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Amtsgericht Neunkirchen Urteil vom 21.11.2003 - 4 C 35/02 - Seitlicher Anstoß als Ursache für en Schleudertrauma

AG Neunkirchen v. 21.11.2003: Seitlicher Anstoß als Ursache für en Schleudertrauma


Das Amtsgericht Neunkirchen (Urteil vom 21.11.2003 - 4 C 35/02) hat entschieden:
Ein seitlicher Anstoß mit nur geringer Geschwindigkeitsänderung ist geeignet, bei einem an Arthrose leidenden Geschädigten ein Aufleben alter Symptome als unmittelbare zurechenbare Unfallfolge auszulösen.


Siehe auch Halswirbelschleudertrauma - Lendenwirbelschleudertrauma - unfallbedingte Wirbelsäulenverletzungen


Zum Sachverhalt: Der Kläger macht gegenüber den Beklagten Schmerzensgeldansprüche geltend aufgrund eines Verkehrsunfalles, der sich am 28.5.2001 in W. ereignete. Der Unfall ereignete sich, als die Beklagte zu 1) rückwärts auf einem Parkplatz aus einer Parklücke herausfuhr und dabei auf die Fahrerseite des stehenden klägerischen Fahrzeuges prallte. Durch diesen seitlichen Anstoß erfuhr der klägerische Pkw einen Beschleunigungswert Delta V von weniger als 5 km/h.

Aus den Entscheidungsgründen:

"... Zunächst steht nach Vernehmung der Zeugin ... sowie Parteianhörung des Klägers fest, dass hinsichtlich der Bandscheibenproblematik vor dem Unfall ein beschwerdefreies Intervall von 2 bis 3 Monaten vorlag. Auch unter Berücksichtigung der persönlichen Verbundenheit der Zeugin ... mit dem Kläger hat das Gericht keinen Zweifel daran, dass ihre diesbezügliche Aussage zutreffend ist. Bei Vernehmung der Zeugin wurde erkennbar, dass sie sich um eine möglichst wahrheitsgetreue Aussage bemühte, indem sie auch Besserungen beschrieb, und ihre genaue Erinnerung an das beschwerdefreie Intervall damit begründen konnte, dass sie ihren Mann immer zum Arzt begleitete. Ihre Aussage deckt sich auch bis in die Details mit derjenigen des Klägers selbst; insgesamt ist daher davon auszugehen, dass vor dem Unfall der Kläger eine erhebliche Zeit beschwerdefrei war.

Das Gericht hat weiterhin keinen Zweifel daran, dass im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit dem Unfall erhebliche Beschwerden ausgelöst wurden, und zwar im Bereich der LWS und der HWS, und der Kläger einen Asthmaanfall erlitt. Die entsprechende Überzeugung des Gerichts gründet sich auf die Attest der erstbehandelnden Ärzte, die die vom Kläger geschilderten Beschwerden im Bereich der HWS und LWS aufnahmen, und wiederum auf die Aussage der Zeugin B. wie des Klägers selbst. Hinausgehend über die ärztlichen Atteste schilderten diese außerdem den vom Kläger erlittenen Asthmaanfall. Das Gericht zweifelt nicht am Auftreten der benannten Beschwerden im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit dem Verkehrsunfall.

Schließlich steht nach mündlicher Erläuterung des Sachverständigengutachtens durch den Sachverständigen Dr. fest, dass diese Beschwerden hervorgerufen oder aktiviert wurden durch die streitgegenständliche Kollision. Der Sachverständige erläuterte hierzu, aufgrund der Symmetrie und Anatomie der HWS könnten seitliche Anstöße von der Nackenmuskulatur weniger gut abgefangen werden als frontale Einwirkungen. Von daher genüge prinzipiell ein geringerer Beschleunigungswert, um eine HWS-Verletzung auslösen zu können. Insbesondere aber führte der Sachverständige aus, dass durch Arthrose vorgeschädigte Patienten wie der Kläger häufig kein ständiges Beschwerdebild aufweisen, sondern die Beschwerden durch äußere Umstände aktiviert werden können. Angesichts der Vorschädigung des Klägers - und unter Berücksichtigung eines beschwerdefreien Intervalles - äußerte der Sachverständige keinerlei Zweifel daran, dass die von dem Kläger geschilderten Beschwerden aktiviert wurden durch den Verkehrsunfall. Der Sachverständige verwies auch darauf, dass durch den Asthmaanfall die Atemhilfsmuskeln im Nackenbereich angespannt wurden in Form einer krampfhaften Aktivierung. Diese Aktivierung der Atemhilfsmuskeln könnten unbedingt auch mit zur Aktivierung der Arthrosebeschwerden beigetragen haben, und zwar insbesondere auch hinsichtlich der Beschwerden im Lendenwirbelbereich.

Diese Ausführungen des Sachverständigen sind in sich schlüssig und überzeugend, so dass das Gericht keinerlei Zweifel an deren Richtigkeit hat. Insbesondere ist hinsichtlich der Überzeugungskraft der sachverständigen Ausführungen unbeachtlich, dass dieser die aufgetretenen Beschwerden nicht als Verletzung bezeichnen wollte; insofern handelt es sich um eine rein rechtliche Frage, wie die Beschwerden nach Maßgabe des § 823 Abs. I BGB zu qualifizieren sind.

Ausgehend von den tatsächlichen Feststellungen gilt in rechtlicher Hinsicht Folgendes: Zunächst sind die durch den Unfall aktivierten Beschwerden entgegen der ärztlichen Bewertung rechtlich zu qualifizieren als Körper- oder Gesundheitsverletzung im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB. Denn unter den beiden nicht exakt voneinander abzugrenzenden Begriffen versteht man den physischen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit ebenso wie die physisch oder psychisch vermittelte Störung der inneren Lebensvorgänge, des körperlichen oder seelischen Wohlbefindens (Geigel/Rixecker, Der Haftpflichtprozess 23. Auflage, 2. Kapitel Rd.-Nr. 5). Zu einer solchen Störung des körperlichen Wohlbefindens zählen zweifellos auch Bewegungseinschränkungen und Schmerzen. Unbeachtlich ist hierbei, dass die Beschwerden wesentlich auf der substantiellen Vorschädigung beruhen; dennoch kommt ihnen als konkreter Schadensfolge Verletzungswert im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB zu.

Die vom Kläger erlittene Gesundheitsstörung ist der Beklagten zu 1) auch als Schädigerin zurechenbar. Denn fest steht, dass die konkrete Schadensfolge durch den Unfall ausgelöst oder aktiviert wurde. Unbeachtlich ist, dass der Körperschaden bei einer nicht vorgeschädigten HWS und LWS womöglich nicht eingetreten wäre; insofern gilt der allgemeine Grundsatz, dass der Schädiger den Geschädigten in dessen konkreter Beschaffenheit hinnehmen muss. In rechtlicher Hinsicht besteht ein ausreichender Kausalzusammenhang, wenn die konkrete Schadensfolge durch den Unfall jedenfalls mitverursacht worden ist, woran vorliegend kein Zweifel besteht. Am Zurechnungszusammenhang kann auch nicht teilweise im Hinblick auf den ausgelösten Asthmaanfall gezweifelt werden. Insofern ist zwar sicherlich eine psychische Komponente in Form der Aufregung vorhanden; ausgehend von der Vorbelastung des Klägers stellt der Asthmaanfall jedoch keine übermäßige Reaktion dar, die der Beklagten zu 1) nicht mehr zurechenbar wäre. Nach alledem ist der Kausalzusammenhang als gegeben anzusehen.

Damit sind die Beklagten dem Kläger zur Zahlung eines Schmerzensgeldes dem Grunde nach verpflichtet. ..."



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