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OLG Hamm Beschluss vom 06.09.2005 - 2 Ss OWi 512/05 - Zu den Anforderungen an die tatsächlichen Feststellungen bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung, die durch Messung durch Nachfahren festgestellt worden ist
OLG Hamm v. 06.09.2005: Zu den Anforderungen an die tatsächlichen Feststellungen bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung, die durch Messung durch Nachfahren festgestellt worden ist
Das OLG Hamm (Beschluss vom 06.09.2005 - 2 Ss OWi 512/05) hat entschieden:
- Zu den Anforderungen an die tatsächlichen Feststellungen bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung, die durch Messung durch Nachfahren festgestellt worden ist.
- Unzureichende Feststellungen im Bußgeldurteil wegen eines Geschwindigkeitsverstoßes führen nur ausnahmsweise dann nicht zu einer Aufhebung der angefochtenen Entscheidung, wenn die vom Amtsgericht festgestellte Geschwindigkeitsüberschreitung auf das Geständnis des Betroffenen gestützt werden könnte. Dies setzt jedoch ein uneingeschränktes und glaubhaftes Geständnis des Betroffenen voraus.
Siehe auch Geschwindigkeitsmessung durch Nachfahren oder Vorausfahren
Aus den Entscheidungsgründen:
Die Generalstaatsanwaltschaft hat ihren Antrag auf Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache wie folgt begründet:
"Der Betr. ist durch Urteil des AG Recklinghausen vom 25. 4. 2005 wegen fahrlässiger Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit zu einer Geldbuße von 100 Euro verurteilt worden. Darüber hinaus hat das AG gegen ihn ein Fahrverbot für die Dauer eines Monats verhängt (Bl. 20 R, 21 ff. d. A.). Gegen dieses seinem Verteidiger am 20. 5. 2005 zugestellte (Bl. 28 d. A.) Urteil hat der Betr. mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 25. 4. 2005, eingegangen bei dem AG Recklinghausen am 27. 4. 2005, Rechtsbeschwerde eingelegt (Bl. 26 d. A.) und diese mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 20. 6. 2005, eingegangen bei dem AG Recklinghausen am selben Tage, begründet (Bl. 29 f.).
II. Die Rechtsbeschwerde, mit der die Verletzung materiellen Rechts gerügt wird, ist rechtzeitig eingelegt und form- und fristgerecht begründet worden. Sie hat auch in der Sache einen zumindest vorläufigen Erfolg.
Die amtsgerichtlichen Feststellungen tragen die Verurteilung des Betr. wegen einer fahrlässigen Geschwindigkeitsüberschreitung nicht.
Das AG hat festgestellt, der Betr. habe am 28. 10.2004 gegen 00.35 Uhr mit seinem Pkw die S. Straße in O.-E. in nordwestlicher Richtung befahren. Im Bereich zwischen der M.straße und der H. Straße, bei dem es sich um einen Bereich außerhalb geschlossener Ortschaften handele, habe er die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 70 km/h überschritten, indem er sein Fahrzeug mit einer Geschwindigkeit von mindestens 114 km/h geführt habe. Diese Feststellungen beruhten auf den Aussagen der vernommenen Polizeibeamten S. und K. Diese hätten bekundet, sie seien dem Pkw des Betr. im Bereich zwischen der M.straße und der H. Straße in einem gleichbleibenden Abstand von 200 m über eine Strecke von ca. 600 m gefolgt. In dieser Zeit hätten sie laut dem ungeeichten Tachometer ihres Pkw eine Geschwindigkeit von 155 km/h abgelesen. Den Abstand zwischen ihrem Pkw und dem des Betr. hätten sie anhand der am Fahrbahnrand befindlichen Leitpfosten kontrolliert.
Dies berücksichtigt die von der obergerichtlichen Rspr. zur Feststellung einer Geschwindigkeitsüberschreitung durch Nachfahren zur Nachtzeit außerhalb geschlossener Ortschaften entwickelten Grundsätze nicht in ausreichendem Maße. Bei den i. d. R. schlechten Sichtverhältnissen zur Nachtzeit bedarf, es im Urteil grundsätzlich näherer Feststellungen dazu, wie die Beleuchtungsverhältnisse waren, ob der Abstand zu dem vorausfahrenden Fahrzeug durch Scheinwerfer des nachfahrenden Fahrzeugs oder durch andere Lichtquellen aufgehellt war und damit ausreichend sicher erfasst und geschätzt werden konnte und ob für die Schätzung des gleichbleibenden Abstandes zum vorausfahrenden Fahrzeug ausreichende und trotz Dunkelheit zu erkennende Orientierungspunkte vorhanden waren. Auch sind Ausführungen dazu erforderlich, ob die Umrisse des vorausfahrenden Fahrzeugs und nicht nur dessen Rücklichter erkennbar waren (zu vgl. nur Senatsbeschluss vom 13. 3. 2003 - 2 Ss OWi 201/03 -).
Die Feststellungen des AG enthalten indes keinerlei Angaben zu den Beleuchtungsverhältnissen auf der S. Straße. Den Urteilsgründen ist nicht zu entnehmen, ob die Strecke zwischen dem Fahrzeug der Polizeibeamten und dem des Betr. durch Scheinwerfer oder sonstige Lichtquellen aufgehellt war.
Auch lässt das Urteil ausreichende Ausführungen dazu, wie die Polizeibeamten den angegebenen Abstand von 200 m zum vorausfahrenden Fahrzeug ermittelt haben, vermissen. Bereits bei einer Entfernung von ca. 150 m vermag das Scheinwerferlicht ein vorausfahrendes Fahrzeug i. d. R. nicht mehr zu erreichen. Bei einem solchen Abstand genügt die alleinige Mitteilung im Urteil, die Beamten hätten sich bei der Abstandsfeststellung bzw. Abstandsschätzung an den Leitpfosten orientiert, nicht (zu vgl. Senatsbeschluss vom 13. 3. 2003 - a.a.O.).
Letztlich ist dem amtsgerichtlichen Urteil auch nicht zu entnehmen, ob die Beamten die Geschwindigkeit von einem justierten oder nicht justierten Tacho abgelesen haben und wie das Gericht den Sicherheitsabschlag von der durch die Zeugen abgelesenen Geschwindigkeit von 155 km/h vorgenommen hat. Diese Angaben wären jedoch erforderlich gewesen, um dem Rechtsbeschwerdegericht eine Überprüfung des in Ansatz gebrachten Sicherheitsabschlages zu ermöglichen, zumal die Rspr. zum Teil bei Benutzung eines nicht geeichten und nicht justierten Tachometers einen Abschlag vom Skalenendwert, der in den Urteilsgründen ebenfalls nicht mitgeteilt wird, vornimmt (zu vgl. Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 38 Aufl., § 3 StVO Rdn. 62, m.w.N.).
Da das Urteil hinreichende Feststellungen zu den Umständen der von den Zeugen durchgeführten Geschwindigkeitsmessung vermissen lässt, ist nicht überprüfbar, ob der Tatrichter den Beweiswert des Geschwindigkeitsvergleichs durch Nachfahren rechtsfehlerfrei bejaht und möglichen Fehlerquellen durch einen entsprechenden Abzug eines Toleranzwertes genügend Rechnung getragen hat.
Ein solcher Rechtsfehler führt nur ausnahmsweise dann nicht zu einer Aufhebung der angefochtenen Entscheidung, wenn die vom AG festgestellte Geschwindigkeitsüberschreitung auf das Geständnis des Betr. gestützt werden könnte. Dies setzt jedoch ein uneingeschränktes und glaubhaftes Geständnis des Betr. voraus (zu vgl. Senatsbeschluss vom 13. 3. 2003 - a.a.O. -). Ein solches Geständnis liegt hier nicht vor. Vielmehr hat der Betr. in Abrede gestellt, mit seinem Pkw mindestens 114 km/h gefahren zu sein. Zwar sei er wohl zu schnell gefahren, seine Geschwindigkeit habe aber nur ca. 100 km/h betragen.
Das angefochtene Urteil unterliegt daher der Aufhebung."
Diesen zutreffenden Ausführungen tritt der Senat bei und bemerkt ergänzend, dass der zuvor zitierte Senatsbeschluss vom 13. 3. 2003 veröffentlicht ist in NZV 2003, 494 = DAR 2003, 429 sowie NStZ-RR 2004, 26. Ferner wird auf die Senatsbeschlüsse vom 9. 9. 2002 in 2 Ss OWi 643/02 = VRS 104, 226 = NZV 2003, 249, vom 21. 12. 2001 in 2 Ss OWi 1062/01, vom 14. 1. 1999 in 2 Ss OWi 1377/98 = VRS 96, 458 = NZV 1999, 391, vom 30. 10. 1997 in 2 Ss OWi 1295/97 = VRS 94, 467 = MDR 1998, 156 und vom 22. 10. 1997 in 2 Ss OWi 1216/97 = DAR 1998, 75 = MDR 1998, 155 sowie die Beschlüsse des hiesigen 4. Senats für Bußgeldsachen vom 21. 6. 2001 in 4 Ss OWi 322/01 = VRS 102, 302 und des hiesigen 3. Senats für Bußgeldsachen vom 13. 12. 2001 in 3 Ss OWi 960/01 = VRS 104, 312 hingewiesen und Bezug genommen.
Auch der Umstand, dass im vorliegenden Fall ein - nicht näher definierter - Toleranzabzug von 27% von der durch die Polizeibeamten abgelesenen Geschwindigkeit vorgenommen worden ist, führt zu keinem anderen Ergebnis. ..."