Das Verkehrslexikon
OLG Hamm Beschluss vom 06.09.2005 - 3 Ss OWi 602/05 - Zum Fahrtantritt in einer dem Kfz-Führer unbekannten Tempo-30-Zone
OLG Hamm v. 06.09.2005: Zum Fahrtantritt in einer dem Kfz-Führer unbekannten Tempo-30-Zone
Das OLG Hamm (Beschluss vom 06.09.2005 - 3 Ss OWi 602/05) hat entschieden:
Eine allgemeine Erkundigungspflicht, ob der Bereich, in dem er als Kraftfahrzeugführer die eigene Fahrt antritt, im Gebiet einer Zonengeschwindigkeitsbeschränkung liegt, trifft den Kraftfahrzeugführer, der keine Kenntnis von der angeordneten Zonengeschwindigkeitsbeschränkung hat und auch nicht haben muss, weil er als Mitfahrer bei einem anderen Kraftfahrzeugführer in die Zone gelangt ist, nicht.
Siehe auch Tempo-30-Zone - Zonengeschwindigkeitsbeschränkungen
Zum Sachverhalt:
Das Amtsgericht Gladbeck hat den Betroffenen durch das angefochtene Urteil wegen Überschreitens der nach Zeichen 274 zulässigen Höchstgeschwindigkeit - fahrlässige Verkehrsordnungswidrigkeit nach § 24 StVG in Verbindung mit § 41, 49 Abs. 3 Ziff. 4 StVO - zu einer Geldbuße von 100,00 € verurteilt.
Dazu hat das Amtsgericht folgende Feststellungen getroffen:
"Am 24.01.2005 überschritt der Betroffene als Führer des Pkw Alfa Romeo mit dem amtlichen Kennzeichen X gegen 17.58 Uhr auf der Vossstrasse in Gladbeck in südlicher Fahrtrichtung fahrend, die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h um mindestens 22 km/h, wobei es sich um den, im fraglichen Bereich um eine Tempo 30 Zone handelt, die an sämtlichen Zufahrten mit dem Zeichen 274.1 (§ 41 Abs. 2 Nr. 7 StVO) beschildert ist.
Bei Anwendung der erforderlichen und dem Betroffenen zumutbaren Sorgfalt, hätte dieser die Geschwindigkeitsüberschreitung bemerken müssen und unter Zurücknahme der Geschwindigkeit sein Fahrverhalten hierauf einstellen können."
In der Beweiswürdigung heißt es u. a.:
"Der Betroffene hat sich dahin eingelassen, dass er sich der Tatsache, dass der sich in einem Tempo-30-Bereich befindet, nicht bewusst gewesen sei. Er sei nicht selbst in die Tempo-30-Zone als Fahrer eingefahren, sondern am Abend vorher von einem Bekannten dorthin mitgenommen worden.
Infolge Alkoholgenusses habe er sein Fahrzeug in der Nähe der späteren Messstelle abgeparkt stehen gelassen und sich sodann am nächsten Tag von einem weiteren Bekannten zu seinem Fahrzeug bringen lassen. Bei beiden Fahrten habe er jeweils auf die Beschilderung an den Straßen nicht geachtet und deshalb nicht registriert, dass es sich um eine Tempo-30-Zone handelte.
Der Betroffene kann sich aus Sicht des Gerichts mit dieser Einlassung nicht entlasten. Von einem Autofahrer, der weiß, dass er anschließend einen Pkw im fraglichen Bereich zu führen hat, kann erwartet werden, dass er sich beim Einfahren in den Bereich über die entsprechende Beschilderung informiert. Die Auffassung des Betroffenen, er habe nicht fahrlässig gehandelt, weil er als Beifahrer nicht verpflichtet sei, sich über die Beschilderung Kenntnis zu verschaffen, weshalb er bei dem Einfahren in den Messbereich nicht gewusst habe, dass es sich um eine Tempo-30-Zone handelt, hält das Gericht weder für glaubwürdig noch für in der Sache entscheiden.
Als Autofahrer kann und muss von dem Betroffenen erwartet werden, dass er sich über die geltenden Verkehrsregeln und die Beschilderung in Bereichen, die er anschließend befahren will, durch Aufmerksamkeit informiert. Dieses gilt für den fraglichen Bereich um so mehr, als die Ausgestaltung also Tempo-30-Zone aufgrund der Bebauung, Straßenbreite und der sonstigen Gegebenheiten nahe liegt, was dem erkennenden Richter aus eigener Anschauung bekannt ist."
Das Amtsgericht hat den Betroffenen wegen fahrlässigen Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit in der Tempo-30-Zone verurteilt und die nach dem Bußgeldkatalog vorgesehene Regelgeldbuße von 50,00 € im Hinblick auf die erheblichen Vorbelastungen des Betroffenen, die unter den persönlichen Verhältnissen Ziffern 1 - 6 dargelegt sind, auf 100,00 € verdoppelt.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die Rechtsbeschwerde des Betroffenen, deren Zulassung er beantragt. Er ist der Auffassung, dass er als in die Tempo-30-Zone einfahrender Mitfahrer nicht verpflichtet gewesen sei, auf die Straßenbeschilderung zu achten; die Geschwindigkeitsüberschreitung sei ihm deshalb subjektiv nicht vorzuwerfen; die Feststellungen dazu, dass der Betroffene auf Grund der konkreten örtlichen Gegebenheiten im Bereich des geparkten Fahrzeugs auf das Vorliegen einer verkehrsberuhigten Zone hätte schließen müssen, seien im Übrigen nicht ausreichend. Schließlich sei auch die Erhöhung der Geldbuße um 100 % zu beanstanden, weil die Darlegung der Vorverurteilungen, insbesondere hinsichtlich des Tages der Rechtskraft der Entscheidungen unzureichend sei. Darüber hinaus sei eine Verdoppelung der Geldbuße auch nicht angemessen.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, den Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde als unbegründet zu verwerfen.
Aus den Entscheidungsgründen:
"... Die Rechtsbeschwerde war zuzulassen, weil es gem. § 80 Abs. 1 Nr. 1 OWiG geboten ist, das Urteil zur Fortbildung des Rechts nachzuprüfen. Der vorliegende Einzelfall gibt Veranlassung die Frage näher zu klären, ob ein Autofahrer, der als Mitfahrer eines Kraftfahrzeuges in eine Tempo-30-Zone gelangt, verpflichtet ist sich darüber zu informieren, ob die Straße, auf der er einen abgestellten Pkw abholt, in dem Bereich einer Zonengeschwindigkeitsbeschränkung liegt. Diese Rechtsfrage ist auch entscheidungserheblich und für andere Fälle abstraktionsfähig; sie ist auch klärungsbedürftig, weil - soweit ersichtlich - die obergerichtliche Rechtsprechung sich mit dieser Rechtsfrage noch nicht befasst hat; lediglich der Führer eines Pkw, der als Fußgänger in den Bereich einer Zonengeschwindigkeitsbeschränkung gelangt ist, um einen abgestellten Pkw abzuholen, ist in der obergerichtlichen Rechtsprechung für nicht verpflichtet erachtet worden, sich darüber zu informieren, ob dieser Bereich einer Zonengeschwindigkeitsbeschränkung unterliegt (vgl. OLG Düsseldorf Beschluss vom 03.04.1997 5 Ss OWi 75/97).
Angesichts dessen erscheint es nicht sachgerecht lediglich den Einzelrichter entscheiden zu lassen, sondern die Sache dem Senat in der Besetzung mit drei Richtern zu übertragen.
2. Die zulässige Rechtsbeschwerde führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils mit den zu Grunde liegenden Feststellungen, denn die Feststellungen tragen den Schuldspruch wegen eines fahrlässigen Verstoßes gegen die Zonengeschwindigkeitsbeschränkung nicht.
Den Ausführungen des angefochtenen Urteils, dass von dem Betroffenen als Autofahrer erwartet werden könne und müsse, dass er sich über die geltende Beschilderung in Bereichen, die er anschließend selbst als Kraftfahrzeugführer befahren wolle, durch Aufmerksamkeit bereits als Mitfahrer bei einer vorangehenden Fahrt informieren müsse, vermag der Senat nicht zu folgen. Dem Führer eines Pkw fällt nur dann eine schuldhafte Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit zur Last, wenn von ihm bei der Einfahrt in den Zonenbereich erwartet werden muss, dass er ein dort aufgestelltes Verkehrszeichen gem. § 41 Abs. 2 S. 6 Nr. 7, Zeichen 274.1 StVO wahrnimmt oder wenn die Zonenbeschränkung ihm anderweitig bekannt geworden ist. Einen bloßen Bei- oder Mitfahrer in einem Kraftfahrzeug trifft indes während der Fahrt grundsätzlich keine Pflicht, hinsichtlich der Verkehrslage oder Örtlichkeiten einschließlich der Beschilderung durch Verkehrszeichen Aufmerksamkeit walten zu lassen. Er ist nicht "Adressat" der Verkehrszeichen, die in dem durchfahrenen Gebiet aufgestellt sind. Bereits seine Eigenschaft als "Verkehrsteilnehmer" hat die Rechtsprechung bei bloßem Mitfahren verneint (vgl. KG VRS 34, 136; Ha VM 60, 59; Ce DAR 52, 156; Hb VM 65, 8; Jagusch/Hentschel Straßenverkehrsrecht 37. Aufl., Rdnr. 18 zu § 1 StVO). Anderes gilt lediglich dann, wenn besondere Umstände vorliegen, auf Grund derer den Bei- oder Mitfahrer eine (Mit-) Verantwortlichkeit trifft, etwa wenn der Beifahrer als Halter oder Dienstvorgesetzter für die Fahrweise des - etwa fahruntüchtigen - Fahrzeugführers mitverantwortlich ist (vgl. BGH St 14, 24).
Ein solcher Umstand ergibt sich für den Mitfahrer aber noch nicht aus seinem Vorhaben, im Anschluss an die Fahrt als Mitfahrer selbst ein Kraftfahrzeug in dem betreffenden Verkehrsraum zu führen. Hierdurch wird keine Pflicht begründet, bereits im Vorfeld der eigenen Fahrt als Mitfahrer Aufmerksamkeit für die Verkehrssituation einschließlich der Beschilderung durch Verkehrszeichen walten zu lassen. Sofern nicht positiv festgestellt werden kann, dass der Mitfahrer das Verkehrszeichen - hier die Tempo-30-Zonenbeschränkung mit dem Verkehrszeichen Nr. 274.1 - tatsächlich zur Kenntnis genommen hat, was nach den Umständen hier wegen der zweimaligen Einfahrt als Mitfahrer in den Verkehrsbereich nahe liegen kann, fehlt es an einem Anknüpfungspunkt für die persönliche Vorwerfbarkeit der späteren Geschwindigkeitsüberschreitung infolge der Nichtkenntnis der Zonenbeschränkung bei Antritt der Fahrt als Kraftfahrzeugführer innerhalb der Zone.
Eine allgemeine Erkundigungspflicht, ob der Bereich, in dem er als Kraftfahrzeugführer die eigene Fahrt antritt, im Gebiet einer Zonengeschwindigkeitsbeschränkung liegt, trifft den Kraftfahrzeugführer, der keine Kenntnis von der angeordneten Zonengeschwindigkeitsbeschränkung hat und auch nicht haben muss, weil er als Mitfahrer bei einem anderen Kraftfahrzeugführer in die Zone gelangt ist, nicht. Bei Zonenanordnungen ist der für Streckenanordnungen geltende Grundsatz der Sichtbarkeit eingeschränkt. Die Kennzeichen der Zonenanordnung erfolgt nach der VwV-StVO zu den Zeichen 274.1 und 274.2 lediglich am Anfang und am Ende einer Zone; eine Wiederholung des Zonenverkehrszeichens im inneren der - regelmäßig über mehreren Straßenzüge ausgedehnten - Zone ist nicht vorgesehen. Dennoch sind Zonenanordnungen, wie etwa die Geschwindigkeitsbeschränkung durch Zeichen 274.1 grundsätzlich auch auf den Straßen innerhalb der Zone wirksam, an denen sich kein gesondertes Vorschriftzeichen befindet und die nicht auf Grund ihres optischen Eindrucks als Zonenbestandteil ohne weiteres erkennbar sind. Bereits wegen der regelmäßig erheblichen Größe der Zone ist eine allgemeine Erkundigungspflicht nicht zumutbar.
Allerdings kann sich auf Grund der baulichen und räumlichen Gegebenheiten für den Kraftfahrzeugführer die Erkenntnis aufdrängen, dass er sich innerorts innerhalb einer allgemein regulierten Geschwindigkeitszone befinden könnte; so etwa durch die durchgehende Bebauung, bei engen Straßen, Aufpflasterungen, besonderen Fahrbahnmarkierungen oder Verkehrsschikanen auf der Fahrbahn (vgl. OLG Hamm, NStZ-RR 1999, 313; OLG Hamm Senatsbeschlüsse vom 30.04.1999 - 2 Ss OWi 382/99 - und vom 24.03.2000 - 2 Ss OWi 267/00). § 39 Abs. 1 a StVO bestimmt insbesondere, dass innerhalb geschlossener Ortschaften abseits der Vorfahrtsstraßen (Zeichen 306) mit der Anordnung von Tempo-30-Zonen zu rechnen ist. Ob es sich vorliegend bei der Messstelle jedoch um einen solchen abseits einer Vorfahrtstraße gelegenen Bereich gehandelt hat, kann den Feststellungen des angefochtenen Urteils nicht entnommen werden. Auch tragen die Feststellungen des Urteils, dass die Ausgestaltung als Tempo-30-Zone auf Grund der Bebauung, Straßenbreite und sonstiger Gegebenheiten nahe liege, die Verurteilung nicht. Diese Umstände sind für das Rechtsbeschwerdegericht nicht überprüfbar, weil nähere konkrete Angaben zu den Örtlichkeiten, aus denen sich der Rückschluss auf eine Tempo-30-Zone rechtfertigt, fehlen. Die Feststellungen sind insoweit lückenhaft. Die genannten Angaben sind zu pauschal als dass dieser Rückschluss für das Rechtsbeschwerdegericht nachvollziehbar und überprüfbar wäre.
Soweit das Amtsgericht schließlich ausführt, dass es die Einlassung des Betroffenen, er habe beim Einfahren in den Messbereich nicht gewusst, dass es sich um eine Tempo-30-Zone handele, für nicht glaubwürdig ("weder glaubwürdig noch für in der Sache entscheidend") halte, kann das Urteil ebenfalls keinen Bestand haben. Das Amtsgericht, das ersichtlich die Einlassung des Betroffenen zu Grunde legt und sich mit deren rechtlicher Bewertung auseinandersetzt, legt nämlich nicht dar, aus welchen Gründen es diese Einlassung für unglaubwürdig erachtet und als widerlegt ansieht. Gründe hierfür ergeben sich nicht bereits aus der Einlassung selbst, welche zwar eine nicht alltägliche Schilderung des Tatherganges enthält, die aber aus sich heraus noch nicht als ausgeschlossen oder unmöglich zu erachten ist. Auch aus diesem Grunde unterliegt das Urteil der Aufhebung.
Soweit der Rechtsbeschwerdeführer die im Hinblick auf die Vorverurteilungen erfolgte Verdoppelung der Regelgeldbuße um 50,00 auf 100,00 € angreift, ist für die neue Verhandlung im Verurteilungsfalle vorsorglich darauf hinzuweisen, dass eine Verdoppelung der Regelgeldbuße auch bei fahrlässigen Verkehrsverstößen nicht grundsätzlich unangemessen ist (vgl. OLG Düsseldorf NZV 1992, 414). Belastend verwertete Eintragungen im Verkehrszentralregister sind jedoch im Urteil so anzugeben, dass das Rechtsbeschwerdegericht Tilgung und Tilgungsreife prüfen kann. Dazu gehört bei Bußgeldentscheidungen der Tag der Rechtskraft bzw. Unanfechtbarkeit gem. § 29 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 4 Nr. 3, Abs. 6 StVG. Diese Angaben sind den Ausführungen des angefochtenen Urteils ebenfalls nicht zu entnehmen. ..."