” (oder gar überschreitet), kann durchaus im Einzelfall ein Verkehrszeichen übersehen, ohne dass ihm insoweit mehr als einfache Fahrlässigkeit vorzuwerfen wäre. Gegenteiliges ist auch nicht der vom OLG Frankfurt - insoweit unzutreffend - zitierten Entscheidung des BGH (a.a.O. S. 252 = NZV 97, 525 f.) zu entnehmen (der übrigens ein ähnlich gelagerter Fall zugrunde lag). Dort wird zwar angesprochen, dass einer Überschreitung der ohnehin geltenden Höchstgeschwindigkeit bei der Beurteilung, ob die Fehlleistung ihrerseits auf grober Nachlässigkeit oder Gleichgültigkeit beruht, Bedeutung zukommen kann. Die Entscheidung lässt aber offen, unter welchen Voraussetzungen der - nicht ohne weiteres zwingende - Schluss auf grobe Pflichtwidrigkeit gezogen werden kann.
zu cc) Allerdings kann die Überschreitung der (gesetzlichen oder vom Betr. angenommenen) Höchstgeschwindigkeit Anlass für die - vom Tatrichter hier rechtsfehlerhaft unterlassene - Prüfung sein, ob dem Betr. Gleichgültigkeit vorzuwerfen ist. Dies gilt hier um so mehr, als die Annahme eines bewussten Fehlverhaltens insoweit nicht fernliegend wäre (s. unten 2. cc). In Verbindung mit weiteren ungünstigen Tatumständen - beispielhaft sei auf schlechte Fahrbahn- oder Witterungsverhältnisse hingewiesen - und/oder täterbezogenen Indizien wie verkehrsrechtliche Vorbelastungen und/oder laufende Bußgeldverfahren wegen grob pflichtwidriger Verkehrsverstöße könnte sich das Bild des Führers eines Kfz ergeben, dem die Regeln des Straßenverkehrs und die Interessen anderer Teilnehmer gleichgültig sind.
b) Rechtsfehlerhaft sind auch die Urteilsausführungen, mit denen eine beharrliche Pflichtverletzung (§ 25 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 StVG) verneint wird.
aa) Zwar liegt ein Regelfall des § 4 Abs. 2 Satz 2 BKatV, der die Verhängung eines einmonatigen Fahrverbots indizieren würde, hier nicht vor:
(1) Der Betr. hat die Tat nicht innerhalb eines Jahres seit Rechtskraft der Entscheidung, durch die gegen ihn wegen einer am 14. 10. 2001 begangenen Geschwindigkeitsüberschreitung von 102 km/h eine Geldbuße von 600 € und zwei Monate Fahrverbot verhängt worden waren, begangen. Nach den Urteilsfeststellungen war diese Entscheidung am 30. 4. 2002 rechtskräftig geworden. Da § 42 StPO, wonach der Tag nicht mitgerechnet wird, auf den das Ereignis fällt, nach dem der Anfang der Frist sich richten soll, nur für prozessuale Fristen gilt, beginnt die Jahresfrist des § 4 Abs. 2 Satz 2 BKatV - wie die mit Rechtskraft des Bewährungsbeschlusses beginnende Bewährungszeit (§ 56a Abs. 2 Satz 1 StGB) und die mit Tatbeendigung beginnende Verfolgungsverjährungsfrist (§ 78a Satz 1 StGB) - am Tag der Rechtskraft der früheren Entscheidung. Sie endete mithin bereits am 29. 4. 2003. Die neue Tat wurde jedoch erst am folgenden Tag begangen.
(2) Da ein Regelfall des § 4 Abs. 2 Satz 2 StVG schon aus diesem Grund ausscheidet, kommt es hier nicht darauf an, ob die Grundsätze, die der BGH in seiner Entscheidung
vom 11. 9. 1997 (BGHSt 43, 241) zum Augenblicksversagen bei den in § 4 Abs. 1 Nr. 1 BKatV erfassten groben Pflichtverletzungen entwickelt hat, auch für Fälle beharrlicher Pflichtwidrigkeiten gelten (so OLG Hamm VRS 97, 449; OLG Braunschweig DAR 1999, 273; BayObLG NZV 2001, 46; OLG Köln NZV 2001, 442; NStZ-RR 2003, 154; OLG Karlsruhe NZV 2004, 211) oder ob das, wovon der Senat (im Anschluss an BGHSt 38, 231) in ständiger Rspr. ausgeht, nicht der Fall ist (NStZ-RR 2004, 58; zuletzt Beschlüsse 1 Ss 13/04 vom 5. 2.2004 sowie 1 Ss 31/04 vom 16. 2. 2004). Denn selbst nach der erstgenannten Auffassung entfällt bei wiederholten Pflichtverstößen lediglich die Indizwirkung des Regelbeispiels, wenn die abzuurteilende Verkehrsordnungswidrigkeit nicht ausschließbar auf ein Augenblicksversagen zurückzuführen ist (OLG Köln NZV 2001, 442; OLG Braunschweig a.a.O.).
bb) Das Entfallen des Regelbeispiels - auch wegen Augenblicksversagens (OLG Köln a.a.O.) - schließt aber ein allein auf § 25 Abs. 1 Satz 1 StVG gestütztes Fahrverbot nicht zwangsläufig aus:
Unter den Begriff der beharrlichen Pflichtverletzung fallen solche Verkehrsverstöße, die nach ihrer Art und den Umständen ihrer Begehung für sich allein betrachtet zwar nicht bereits zu den objektiv und subjektiv groben Zuwiderhandlungen zählen, durch deren wiederholte Begehung in kurzer Zeit der Fahrer jedoch zu erkennen gibt, dass es ihm an der für die Teilnahme am Straßenverkehr erforderlichen rechtstreuen Gesinnung und der notwendigen Einsicht in zuvor begangenes Unrecht fehlt (BGHSt 38, 231, 234). Die wiederholte Begehung erheblicher Verkehrsverstöße innerhalb relativ kurzer Zeit ist Ausdruck dafür, dass der Kraftfahrer ein erhöhtes Maß an Gleichgültigkeit an den Tag legt, die Chance zur Besinnung nicht ergriffen hat und dass der erzieherische Erfolg daher auch mit einer wesentlich höheren Geldbuße nicht erreichbar ist (BGH a.a.O.).
Bei Fehlen der Voraussetzungen des § 4 Abs. 2 Satz 2 BKatV bedarf es allerdings näherer Feststellungen und einer Gesamtabwägung (OLG Karlsruhe a.a.O.; OLG Köln a.a.O.). Nur wenn die Beharrlichkeit der Pflichtverletzung von ähnlich starkem Gewicht ist wie im Regelfall des § 4 Abs. 2 Satz 2 BKatV entspricht die Anordnung des Fahrverbots dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (BayObLG VRS 106, 394 m.w.Nachw.).
cc) Das AG hat die danach erforderliche Prüfung, ob der vom Betr. begangene Verkehrsverstoß von ähnlich starkem Gewicht wie der Regelfall des § 4 Abs. 2 Satz 2 BKatV ist, nicht rechtsfehlerfrei vorgenommen. Es fehlt nicht nur an der erforderlichen Gesamtabwägung, sondern bereits an ausreichenden Feststellungen zu allen in die Gesamtabwägung einzubeziehenden Umständen.
Schon aus der Überschreitung der in vorgenannter Bestimmung enthaltenen Jahresfrist um nur einen Tag ergibt sich, dass die Voraussetzungen des Regelfalles fast erreicht sind (s. dazu BayObLG a.a.O.). Die Höhe der vorangegangenen Geschwindigkeitsüberschreitung lag dabei mit 102 km/h sogar weit jenseits des in § 4 Abs. 2 Satz 2 BKatV genannten Grenzwerts von 26 km/h. Davon ausgehend hätte das AG sich näher mit der weiteren Eintragung im Verkehrszentralregister des Betr. auseinandersetzen müssen. In den Urteilsfeststellungen ist neben der vorgenannten gravierenden Geschwindigkeitsüberschreitung erwähnt, dass gegen ihn außerdem „wegen eines Verstoßes gegen den Mindestabstand, begangen am 21. 1. 2003, eine Geldbuße von 100 € verhängt” und dass diese Vorbelastung am 30. 6. 2003, mithin erst nach Begehung der hier vorliegenden Tat, rechtskräftig wurde. Auch Abstandsunterschreitungen können den Vorwurf beharrlicher Pflichtverletzung bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung rechtfertigen, weil zwischen Abstands und Geschwindigkeitsverstößen ein innerer Zusammenhang besteht (BayObLG DAR 2000, 278; Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 37. Aufl., § 25 StVG Rdn. 15 m.w.Nachw.). Ähnllich wie bei gravierenden Geschwindigkeitsverstößen lassen sie den Schluss zu, dass es dem Betr. an rechtstreuer Gesinnung fehlt und es ihm vor allem darum geht, möglichst rasch voranzukommen. Darüber, wie gravierend die Abstandsunterschreitung war, wann der Bußgeldbescheid erlassen wurde und wann er dem Betr. zuging, enthält das Urteil aber keine Feststellungen. Der Senat kann deshalb nicht beurteilen, ob es sich um einen erheblichen Verkehrsverstoß gehandelt hat und ob der Betr. noch vor Begehung der Tat vom 30. 4. 2003 durch Zustellung eines Bußgeldbescheids (der nach Angaben der Staatsanwaltschaft in ihrer Rechtsbeschwerdebegründungsschrift am 11. 4. 2003 erlassen worden und durch den neben der Geldbuße ein einmonatiges Fahrverbot verhängt worden sein soll) nochmals eindringlich vorgewarnt war (vgl. dazu BayObLG VRS 98, 33; NZV 1996, 370). Der Rechtsfolgenausspruch unterliegt deshalb auch wegen lückenhafter Feststellungen der Aufhebung.
Innerhalb der erforderlichen Gesamtabwägung hat das AG rechtsfehlerhaft auch nicht berücksichtigt, dass der Betr. außerdem die ohne das Vorschriftzeichen „100” maßgebliche Höchstgeschwindigkeit von 130 km/h, derer er sich nach eigenen Angaben bewusst war, um 11 km/h überschritten hat (vgl. OLG Karlsruhe a.a.O.; OLG Köln a.a.O.). Die Prüfung der „beharrlichen” Pflichtwidrigkeit darf und muss das sonstige Fahrverhalten des Betr., soweit es Rückschlüsse auf mangelnde rechtstreue Gesinnung zulässt, einbeziehen. Der im Urteil wiedergegebenen Einlassung kann nicht entnommen werden, ob der Betr. den Tempomaten seines Fahrzeugs bewusst zu hoch eingestellt hatte (und deshalb vorsätzlich 11 km/h zu schnell gefahren ist) oder – was allerdings wegen jederzeitiger Korrekturmöglichkeit schwer vorstellbar erscheint – versehentlich. Selbst wenn Letzteres der Fall wäre, bliebe dem Betr. hinsichtlich der Überschreitung der ohne das übersehene Vorschriftzeichen bestehenden Höchstgeschwindigkeit jedenfalls Fahrlässigkeit anzulasten. Auch wenn es sich insoweit nicht um eine so erhebliche Geschwindigkeitsüberschreitung gehandelt hat, dass sie schon für sich genommen auf Gleichgültigkeit und mangelnde Rechtstreue schließen ließe, kann ein solches Verhalten aber zumindest im Rahmen einer Gesamtwürdigung zusammen mit anderen Umständen doch Indiz für eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber Geschwindigkeitsbegrenzungen und deshalb für die Beurteilung der rechtstreuen Gesinnung des Betr. von Bedeutung sein.
Aus der bloßen Erklärung des Betr., seit Erhalt des früheren Fahrverbots durch ständige Nutzung des Tempomaten um Einhaltung der Geschwindigkeitsbegrenzungen bemüht zu sein, hat das AG ohne weiteres geschlossen, dass es dem Betr. nicht an rechtstreuer Gesinnung und Einsicht, sondern nur an mangelnder Aufmerksamkeit gefehlt habe (UA S. 5). Dieser Schluss wäre nur gerechtfertigt gewesen, wenn er den Tempomaten seither stets sorgfältig eingestellt und sich strikt an die Einhaltung der Sicherheitsabstände gehalten hätte.
c) Ungeachtet des bisher aufgezeigten Mangels leidet der Rechtsfolgenausspruch des amtsgerichtlichen Urteils auch an einem Rechtsfehler zu Ungunsten des Betr..
Läge, wovon das AG ausgeht, weder ein grober noch ein beharrlicher Verstoß des Betr. gegen die Pflichten eines Kraftfahrzeugführers vor, so entfielen damit nicht nur die Fahrverbotsvoraussetzungen gem. § 25 Abs. 1 Satz 1 StVG. Ausgeschlossen wäre dann auch die Anwendung des im Urteil herangezogenen § 2 Abs. 4 BKatV, weil dieser eine angemessene Erhöhung der Regelgeldbuße nur anstelle eines grundsätzlich verwirkten Fahrverbots vorsieht (Senatsbeschluss 1 Ss 73/02 vom 4. 6. 2002). Von der Möglichkeit, die Regelgeldbuße – mit oder ohne Fahrverbot – deshalb angemessen zu erhöhen, weil der Betr. kein Ersttäter ist, hat das AG hingegen keinen Gebrauch gemacht.
d) Das AG ist zudem rechtsfehlerhaft davon ausgegangen, dass ein Fahrverbot hier eine „unverhältnismäßige Härte” darstelle. Nach ständiger Senatsrechtsprechung können aber nur ganz besondere, außergewöhnliche Umstände es ausnahmsweise vertretbar erscheinen lassen, von der Verhängung eines verwirkten Fahrverbots abzusehen (Beschlüsse 1 Ss 107/04 vom 24. 5. 2004, 1 Ss 27/04 vom 22. 4. 2004, 1 Ss 13/04 vom 5. 2. 2004; 2. Strafsenat, Beschluss 2 Ss 154/04 vom 7. 6. 2004; s.a. OLG Frankfurt NStZ-RR 2002, 88 sogar bei drohender Existenzgefährdung eines in kurzer Zeit mehrfach auffällig gewordenen Betr.). Die vom AG angeführte „Befürchtung” des Betr., als wichtiger Außendienstmitarbeiter, „auf den sein Arbeitgeber auch nicht zeitweise verzichten könne, ... bei Verhängung eines Fahrverbots ersetzt” zu werden und im Falle des Arbeitsplatzverlustes „in eine große wirtschaftliche Krise zu stürzen” (UA S. 6), rechtfertigen das Absehen vom Fahrverbot nicht. Die geäußerte Befürchtung ist schon in sich widersprüchlich bzw. zumindest erläuterungsbedürftig, denn unverzichtbare Mitarbeiter werden üblicherweise nicht entlassen. Der Betr. hat schon einmal ein zweimonatiges Fahrverbot (den Angaben der Staatsanwaltschaft zufolge darüber hinaus auch ein weiteres einmonatiges Fahrverbot) überstanden. Gründe, warum dies nicht ein weiteres Mal ohne Arbeitsplatzverlust gelingen sollte, hat das AG nicht angeführt. Dies wäre um so mehr deshalb erforderlich gewesen, weil der Umstand, dass der Betr. es in kurzer Zeit mehrmals darauf ankommen ließ, sich ein Fahrverbot einzuhandeln, ein deutlicher Hinweis darauf ist, dass er selbst sein Arbeitsverhältnis in dieser Hinsicht als durchaus belastbar einschätzt. Eine Auseinandersetzung mit diesem Aspekt war auch nicht deshalb entbehrlich, weil dem Betr. als Wiederholungstäter die Regelung des § 25 Abs. 2a StVG nicht mehr zu Gute kommt. Ein einmonatiges Fahrverbot kann durch Inanspruchnahme des Jahresurlaubs und Einsatz dritter Personen überbrückt werden. Die Verfahrensdauer bis zur tatrichterlichen Entscheidung hat dem Betr. Gelegenheit geboten, hierfür ausreichende Urlaubsansprüche zu erlangen und bis zum Verfahrensabschluss aufzusparen. Im Übrigen dürfen Angaben des Betr. nach ständiger Senatsrechtsprechung keinesfalls ungeprüft übernommen werden (Beschlüsse 1 Ss 33/03 v. 20.2.2002 und 1 Ss 151/03 v. 1. 9. 93).