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OLG Braunschweig Beschluss vom 15.03.1999 - 2 Ss (B) 5/99 - Zum Augenblicksversagen trotz beharrlicher Pflichtverletzung

OLG Braunschweig v. 15.03.1999: Zum Augenblicksversagen trotz beharrlicher Pflichtverletzung


Das OLG Braunschweig (Beschluss vom 15.03.1999 - 2 Ss (B) 5/99) hat entschieden:
  1. Die Grundsätze, die der BGH zum Augenblicksversagen bei "groben" Pflichtwidrigkeiten entwickelt hat (DAR 1997, 450), gelten entsprechend auch für Fälle "beharrlicher" Pflichtwidrigkeiten, da die Grundkonstellationen in beiden Fallgruppen einander entsprechen.

  2. Eine "beharrliche" Pflichtwidrigkeit kann daher, in Anlehnung an die Rechtsprechung des BGH zur "groben" Pflichtwidrigkeit, nicht angenommen werden, wenn der Verkehrsverstoß auf ein Augenblicksversagen zurückgeht, das auch ein sorgfältiger und pflichtbewusster Kraftfahrer nicht immer vermeiden kann, so dass auch hier bereits der Tatbestand der Pflichtwidrigkeit entfällt. Etwas anderes gilt nur dann, wenn Begleitumstände vorliegen, welche die besondere Aufmerksamkeit des Fahrers hervorrufen müssen, wie z. B. Geschwindigkeitstrichter, Baustelle oder eine geschlossene Ortschaft.

  3. Im Falle des Augenblicksversagens ist es allein entscheidend, dass die subjektive Vorwerfbarkeit der Ordnungswidrigkeit besonders gering ist; nicht entscheidend ist es hingegen, wie deutlich der objektive Tatbestand des jeweiligen Merkmals erfüllt ist, d. h. wie viele Wiederholungen beim Regelfall der "beharrlichen" Pflichtwidrigkeit vorliegen.

Siehe auch Fahrverbot und sog. Augenblicksversagen


Gründe

I.

Im Verfahren über den rechtzeitigen Einspruch des Betroffenen gegen den Bußgeldbescheid des Landkreises Göttingen vom 27.11.1997 hat das Amtsgericht Göttingen durch den angefochtenen Beschluss gegen den Betroffenen eine Geldbuße von 180,00 DM und ein Fahrverbot von einem Monat Dauer (unter Berücksichtigung der Regel des § 25 Abs.2 a StVG) wegen fahrlässiger Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit festgesetzt.

Das Amtsgericht hat festgestellt: Der Betroffene befuhr am Steuer seines Pkw am Vormittag des 24.09.1997 die Bundesautobahn A 7 bei km 275,896 in nördlicher Richtung mit einer Geschwindigkeit von 136 km/h (netto), obwohl die zulässige Höchstgeschwindigkeit durch Zeichen 274 auf 100 km/h beschränkt war. Vor der Messstelle hatte der Betroffene eine Baustelle durchfahren, in welcher die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf 80 km/h begrenzt war. Diese Begrenzung war am Ende der Baustelle durch Verkehrszeichen 282 aufgehoben worden. 600 m nach dem Ende der Baustelle fand sich das eingangs genannte Zeichen 274, das die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf 100 km/h beschränkte; das Zeichen war nur einmal, jedoch auf beiden Seiten der Fahrbahn, aufgestellt. Der Betroffene hätte das Zeichen 274 sehen können.

Im Verkehrszentralregister sind für den Betroffenen zwei Voreintragungen verzeichnet. Durch einen seit dem 11.05.1996 rechtskräftigen Bußgeldbescheid wurde gegen ihn eine Geldbuße von 100,00 DM wegen Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit um 22 km/h verhängt; durch einen am 31.12.1996 rechtskräftig gewordenen Bußgeldbescheid wurde gegen ihn eine Geldbuße von 150,00 DM wegen Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit um 32 km/h festgesetzt.

Der Betroffene hat nicht bestritten, das Fahrzeug am Vorfallsort zur Vorfallszeit gesteuert zu haben, hat aber geltend gemacht, er habe nach der Aufhebung der Geschwindigkeitsbeschränkung auf 80 km/h die die neue Geschwindigkeitsbegrenzung auf 100 km/h anordnenden Zeichen schlicht übersehen. Das Amtsgericht hat diese Einlassung nicht zum Anlass genommen, von der Verhängung eines Fahrverbots abzusehen und dazu als Begründung angeführt: "Der Umstand, dass dem Betroffenen lediglich Fahrlässigkeit vorzuwerfen ist, steht der Anordnung des Fahrverbots nicht entgegen. Für ein ausnahmsweises Absehen vom Fahrverbot nach § 2 Abs.4 BKatV sieht das Gericht keinen Anlass".

Der Betroffene hat gegen den Beschluss vom 20.11.1998 das Rechtsmittel der Rechtsbeschwerde form- und fristgerecht eingelegt und begründet. Er erhebt die Sachrüge allgemein und macht insbesondere geltend, dass das Amtsgericht kein Fahrverbot hätte verhängen dürfen, weil ein Fall des "Augenblicksversagens" vorliege, wie der Bundesgerichtshof es im Zusammenhang mit einer "groben" Pflichtverletzung i.S.d. §§ 25 Abs.1 S.1 StVG, 2 Abs.2 BKatV erörtert habe. Der Betroffene beantragt, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und die Sache an das Amtsgericht zurückzuverweisen. Die Generalstaatsanwaltschaft unterstützt die Ausführungen des Betroffenen zum Fahrverbot und beantragt, unter Verwerfung der weitergehenden Rechtsbeschwerde das Fahrverbot entfallen zu lassen.


II.

Die Rechtsbeschwerde ist nach § 79 Abs.1 S.1 Nr.2 OWiG statthaft und sie ist auch im übrigen zulässig. Die Rechtsbeschwerde ist unbegründet, soweit sie sich gegen den Schuldspruch und die Höhe des Bußgeldes wendet; sie hat jedoch hinsichtlich des angeordneten Fahrverbots Erfolg.

1. Die vom Amtsgericht getroffenen Feststellungen tragen den Schuldspruch wegen fahrlässiger Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaft um 36 km/h. Der angefochtene Beschluss enthält die nach BGHSt 39, 291 ff notwendigen Mindestangaben, indem er die als grundsätzlich zuverlässig anerkannte Messmethode der Mehrfach-Lichtschrankenmessung und den (bei Geschwindigkeiten über 100 km/h korrekten) Toleranzabschlag von 3 % (entsprechend hier 5 km/h) mitteilt. Mangels konkreter Zweifelspunkte brauchte die Zuverlässigkeit der Messung nicht näher begründet zu werden.

Die Höhe des Bußgeldes ist nicht zu beanstanden. Die Regelbuße beträgt zwar vorliegend nach lfd. Nr. 5.3.3 der Tabelle 1.a. des Anhangs zum Bußgeldkatalog nur 150,00 DM; eine Erhöhung ist jedoch wegen der Voreintragungen gerechtfertigt (arg. § 1 Abs.2 S.2 BKatV).

2.Die amtsgerichtlichen Feststellungen rechtfertigen nicht die Anordnung des Fahrverbots, weil dem Betroffenen keine "beharrliche" Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers im Rechtssinne anzulasten ist.

a. Alleinige Rechtsgrundlage für die Anordnung eines Fahrverbots wegen einer Verkehrsordnungswidrigkeit ist auch bei Taten, bei denen diese Rechtsfolge nach § 2 Abs.2 BKatV "in der Regel in Betracht kommt" die Vorschrift des § 25 Abs.1 S.1 StVG (BGHSt 38, 125, 127). Im vorliegenden Falle sind zwar die äußeren Merkmale eines Regelfalles nach § 2 Abs.2 S.2 BKatV erfüllt, weil gegen den Betroffenen wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung von 32 km/h eine Geldbuße rechtskräftig festgesetzt worden ist und er etwa neun Monate nach Rechtskraft der Entscheidung eine Geschwindigkeitsüberschreitung von 36 km/h begangen hat. Die Erfüllung dieses Tatbestandes indiziert grundsätzlich das Vorliegen eines beharrlichen Verstoßes i.S.d. § 25 Abs.1 S.1 StVG. Diese Vorbewertung des Verordnungsgebers bindet auch die Gerichte, so dass für die Prüfung, ob trotz Vorliegens der Voraussetzungen des § 2 Abs.2 S.2 BKatV eine beharrliche Pflichtverletzung im Einzelfalle ausnahmsweise zu verneinen ist, nur noch in begrenztem Maße Raum bleibt. Eine Ausnahme in diesem Sinne ist vorliegend jedoch gegeben, weil der gegen den Betroffenen zu erhebende Fahrlässigkeitsvorwurf wegen eines bloßen "Augenblicksversagens" in der konkreten Situation besonders gering war.

b. Die Grundsätze, die der Bundesgerichtshof zum "Augenblicksversagen" bei "groben" Pflichtwidrigkeiten entwickelt hat (BGH NJW 1997, 3253 ff = BGHSt 43,241 ff), gelten entsprechend für die Fälle "beharrlicher" Pflichtwidrigkeiten, da die Grundkonstellationen in beiden Fallgruppen einander entsprechen. Bei den Merkmalen "grob" und "beharrlich" i.S.d. §§ 25 Abs. 1 S. 1 StVG, 2 Abs.1 u. 2 BKatV ist jeweils nach objektivem und subjektivem Tatbestand zu differenzieren. Die Merkmale unterscheiden sich zwar deutlich im objektiven Tatbestand, entsprechen sich aber weitgehend im subjektiven Tatbestand, welcher für das Gewicht des Schuldvorwurfs ausschlaggebend ist (BGH, a.a.O., S.3253).

Die "grobe" Pflichtwidrigkeit ist in ihrem objektiven Teil u.a. (neben qualifizierten Rotlichtverstößen pp.) durch besonders hohe Geschwindigkeitsüberschreitungen gekennzeichnet, während bei einer "beharrlichen" Pflichtwidrigkeit nur eine mittlere Geschwindigkeitsüberschreitung vorliegen muss, deren Gewicht aber durch die Wiederholung geprägt wird; aufgrund dieser Wiederholung ist sie nach der Vorbewertung durch den Verordnungsgeber im Gewicht der besonders hohen, aber einmaligen Geschwindigkeitsüberschreitung gleich zu achten.

Der subjektive Tatbestand der in dem Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 11.09.1997 (NJW 1997, 3252 ff = BGHSt 43, 241 ff) ausdrücklich behandelten "groben" Pflichtwidrigkeit erfordert ein besonders verantwortungsloses Handeln, welches anzunehmen ist, wenn die Zuwiderhandlung auf groben Leichtsinn, grobe Nachlässigkeit oder auf Gleichgültigkeit zurückgeht (BVerfG DAR 1996, 196, 197; BGH NJW 1997, 3252, 3253). Es muss mithin eine über die konkrete Schuld im Einzelfall hinausweisende gemeinschaftsschädliche Grundhaltung des Betroffenen vorliegen. Wenn es an diesem subjektiven Merkmal fehlt, ist der Tatbestand der "groben" Pflichtverletzung nicht erfüllt (BGH, a.a.O., S.3253, linke Spalte). Das subjektive Merkmal ist regelmäßig dann nicht gegeben, wenn ein Kraftfahrzeugführer aufgrund nur einfacher Fahrlässigkeit, die auch bei einem sorgfältigen pflichtbewussten Verkehrsteilnehmer vorkommen kann, ein die Höchstgeschwindigkeit begrenzendes Verkehrszeichen schlicht übersehen hat (BGH, a.a.O.).

Der subjektive Tatbestand der "beharrlichen" Pflichtwidrigkeit erfordert ein Handeln des Täters, das auf einem Mangel an rechtstreuer Gesinnung beruht (BGHSt 38, 231, 234; ebenso Jagusch/Hentschel, StrVerkR, 35. Aufl., § 25 StVG, Rdnr.15, m. w .Rspr. Nw.). Auch hier muss also eine gemeinschaftsschädliche Grundhaltung vorliegen. Diese kann aber in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur "groben" Pflichtwidrigkeit nicht angenommen werden, wenn der Verkehrsverstoß auf ein Augenblicksversagen zurückgeht, das auch ein sorgfältiger und pflichtbewusster Kraftfahrer nicht immer vermeiden kann, so dass auch hier bereits der (subjektive und damit letztlich der gesamte) Tatbestand der Pflichtwidrigkeit entfällt. Etwas anderes gilt (wie auch im Fall der "groben" Pflichtwidrigkeit, s. BGH NJW 1997, 3252, 3254) nur dann, wenn Begleitumstände vorliegen, welche die besondere Aufmerksamkeit des Fahrers hervorrufen müssen wie z.B. ein Geschwindigkeitstrichter, eine Baustelle oder eine geschlossene Ortslage.

Zum gleichen Ergebnis kommt das Bayerische Oberste Landesgericht mit ähnlicher Argumentation in einem Beschluss vom 27.02.1998 (NZV 1998, 255), ohne ausdrücklich auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum Augenblicksversagen zu verweisen. Trotz zweier Überschreitungen der zulässigen Höchstgeschwindigkeit um jeweils 28 km/h in kurzer zeitlicher Folge hat das Gericht keine "Beharrlichkeit" i.S.d. § 2 Abs.2 S.2 BKatV angenommen, weil der zweite Verstoß wegen unübersichtlicher Beschilderung "nur einen sehr geringen Schuldgehalt" aufwies und deshalb die Verhängung eines Fahrverbots "als unverhältnismäßig" erschien. Das hiermit angesprochene verfassungsmäßige Übermaßverbot ist einer der Gründe, die die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum Absehen vom Fahrverbot bei einem Augenblicksversagen in der Weise mittragen (NJW 1997, 3252, 3253, linke Spalte), dass sie zu einer restriktiven Auslegung des Begriffs der Pflichtverletzung führen.

c. Nach dem vorstehend Gesagten ist im vorliegenden Falle der subjektive Tatbestand des Merkmals der "Beharrlichkeit" nicht anzunehmen. Nach den Feststellungen des amtsgerichtlichen Beschlusses hat der Betroffene geltend gemacht, er habe das Zeichen 274 ("100 km/h") schlicht übersehen. Diese Einlassung hat das Amtsgericht als nicht widerlegbar zugrundegelegt. Es steht nämlich fest, dass das Schild nur einmal (wenn auch beidseitig) aufgestellt war; zusätzliche Umstände, die den Betroffenen zu erhöhter Aufmerksamkeit und dazu hätten anhalten müssen, mit einer Geschwindigkeitsbegrenzung zu rechnen, sind nicht ersichtlich. Im Gegenteil kam die Begrenzung für die Verkehrsteilnehmer eher überraschend, nachdem diese 600 m zuvor am Ende der Baustelle "freie Fahrt" erhalten hatten.

Auch der Umstand, dass der Betroffene nicht nur eine Voreintragung, sondern zwei Voreintragungen aufweist, ändert hier nichts daran, dass der subjektive Tatbestand der "Beharrlichkeit" nicht erfüllt ist. Im Falle eines Augenblicksversagen ist es allein entscheidend, dass die subjektive Vorwerfbarkeit der Ordnungswidrigkeit besonders gering ist; nicht entscheidend ist es hingegen, wie deutlich der objektive Tatbestand des jeweiligen Merkmals erfüllt ist, d.h. wie hoch beim Regelfall der "groben" Pflichtwidrigkeit die Geschwindigkeitsüberschreitung ausfällt (BGH NJW 1997, 2352, 2353 rechte Spalte) und nicht entscheidend ist demzufolge auch, wieviele Wiederholungen beim Regelfall der "beharrlichen" Pflichtwidrigkeit vorliegen. Eine ungewöhnlich hohe Zahl von Wiederholungen kann zwar für den Tatrichter Anlass sein, eine Berufung des Betroffenen auf ein Augenblicksversagen bei der konkreten Anlasstat besonders nachdrücklich zu hinterfragen und ggf. als Schutzbehauptung zu werten. Der vorliegende Fall legt eine solche Annahme aber noch nicht nahe.

Nach den Gesamtumständen ist nicht damit zu rechnen, dass der Tatrichter im Falle einer Zurückverweisung zusätzliche Umstände feststellen könnte. Der Senat kann deshalb nach § 79 Abs.6 OWiG abschließend dahin entscheiden, dass ein Fahrverbot nicht zu verhängen ist.


III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 46 Abs.1 OWiG i.V.m. § 473 Abs.4 StPO und trägt dem Umstand Rechnung, dass das Hauptinteresse des Betroffenen auf die Entscheidung der Fahrverbotsfrage gerichtet war.

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