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Kammergericht Berlin Beschluss vom 03.02.1997 - 1 Ss 261/96 - Kein entschuldbarer Verbotsirrtum bei pflichtgemäßer Erkenntnismöglichkeit des Verbotenseins
KG Berlin v. 03.02.1997: Kein entschuldbarer Verbotsirrtum bei pflichtgemäßer Erkenntnismöglichkeit des Verbotenseins
Das Kammergericht Berlin (Beschluss vom 03.02.1997 - (3) 1 Ss 261/96 (118/96)) hat zum Erlaubnistatbestandsirrtum entschieden:
Begeht ein Täter in einer Notwehrlage eine an sich sorgfaltswidrige Handlung, kann diese aber unter dem Gesichtspunkt des erlaubten Risikos gerechtfertigt sein. Entsprechend entfällt hier die Strafbarkeit, wenn der Angeklagte das Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzungen des erlaubten Risikos irrtümlich angenommen hat und dieser Irrtum ihm nicht vorzuwerfen ist. Hätte der Angeklagte hingegen bei pflichtgemäßer Prüfung erkennen können, dass es sich um eine polizeiliche Maßnahme handelte, befreit ihn sein Irrtum nicht von dem Fahrlässigkeitsvorwurf.
Siehe auch Tatumstandsirrtum und Verbotsirrtum im Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht
Zum Sachverhalt: Das Amtsgericht hat den Angeklagten wegen vorsätzlichen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung und wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte zu einer Gesamtgeldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 90,-- DM verurteilt. Daneben hat es ein als bereits vollstreckt geltendes Fahrverbot von drei Monaten angeordnet. Das Landgericht hat die Berufung des Angeklagten verworfen.
Die Revision des Angeklagten hatte vorläufigen Erfolg.
Aus den Entscheidungsgründen:
"... 1. Soweit der Angeklagte wegen vorsätzlichen Eingriffs in den Straßenverkehr in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung verurteilt worden ist, sind die Feststellungen zur inneren Tatseite lückenhaft. Die Urteilsgründe lassen offen, ob der Angeklagte erkannt hat, dass es sich um einen Polizeieinsatz handelte, oder ob er an einen rechtswidrigen Überfall glaubte. Die Erörterung der zweiten Möglichkeit wurde sowohl durch die Einlassung des Angeklagten als auch - wie die Staatsanwaltschaft bei dem Kammergericht in ihrer Stellungnahme zutreffend im einzelnen ausgeführt hat - durch die getroffenen Feststellungen nahegelegt. Im Rahmen der gebotenen Auseinandersetzung mit dieser Alternative war es unerlässlich, nähere Feststellungen dazu zu treffen, ob ein die Strafbarkeit ausschließender Erlaubnistatbestandsirrtum vorlag.
Hinsichtlich der Vorsatztat nach § 315 b Abs. 1 Nr. 3 StGB kommt Putativnotwehr in Betracht. In bezug auf das Fahrlässigkeitsdelikt nach § 230 StGB scheidet zwar Putativnotwehr aus, weil der Angeklagte dem vermeintlichen rechtswidrigen Angriff nicht entgegentreten, sondern ihm ausweichen wollte, so dass es am Verteidigungswillen fehlte (vgl. OLG Karlsruhe NJW 1986, 1358, 1360). Begeht ein Täter in einer Notwehrlage eine an sich sorgfaltswidrige Handlung (hier: Fahren auf dem Gehweg), kann diese aber unter dem Gesichtspunkt des erlaubten Risikos gerechtfertigt sein (vgl. OLG Karlsruhe aaO; Hirsch in LK, StGB 11. Aufl., Rdn. 33 vor § 32; Lenckner in Schönke/Schröder, StGB 24. Aufl., Rdn. 100 vor § 32). Entsprechend entfällt hier die Strafbarkeit, wenn der Angeklagte das Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzungen des erlaubten Risikos irrtümlich angenommen hat und dieser Irrtum ihm nicht vorzuwerfen ist. Hätte der Angeklagte hingegen bei pflichtgemäßer Prüfung, wobei die Besonderheit der Situation zu beachten ist, etwa aufgrund der Armbinden mit der Aufschrift "Polizei" oder der entsprechenden Ausrufe der Polizeibeamten erkennen können, dass es sich um eine polizeiliche Maßnahme handelte, befreit ihn sein Irrtum nicht von dem Fahrlässigkeitsvorwurf (vgl. Lenckner in Schönke/Schröder, aaO, Rdn. 21 vor § 32).
Da die notwendige Erörterung eines die Strafbarkeit ausschließenden Erlaubnistatbestandsirrtums unterblieben ist und der Senat nicht in der Lage ist, anhand der getroffenen Feststellungen selbst einen Strafbarkeitsausschluss zu verneinen, kann der Schuldspruch wegen vorsätzlichen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung keinen Bestand haben.
2. Die Aufhebung des Urteils und Zurückverweisung der Sache nach § 354 Abs. 2 StPO ergreift auch den Schuldspruch wegen Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte. Zwar sind die Ausführungen des Landgerichts bezüglich des Vergehens nach § 113 StGB für sich gesehen nicht zu beanstanden. Ergibt die neue Hauptverhandlung jedoch, dass der Angeklagte bereits von Anfang an wusste, dass eine polizeiliche Maßnahme durchgeführt wurde, so wären sämtliche Delikte - von der fahrlässigen Körperverletzung über den gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr bis zum Widerstand - von dem einheitlichen Willen des Angeklagten beherrscht, vor der Polizei zu fliehen, und somit in natürlicher Handlungseinheit begangen (sogenannte Polizeiflucht; vgl. BGH NJW 1990, 2551; VRS 66, 20; 48, 191, 192; 28, 359, 360/361). Trifft der Widerstand demnach möglicherweise mit den vorangegangenen Delikten tateinheitlich zusammen, ist für eine bloße Teilaufhebung des Urteils kein Raum. Denn eine Teilaufhebung ist nur in den für die Wirksamkeit der Teilanfechtung geltenden Grenzen zulässig (vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO 42. Aufl., § 353 Rdn. 6). Ein Rechtsmittel kann aber bei Tateinheit nicht auf einzelne rechtliche Gesichtspunkte des Schuldspruchs beschränkt werden (ständige Rechtsprechung). ...