Das Verkehrslexikon
BGH Urteil vom 05.10.1968 - VI ZR 226/67 -
BGH VersR 1969, 43: Verschleißerscheinungen der Wirbelsäule hindern nicht, einen adäquaten Zusammenhang zwischen einem Unfall und einem HWS-Syndrom anzunehmen
BGH v. 05.10.1968: Verschleißerscheinungen der Wirbelsäule hindern nicht, einen adäquaten Zusammenhang zwischen einem Unfall und einem HWS-Syndrom anzunehmen
Der BGH (Urteil vom 05.10.1968 - VI ZR 226/67) hat entschieden:
Dem Unfallschädiger sind auch solche Auswirkungen der Verletzungshandlung zuzurechnen, die sich erst deshalb ergeben, weil der Betroffene bereits eine Krankheitsanlage oder einen Körperschaden hatte. Die bloße Möglichkeit, dass auch ohne den Unfall gleiche oder ähnliche Beschwerden aufgetreten wären, kann nicht zu einer Beschränkung der Ersatzpflicht des Schädigers führen.
Siehe auch Halswirbelschleudertrauma - Lendenwirbelschleudertrauma - unfallbedingte Wirbelsäulenverletzungen
Tatbestand:
Der Beklagte G hat am 12. November 1963 mit einem Kraftfahrzeug der beklagten Kommanditgesellschaft den ihm entgegenkommenden Personenkraftwagen des Klägers angefahren. Dabei wurde der Kläger verletzt und sein Wagen erheblich beschädigt. Der Haftpflichtversicherer der Kommanditgesellschaft hat seine Pflicht, den Schaden des Klägers zu ersetzen, dem Grunde nach anerkannt und 2770 DM an den Kläger gezahlt.
Die Parteien streiten jetzt nur noch über die Höhe des von dem Beklagten G zu ersetzenden Verdienstausfalls und über die Höhe des Schmerzensgeldes. Zu diesen Schadensposten hat der Kläger vorgetragen:
Durch den Unfall sei u. a. seine Halswirbelsäule in Mitleidenschaft gezogen worden. Er habe unter Kopfschmerzen und Schwindelgefühlen zu leiden gehabt, so dass er seit dem Unfall bis August 1965 nur halbtags in seiner Kraftfahrzeugwerkstatt habe mitarbeiten können. Die Beschwerden seien auf den Unfall zurückzuführen. Er habe vor dem Unfall nie unter Beschwerden dieser Art zu leiden gehabt. Jetzt seien sie vollkommen abgeklungen. Er habe in seinem Betrieb Rechnungen auf Stundenlohnbasis aufgestellt und durch seine Arbeit bei ganztägiger Beschäftigung täglich 110 bis 120 DM verdient. Da er erst ab September 1965 wieder ganztägig habe arbeiten können, ergebe sich bis dahin ein Schaden von 50 DM für jeden Arbeitstag.
Mit der Klage hat der Kläger zunächst von den Beklagten als Gesamtschuldnern 2435 DM nebst Zinsen Schadensersatz und von dem Beklagten G ein vom Gericht festzusetzendes Schmerzensgeld abzüglich gezahlter 200 DM verlangt.
Die Beklagten haben beantragt, die Klage abzuweisen.
Sie haben geltend gemacht: Die Beschwerden des Klägers seien nicht unfallbedingt, sondern auf Verschleißerscheinungen an der Wirbelsäule zurückzuführen. Sie hätten sich auch dann eingestellt, wenn es nicht zu dem Unfall gekommen wäre. Zudem sei dem Kläger kein Verdienstausfall entstanden. Er sei nicht arbeitsunfähig gewesen, sondern habe in seinem Betrieb, in dem er 15 bis 20 Personen beschäftige, weiter seine leitende Tätigkeit ausüben können.
Das Landgericht hat den Beklagten G verurteilt,
an den Kläger 500 DM Schmerzensgeld nebst Zinsen abzüglich bereits gezahlter 300 DM zu zahlen.
Im übrigen hat es die Klage abgewiesen.
Gegen dieses Urteil hat der Kläger Berufung eingelegt. Er hat im Berufungsrechtszug beantragt,
das Urteil des Landgerichts zu ändern und
- die Beklagten als Gesamtschuldner zur Zahlung von 2050 DM nebst Zinsen zu verurteilen,
- den Beklagten G zu verurteilen, an ihn folgende Zahlungen zu leisten,
- ein über 500 DM liegendes Schmerzensgeld abzüglich gezahlter 200 DM
- weitere 24600 DM.
Soweit mit dem Betrag von 24600 DM Behandlungskosten verlangt werden, die von der Krankenversicherung erstattet wurden sind, hat der Kläger hilfsweise Zahlung an die De Kr-Versicherungs-AG in K/B verlangt.
Das Oberlandesgericht hat auf die Berufung des Klägers folgendes Urteil erlassen:
- Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger 2050 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 23. April 1964 zu zahlen.
- Der Beklagte G wird verurteilt, an den Kläger weitere 5956,35 DM und an die De Kr-Versicherungs-AG in K 102,65 DM zu zahlen.
- Im übrigen wird die Klage abgewiesen.
Mit der Revision erstrebt der Kläger statt der ihm zugesprochenen 5956,35 DM die Verurteilung des Beklagten G zur Zahlung von 23556,35 DM. Ferner beantragt er, das Berufungsurteil auch insoweit aufzuheben, als ihm kein höheres Schmerzensgeld zugebilligt wurde. Er bittet, die Sache insoweit an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Der Beklagte G beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe:
I.
Das Berufungsgericht hat den vom Beklagten G zu ersetzenden Verdienstausfall des Klägers auf 5400 DM errechnet und die Klage hinsichtlich des darüber hinaus geforderten Erwerbsschadens abgewiesen. Die Gründe, aus denen es zu dieser Berechnung des Schadens gekommen ist, werden von der Revision mit Recht beanstandet.
1. Übereinstimmend mit dem Gutachten der Neurochirurgischen Klinik und Poliklinik der Universität W hat das Berufungsgericht festgestellt, dass der Kläger bei dem Unfall ein Trauma erlitten hat, dass dieses Trauma als Ursache des bei ihm entstandenen Cervikalsyndroms anzusehen ist und dass die Beschwerden, unter denen der Kläger zu leiden hatte, daher als eine Folge des Unfalls anzusehen sind. Es hält ebenso wie der Sachverständige für erwiesen, dass der Kläger infolge der Beschwerden längere Zeit nur imstande war, halbtags zu arbeiten. Den hieraus sich ergebenden Verdienstausfall schätzt es täglich auf 50 DM. Gleichwohl hat das Berufungsgericht dem Kläger diesen Betrag nicht zugesprochen. Es verweist darauf, dass der Kläger eine Veranlagung für derartige Beschwerden hatte, weil schon vor dem Unfall Verschleißerscheinungen an seiner Wirbelsäule bestanden, so dass auch ohne den Unfall das Auftreten gleicher oder ähnlicher Beschwerden zur gleichen Zeit nach der Ansicht des Gutachters zwar nicht wahrscheinlich sei, aber doch nicht ausgeschlossen werden könne. Mit Rücksicht auf die Schwierigkeiten, die sich bei der Beurteilung eines derartigen Falles ergeben, hält das Berufungsgericht mit dem ärztlichen Gutachter einen Kompromiss für angebracht. Nach seiner Meinung ist es eine für beide Teile, den Geschädigten und den Schädiger, angemessene Lösung, wenn man nur einen Teil der tatsächlich bestandenen Erwerbsminderung als unfallbedingt anerkennt. Das Berufungsgericht will daher unter Berufung auf das Gutachten der Neurochirurgischen und Poliklinik der Universität W von der Erwerbsminderung des Klägers für die ersten drei Monate nach dem Unfall 40 %, für die folgenden 12 Monate 30 % und für weitere drei Monate 20 % als unfallbedingt anerkennen, so dass bei durchschnittlich fünf Arbeitstagen für 60 Tage 40 % von 50 DM, für 240 Tage 30 % von 50 DM und für 60 Tage 20 % von 50 DM, zusammen also 5400 DM als Verdienstausfall zu ersetzen seien.
2. Dieser Schadensberechnung kann nicht beigetreten werden.
Zutreffend ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass zwischen dem Unfall des Klägers und den bei ihm aufgetretenen Beschwerden ein adäquater Kausalzusammenhang besteht. Dem steht nicht entgegen, dass der Kläger wegen der Verschleißerscheinungen an seiner Halswirbelsäule eine Veranlagung zu derartigen Beschwerden hatte. Entscheidend ist, dass die Beschwerden nach der Überzeugung des ärztlichen Gutachtens und ersichtlich auch des Berufungsgerichts erst durch den Unfall ausgelöst worden sind. In einem solchen Falle entspricht es feststehender Rechtsprechung, dass Krankheitserscheinungen, die durch einen Unfall nur deshalb ausgelöst werden, weil die Anlage zu der Krankheit bei dem Verletzten bereits vorhanden war, im Rechtssinne im vollen Umfange eine Unfallfolge sind. Dem Schädiger sind daher auch solche schädigenden Auswirkungen der Verletzungshandlung zuzurechnen, die sich erst deshalb ergeben, weil der Betroffene bereits eine Krankheitsanlage oder einen Körperschaden hatte. Das gilt auch dann, wenn der Unfall die (latente) Anlage nur ausgelöst hat (u. a. Urteil des BGH vom 5. Februar 1965 – VI ZR 239/63 – VersR 1965, 491). Daraus ergibt sich, dass die Pflicht des Beklagten G, für den Erwerbsschaden des Klägers einzustehen, nicht mit der Begründung eingeschränkt werden kann, dass bei dem Kläger eine Veranlagung zu den aufgetretenen Beschwerden bestanden habe.
Ebensowenig kann die bloße Möglichkeit, dass auch ohne den Unfall gleiche oder ähnliche Beschwerden aufgetreten wären, zu einer Beschränkung der Ersatzpflicht führen. Das Berufungsgericht übersieht, dass es sich hier um ein hypothetisches Ereignis handelt, das nur berücksichtigt werden kann, wenn zur Überzeugung des Gerichts feststeht, dass es tatsächlich eingetreten wäre und den gleichen Schaden verursacht hätte (BGHZ 8, 289, 294 und 10, 6). Nur wenn feststände, dass der Kläger infolge der schon vorhandenen Veranlagung zu den von der Halswirbelsäule ausgehenden Beschwerden unabhängig von dem Unfall zu einem bestimmten Zeitpunkt ohnehin einen Erwerbsschaden erlitten hätte, wäre der Schaden in diesem Umfang nicht vom Beklagten G zu ersetzen. Eine solche Feststellung ist aber hier nicht möglich. Das Berufungsgericht hat sich insoweit die Auffassung des Sachverständigen zu eigen gemacht, es sei zwar nicht auszuschließen, aber nicht wahrscheinlich, dass zu derselben Zeit unabhängig von dem Unfall gleiche oder ähnliche Beschwerden aufgetreten wären. Die Zweifel, die hiernach bestehen, müssen in vollem Umfang zu Lasten des beweispflichtigen Beklagten gehen. Deshalb geht es entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts nicht an, dem Kläger den Ersatz seines auf dem Unfall beruhenden Verdienstausfalls im Wege eines Kompromisses nur teilweise zu gewähren.
II.
1. Entgegen der Meinung des Beklagten G ist die Revision auch hinsichtlich des Schmerzensgeldes zulässig. Der Kläger hat die Revision unbeschränkt eingelegt. Allerdings hat er den Antrag, ihm ein höheres Schmerzensgeld zuzubilligen, erst in einem Schriftsatz wieder aufgenommen, der nach Ablauf der Begründungsfrist bei Gericht einging. Das ist jedoch unschädlich, denn eine solche Erweiterung der Revisionsanträge ist selbst in der mündlichen Verhandlung noch zulässig, wenn sie sich im Rahmen der geltend gemachten Revisionsgründe hält (BGHZ 12, 52 (67, 68)). Das ist hier der Fall, denn der Kläger hat gegen die Schmerzensgeldentscheidung die gleichen Bedenken geltend gemacht, die er auch gegen die teilweise Aberkennung des Verdienstausfalls erhoben hat.
2. In der Sache selbst kann die Entscheidung des Berufungsgerichts über die Höhe des Schmerzensgeldes aus den gleichen Gründen, die schon unter I dargelegt wurden, nicht bestehen bleiben. Das Berufungsgericht hat auch bei der Bemessung des Schmerzensgeldes zum Nachteil des Klägers berücksichtigt, dass er eine Veranlagung für die Beschwerden hatte. Es hat auch hier angenommen, der Schaden sei deshalb nur zu einem Teil zu ersetzen. Diese Folgerung ist nicht richtig. Vielmehr sind auch bei der Festsetzung des Schmerzensgeldes die durch den Unfall ausgelösten Beeinträchtigungen und Beschwerden des Klägers in vollem Umfange zu berücksichtigen, denn auch hier ist davon auszugehen, dass der Kläger ohne den Unfall nicht unter ihnen zu leiden gehabt hätte.
III.
Hiernach war das Berufungsurteil, soweit es den Anspruch des Klägers auf Erstattung weiteren Verdienstausfalls und auf Zahlung eines höheren Schmerzensgeldes abgewiesen hat, aufzuheben. Da die Ermittlung des Erwerbsschadens und die Bemessung des Schmerzensgeldes Aufgabe des Tatrichters ist, war die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.