Das Verkehrslexikon
Kammergericht Berlin Beschluss vom 15.04.2005 - 2 Ss 56/05 - Zur Annahme von Vorsatz bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung voin mehr als 50%
KG Berlin v. 15.04.2005: Zur Annahme von Vorsatz bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung voin mehr als 50%
Das Kammergericht Berlin (Beschluss vom 15.04.2005 - 2 Ss 56/05) hat entschieden:
- Bei Überschreitung der erlaubten Höchstgeschwindigkeit um mehr als 50% ist regelmäßig Vorsatz anzunehmen.
- Ist eine Geschwindigkeitsbeschränkung aus Lärmschutzgründen angeordnet und nicht zur Sicherung der Verkehrssicherheit, dann kommt ein Absehen vom Regelfahrverbot nicht deshalb in Betracht, weil der Verstoß nachts zu verkehrsarmer Zeit begangen wurde.
Siehe auch Stichwörter zum Thema Fahrverbot
Zum Sachverhalt: Der Betr. wurde von AG wegen fahrlässiger Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit um 33 km/h zu einer Geldbuße von 150 Euro verurteilt. Dem Betr. wurde fehlende Vorbelastung sowie eine Regelung zu verkehrsarmer Nachtzeit zu Gute gehalten, so dass von einem Fahrverbot abgesehen wurde. Die hiergegen gerichtete Rechtsbeschwerde der Amtsanwaltschaft war erfolgreich.
Aus den Entscheidungsgründen:
"... 1. Soweit das AG dem Betr. lediglich fahrlässiges Handeln zur Last legt, hält dies rechtlicher Prüfung nicht stand, denn es fehlt an jeglicher Erörterung, aus welchen Gründen bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung von 55% kein Vorsatz in Betracht kommt. Wer die ihm bekannte erlaubte Höchstgeschwindigkeit deutlich über-schreitet, handelt - jedenfalls bei Überschreitung von mehr als 50% (vgl. Senat, Beschlüsse v. . 3. 2005 - 3 Ws (B) 551/04 -, 21. 4. 2004 - 3 Ws (B) 158/04 - und 17. 4. 2002 - 3 Ws (B) 118/02) regelmäßig vorsätzlich, weil einem Fahrzeugführer die hohe Geschwindigkeitsüberschreitung aufgrund der vorbeiziehenden Umgebung sowie der Fahrgeräusche bewusst wird.
Um noch von fahrlässigem Handeln auszugehen, hätte es da-her der Darlegung besonderer Umstände bedurft, die dem Urteil jedoch nicht zu entnehmen sind (vgl. Senat, VRS 107, 316). Auf die genaue Kenntnis der Höhe der Geschwindigkeitsüberschreitung kommt es für eine vorsätzliche Begehungsweise dagegen nicht an (vgl. Senat, Beschlüsse v. 6. 11. 2000 - 3 Ws (B) 536/00 - und 13. 9. 1999 - 3 Ws (B) 462/99). Die in dem Urteil enthaltene Formulierung, der Betr. habe sich einer "zumindest fahrlässigen Verkehrsordnungswidrigkeit" schuldig gemacht, lässt besorgen, dass der Tatrichter hinsichtlich des in Betracht kommenden und sich aufdrängenden vorsätzlichen Handelns eine Prüfung überhaupt nicht vorgenommen hat (vgl. Senat; Beschl. v. 23. 9. 2003 - 3 Ws (B) 435/03).
2. Überdies ist der Rechtsfolgenausspruch auch unter Zugrundelegung fahrlässigen Handelns des Betroffenen gleich-falls nicht rechtsfehlerfrei.
Der Tatbestand des § 4 I Nr. 1 BKatV i. V. m. der Tabelle 1 Buchst. c lfd. Nr. 11.3.6 des Anhangs zur Anlage zu § 1 I BKatV ist bei der vorliegenden Geschwindigkeitsüberschreitung von 33 km/h erfüllt. Dies indiziert das Vorliegen eines groben Verstoßes im Sinne von § 25 I 1 StVG, der zugleich ein derart hohes Maß an Verantwortungslosigkeit im Straßenverkehr offenbart, dass es regelmäßig der Denkzettel- und Besinnungsmaßnahme eines Fahrverbots bedarf (vgl. BGHSt 43, 241 [247] und 38, 125 [134] ).
In solchen Fällen kann die Anwendung der Regelbeispielstechnik des Bußgeldkatalogs nur dann unangemessen sein, wenn der Sachverhalt zugunsten des Betr. so erheblich ab-weicht, dass er als Ausnahme zu werten ist. Dem tatrichterlichen Beurteilungsspielraum sind jedoch der Gleichbehandlung und der Rechtssicherheit wegen enge Grenzen gesetzt, und seine Feststellungen müssen die Annahme eines Ausnahmefalles nachvollziehbar erscheinen lassen (vgl. Senat, Beschl. v. 22. 9. 2004 - 3 Ws (B) 418/04 m.w. Nachw.). Das ist hier nicht der Fall.
Fehlende Vorbelastungen des Betr. entsprechen dem Durchschnittsfall, denn der Bußgeldkatalog geht bei den von ihm vorgesehenen Regelfolgen von einem unvorbelasteten Ersttäter aus (vgl. § 1 II KatV). Der Umstand, dass der Verstoß zu „verkehrsarmer Nachtzeit begangen” wurde, kann gleichfalls keine Besonderheit begründen, die ein Abweichen vom Regelfahrverbot wegen des Vorliegens eines Ausnahmefalles recht-fertigen könnte. Denn vorliegend ist, wie das Urteil feststellt, die Geschwindigkeitsbeschränkung aus Lärmschutzgründen angeordnet worden, also nicht aus Gründen der allgemeinen Verkehrssicherheit. Auf die Verkehrsdichte zum Tatzeitpunkt kann es daher bei der Prüfung der Erforderlichkeit eines Fahrverbotes nicht ankommen. Ein Ausnahmefall, der das Absehen von einem in der Regel vorgesehenen Fahrverbot begründen könnte, kann aber nicht damit begründet werden, dass die Verkehrsbeschränkung aus Gründen des Lärmschutzes nach § 45 1 2 Nr. 3 StVO angeordnet wurde. Das Schutzgut der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Sinne des § 45 I StVO, insbesondere soweit die Vorschrift den Schutz der Wohnbevölkerung vor Lärm und Abgasen herausstellt, um-fasst Grundrechte wie körperliche Unversehrtheit (Art. 2 II GG) und Eigentum (Art. 14 1 GG) sowie bereits im Vorfeld dieser Grundrechte den Schutz vor Einwirkungen des Straßenverkehrs, die das nach allgemeiner Anschauung zumutbare Maß übersteigen. Der hohe Rang, den das verfassungsrechtlich geschützte Rechtsgut der psychischen und physischen Gesundheit der Bevölkerung besitzt, lässt es daher grundsätzlich nicht zu, einen Geschwindigkeitsverstoß allein deshalb geringer zu gewichten, weil die missachtete Verkehrsbeschränkung „nur” aus Gründen des Lärmschutzes angeordnet wurde (vgl. BayObLG, VRS 87, 372; OLG Karlsruhe, NJW 2004, 1749; OLG Schleswig, SchlHA 2003, 212; Senat, Beschl. v. 25. 5. 1998 - 3 Ws (B) 225/98).
Dass der Betr. „geständig” war, hebt den Sachverhalt - worauf die Amtsanwaltschaft Berlin in der Rechtsbeschwerdebegründung zutreffend hinweist - gleichfalls nicht vom Durchschnitt vergleichbarer Fälle wesentlich ab.
Allein das berufliche Angewiesensein auf eine Fahrerlaubnis rechtfertigt ein Absehen von der Auferlegung eines Fahrverbots gleich-falls nicht (vgl. Senat, Beschlüsse v. 22. 9. 2004 - 3 Ws (B) 418/04 - und 20. 2. 2004 3 Ws (B) 574/03). Ausnahmen davon können nur gemacht werden, wenn dem Betr. infolge des Fahrverbots Arbeitsplatz- oder sonstiger wirtschaftlicher Existenzverlust droht und diese Konsequenz nicht durch zumutbare Vorkehrungen abgewendet oder vermieden werden kann (Senat, Beschl. v. 17. 4. 2002 - 3 Ws (B) 118/02 -; OLG Düsseldorf VRS 96, 228 [230]; Hentschel, Straßenverkehrsrecht 37. Aufl., § 25 StVG Rdnr. 25 m. w. Nachw.). Dafür ergeben die bezüglich des Rechtsfolgenausspruchs äußerst knappen, lediglich zwei Sätze umfassenden Urteilsgründe keinen ausreichenden Anhalt. Denn auch wenn der Betr. Schichtarbeiter ist, bedeutet dies nicht, dass er während der Dauer des Fahrverbots ständig seinen Arbeitsplatz zur Nachtzeit zu erreichen hätte und ihm deshalb durchweg keine, öffentlichen Verkehrsmittel zur Verfügung stünden. Zu den zumutbaren Vorkehrungen, um den drohenden Verlust des Arbeitsplatzes abzuwenden, kann auch die Benutzung eines Taxis gehören, notfalls - falls die eigenen finanziellen Mittel nicht ausreichen - auch unter Aufnahme eines Kredits. ..."