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BayObLG Beschluss vom 04.09.1995 - 1 ObOWi 375/95 - Kein Fahrverbot bei Geschwindigkeitsmessung direkt hinter der Ortstafel
BayObLG v. 04.09.1995: Kein Fahrverbot bei Geschwindigkeitsmessung direkt hinter der Ortstafel
Das BayObLG (Beschluss vom 04.09.1995 - 1 ObOWi 375/95) hat entschieden:
Wird ein Geschwindigkeitsmessgerät entgegen den Richtlinien für die polizeiliche Verkehrsüberwachung unmittelbar nach der Ortstafel eingesetzt, so ist dies in der Regel ein besonderer Tatumstand, der die Annahme eines Ausnahmefalls von der Verhängung eines Fahrverbots rechtfertigen kann.
Siehe auch Geschwindigkeitsverstöße - Nachweis - standardisierte Messverfahren
Zum Sachverhalt:
Die nicht vorgeahndete Betr. überschritt mit einem Pkw in D. in Richtung Ortsmitte die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h um 35 km/h. Das AG verurteilte sie am 31. 3. 1995 wegen fahrlässigen Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit zu einer Geldbuße von 200 DM und verhängte ein Fahrverbot von einem Monat.
Aus den Entscheidungsgründen:
Das AG ist erkennbar von einem Regelfall nach § 1 Abs. 1 und 2 BKatV ausgegangen und hat im Hinblick auf die Höhe der festgestellten Geschwindigkeitsüberschreitung als Regelfolge der Verkehrsordnungswidrigkeit (§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BKatV i.V.m. Nr. 5.3 BKat und Nr. 5.3.3 der Tabelle 1 a des Anhangs) ein einmonatiges Fahrverbot verhängt. Die angefochtene Entscheidung begegnet jedoch rechtlichen Bedenken, weil der Tatrichter eine sich aus dem Urteil er-gebende naheliegende Möglichkeit eines besonderen Tatumstandes, nämlich eine den Richtlinien widersprechen-de Messung unmittelbar nach der Ortstafel, nicht geprüft und erörtert hat, vielmehr davon ausgegangen ist, dass es darauf nicht ankomme.
Die Ortstafel (Zeichen 310, 311) markiert Beginn und Ende der innerörtlichen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h, falls abweichende Verkehrsregelungen fehlen. Der Kraftfahrer muss daher seine Geschwindigkeit grundsätzlich so einrichten, dass er bereits am Passieren der Ortstafel die vorgeschriebene Geschwindigkeit ein-halten kann (OLG Stuttgart VRS 59, 251/253). Voraussetzung dafür ist, dass die Ortstafel nicht schwer (z. B. wegen der Orts- oder Lichtverhältnisse) erkennbar war, denn in aller Regel ist ein Kraftfahrer nicht zu einer Gewaltbremsung verpflichtet, um ab dem Ortsschild auf die zulässige Höchstgeschwindigkeit zu kommen. Feststellungen über die Erkennbarkeit der Ortstafel und die da-vor zulässige Höchstgeschwindigkeit hat das AG — ungeachtet der offengelassenen Möglichkeit einer Messung kurz nach der Tafel — nicht getroffen. Den möglichen Unwägbarkeiten bei der Einfahrt in eine Zone mit deutlich geringerer Höchstgeschwindigkeit wird dadurch Rechnung getragen, dass der Kraftfahrer mit einer gewissen Messtoleranz rechnen kann (OLG Hamm VR 56, 198/200; OLG Oldenburg NZV 1994, 286; vgl. auch OLG Oldenburg NZV 1995, 288); dies wird auch in den Richtlinien für die polizeiliche Verkehrsüberwachung des Bayerischen Staatsministeriums des Innern (wie auch in den Richtlinien anderer Länder) berücksichtigt. Nach deren Anlage 1 Nr. 3 sollen die Messstellen so angelegt sein, dass sie vom Beginn und Ende einer Geschwindigkeitsbeschränkung mindestens 200 Meter entfernt sind, falls nicht bestimmte Besonderheiten (Nr. 3.1 bis 3.4 der Anlage 1) vorliegen.
Die Richtlinien sind zwar innerdienstliche Vorschriften; sie sichern jedoch auch die Gleichbehandlung der Verkehrsteilnehmer in vergleichbaren Kontrollsituationen, indem sie für alle mit der Verkehrsüberwachung betrauten Beamten verbindlich sind (OLG Oldenburg NZV 1994, 286).
Die im Urteil mitgeteilte Einlassung der Betr., die Messstelle habe sich relativ kurz nach der Ortstafel befunden, hätte den Tatrichter veranlassen müssen, zu prüfen und im Urteil darzulegen, ob die Messstelle entsprechend den Richtlinien für die polizeiliche Verkehrsüberwachung angelegt worden war. Wird nämlich ein Geschwindigkeitsmessgerät entgegen den Richtlinien relativ kurz nach der Ortstafel eingesetzt, so ist dies in der Regel ein besonderer Tatumstand, der die Annahme eines Ausnahmefalls rechtfertigen kann, auch wenn die Messung selbst in ihrem Ergebnis korrekt war. ..."