Das Verkehrslexikon
Verwaltungsgericht Neustadt Beschluss vom 16.03.2006 - 3 L 357/06.NW - Zur Anlassbezogenheit einer MPU-Anordnung nach mehreren Jahren bei Radfahrer mit 2,54 ‰
VG Neustadt v. 16.03.2006: Zur Anlassbezogenheit einer MPU-Anordnung nach mehreren Jahren bei Radfahrer mit 2,54 ‰
Das Verwaltungsgericht Neustadt (Beschluss vom 16.03.2006 - 3 L 357/06.NW) hat entschieden:
Auch 3 1/2 Jahre nach der Verurteilung eines Radfahrers wegen einer Trunkenheitsfahrt mit 2,54 Promille und keinem Entzug der Fahrerlaubnis durch das Strafgericht ist es noch anlassbezogen und verhältnismäßig, zur Abklärung der Fahreignung die Beibringung eines positiven MPU-Gutachtens zu fordern und im Nichtbeibringungsfall die Fahrerlaubnis zu entziehen.
Siehe auch Stichwörter zum Thema medizinisch-psychologische Untersuchung (MPU)
Aus den Entscheidungsgründen:
"... Die Entziehung der Fahrerlaubnis erfolgte zu Recht, weil der Antragsteller das von ihm geforderte medizinisch-psychologische Gutachten nicht beigebracht hat (§ 3 Abs. 1 Satz 1 Straßenverkehrsgesetz - StVG - i.V.m. §§ 46 Abs. 1, 11 Abs. 8 Fahrerlaubnis-Verordnung - FeV - (BGBl. I 1998, S. 2214 ff.)). Werden der Fahrerlaubnisbehörde Tatsachen bekannt, die Bedenken begründen, dass der Inhaber einer Fahrerlaubnis nicht zum Führen eines Kraftfahrzeuges geeignet ist, so kann sie nach § 46 Abs. 3 FeV zur Vorbereitung ihrer Entscheidung über die Entziehung der Fahrerlaubnis von dem Betreffenden nach den §§ 11 bis 14 FeV die Beibringung eines ärztlichen oder eines medizinisch-psychologischen Gutachtens fordern. Die Einholung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens kann dann nach § 13 Nr. 2 c FeV angeordnet werden, wenn ein Fahrzeug im Straßenverkehr bei einer Blutalkoholkonzentration von 1,6%o oder mehr geführt wurde. Wird ein danach zu Recht angefordertes Gutachten nicht vorgelegt, kann die Fahrerlaubnisbehörde auf die Ungeeignetheit des Betroffenen zum Führen eines Kraftfahrzeuges schließen (§ 11 Abs. 8 FeV). Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall erfüllt.
Der Antragsgegner hat in rechtlich nicht zu beanstandender Weise von dem Antragsteller die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens gefordert.
Der Antragsteller hat nach den Feststellungen in dem seit dem 13. November 2002 rechtskräftigen Strafbefehl des Amtsgerichts Kandel (Az.: 7084 Js 010991/02-Cs) im öffentlichen Straßenverkehr ein Fahrzeug, wozu auch Fahrräder gehören, geführt, obwohl er infolge des Genusses alkoholischer Getränke nicht mehr in der Lage war, das Fahrzeug sicher zu führen. Er kam mit seinem Fahrrad am 6. Juli 2002, 3:30 Uhr, zu Fall und blieb auf der Straße liegen. Bei dem Antragsteller war eine Blutalkoholkonzentration von 2,54%o festgestellt worden. Aufgrund dieses Tatbestandes bestehen Zweifel an seiner Fahreignung und der Antragsgegner war berechtigt, gemäß § 13 Nr. 2c FeV von ihm die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens zu fordern, obwohl dieser nicht als Kraftfahrer, sondern als Radfahrer aufgefallen ist (vgl. BVerwG, Beschluss vom 09. September 1996 - 11 B 61/96 -; Urteil vom 27. September 1995 - 11 B 34/94 -, BVerwGE 99, 249 ff.).
Der Antragsgegner war nicht durch den genannten Strafbefehl gehindert, die Frage der Eignung des Antragstellers zum Führen eines Kraftfahrzeuges zu überprüfen. Nur dann, wenn der Strafrichter im Rahmen des § 69 StGB die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen zu beurteilen hatte und nachprüfbar tatsächlich auch beurteilt hat, ist die Verwaltungsbehörde an diese Entscheidung nach Maßgabe des § 3 Abs. 4 StVG gebunden. In allen anderen Fällen - wie hier - ist aber die zuständige Straßenverkehrsbehörde nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet, in eigener Zuständigkeit unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und der Gesamtpersönlichkeit zu prüfen, ob einem Fahrerlaubnisinhaber die notwendige Eignung zum Führen eines Kraftfahrzeuges fehlt.
Die Aufforderung, sich einer medizinisch-psychologischen Untersuchung zu unterziehen, ist aber nur dann rechtmäßig, wenn sie anlassbezogen und verhältnismäßig ist. Diese Voraussetzungen hat das Bundesverwaltungsgericht zu § 15 b StVZO a.F. entwickelt (vgl. BVerwG, Urteil vom 12. März 1985 - BVerwG 7 C 26.83 - BVerwGE 71, 93 <95>; Urteil vom 13. November 1997 - BVerwG 3 C 1.97 - Buchholz 442.16 § 15 b StVZO Nr. 28; Urteil vom 5. Juli 2001 - BVerwG 3 C 13.01 - Buchholz 442.16 § 15 b StVZO Nr. 29 S. 3). Sie sind auch bei der Anwendung der Fahrerlaubnis-Verordnung zu beachten (vgl. Hentschel, Straßenverkehrsrecht 37. Auflage 2003, § 11 FeV Rn. 24). Der Verordnungsgeber hat in der Begründung zu § 11 Abs. 8 FeV ausdrücklich auf die zur alten Rechtslage ergangene Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts Bezug genommen (BRDrucks 443/98 S. 257). Das Verlangen nach einer medizinisch-psychologischen Untersuchung verstößt vorliegend nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit; es ist noch anlassbezogen.
Der Anforderung des Gutachtens stand nicht die seit der Trunkenheitsfahrt verstrichene Zeit entgegen.
Der Antragsgegner war nicht daran gehindert, ein Gutachten nach § 13 Nr. 2 c FeV zu fordern, weil der Antragsteller sich in der Zwischenzeit - wie er vorträgt - bewährt habe. Zum einen ist allgemein bekannt, dass die Dunkelziffer bei Trunkenheitsfahrten hoch ist. Die Tatsache, dass keine weitere Trunkenheitsfahrt aktenkundig wurde, belegt also nicht, dass eine solche nicht stattgefunden hat. Zum andern ist auch nicht von einer von Gesetzes wegen anzunehmenden Bewährung auszugehen. Nach §§ 29 Abs. 8, 28 Abs. 2 Nr. 1 StVG darf eine ins Verkehrszentralregister eingetragene gerichtliche Entscheidung und die ihr zugrunde liegende Tat dem Betroffenen dann nicht mehr vorgehalten und zu seinem Nachteil verwendet werden, wenn sie im Verkehrszentralregister getilgt ist. Die Tilgung der Eintragung im Verkehrszentralregister nach Ablauf der Tilgungsfristen des § 29 Abs. 1 Satz 1 StVG beruht auf dem Gedanken der Bewährung. Ist ein Kraftfahrer innerhalb der Tilgungsfrist nicht wegen Verkehrsverstößen im Straßenverkehr aufgefallen, so kann eine von ihm ausgehende Gefahr für die Verkehrsicherheit nicht mehr angenommen werden. Im vorliegenden Fall wurde die Trunkenheitsfahrt vom 6. Juli 2002 aber noch nicht getilgt und ist auch noch nicht tilgungsreif. Sie kann also noch zum Nachteil des Antragstellers verwendet werden.
Allerdings kann nicht jede in der Vergangenheit liegende, aber im Verkehrszentralregister noch nicht getilgte Fahrt unter Alkoholeinfluss als Grundlage für die Anforderung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens herangezogen werden. Das ergibt sich schon aus der Verweisungsnorm des § 46 Abs. 3 FeV, wonach Tatsachen bekannt geworden sein müssen, die Bedenken gegen die Kraftfahreignung des Betroffenen begründen.
Der erfolgte Alkoholkonsum muss jedoch nach Gewicht und unter zeitlichen Gesichtspunkten noch geeignet sein, die Kraftfahreignung in Zweifel zu ziehen. Das ergibt sich auch aus dem im Rechtsstaatsprinzip verankerten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Die Anordnung, ein medizinisch-psychologisches Gutachten beizubringen, greift in erheblicher Weise in das Persönlichkeitsrecht des Betroffenen ein. Ihm wird zugemutet, anderen Einblick in Kernbereiche seiner Persönlichkeit zu geben. Ein solcher Eingriff ist nur gerechtfertigt, wenn er zur Abwehr einer bei realistischer Einschätzung tatsächlich bestehenden Gefahr noch notwendig ist.
Schematisch festgelegte Zeiten, nach deren Ablauf ein Alkoholkonsum im Rahmen des § 13 Nr. 2 c FeV unbeachtlich werden soll, werden dem Maßstab des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Kontext der Alkoholproblematik nicht gerecht. Eine generalisierende Betrachtungsweise trägt den Gefahren, deren Bekämpfung § 13 Nr. 2 c FeV dient, nicht hinreichend Rechnung. Erforderlich ist vielmehr eine Einzelfallbetrachtung unter Einbeziehung aller relevanten Umstände. Entscheidend ist, ob die gegebenen Verdachtsmomente noch einen Gefahrenverdacht begründen (vgl. zur ähnlichen Problematik bzgl. anderer Drogen BVerwG, Urteil vom 9. Juni 2005 - 3 C 25/05 -, NJW 2005, 3081).
Von besonderem Gewicht ist somit Art und Ausmaß des früheren Alkoholkonsums. In diesem Zusammenhang kommt der Blutalkoholkonzentration eine entscheidende Bedeutung zu. Sie lässt Rückschlüsse auf den Alkoholkonsum und damit die Alkoholgewöhnung zu. Ab einer Blutalkoholkonzentration von 1,6 Promille bei dem Führer eines Fahrzeugs im Straßenverkehr hält der Gesetzgeber eine Alkoholproblematik von solchem Ausmaß für gegeben, die es rechtfertigt, von dem Betroffenen eine mit einem Eingriff in das Persönlichkeitsrecht des Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz - GG - verbundene medizinisch-psychologische Untersuchung zu fordern. Werden derartige Werte bei Fahrern im Straßenverkehr festgestellt, so ist die Annahme eines chronischen Alkoholkonsums mit besonderer Gewöhnung und Verlust der kritischen Einschätzung des Verkehrsrisikos berechtigt. Bei solchen Verkehrsteilnehmern liegt in der Regel ein Alkoholproblem vor, das die Gefahr weiterer Alkoholauffälligkeiten im Straßenverkehr mit sich bringt. Durch die allgemeine Verfügbarkeit des Alkohols besteht nicht nur bei Alkoholabhängigkeit, sondern auch bei Alkoholmissbrauch eine hohe Rückfallgefahr, so dass im Einzelfall strenge Maßstäbe anzulegen sind, bevor eine positive Prognose zum Führen von Kraftfahrzeugen gestellt werden kann. Tragfähige Strategien für die Entwicklung der Kontrolle über den Alkoholkonsum als Voraussetzung zur Trennung von Alkoholkonsum und Teilnahme am motorisierten Straßenverkehr werden daher gefordert. Eine sorgfältige Auseinandersetzung mit den Ursachen und der Entwicklung des früheren Alkoholmissbrauchs hat zu erfolgen. Selbst wenn kein Alkohol mehr konsumiert wird, stellt sich danach die Frage nach der Stabilität des Einstellungswandels, die nur durch eine entsprechende Untersuchung zu klären ist (siehe hierzu Begutachtungs-Leitlinien, Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen, Mensch und Sicherheit, Heft M 115, Erscheinungsjahr 2000, S. 42/43).
Unter Berücksichtigung dieser wissenschaftlichen Erkenntnisse und der daraus folgenden durch Fachleute aufgestellten Forderungen genügt es nicht, wenn der Betroffene lediglich darauf verweist, er sei nach der aktenkundigen Trunkenheitsfahrt nicht mehr im Straßenverkehr unter Alkoholeinfluss auffällig geworden, da bei derartigen Delikten die Dunkelziffer hoch ist. Da der Antragsteller leugnet ein Alkoholproblem zu haben, rechtfertigen es die von ihm erreichte Blutalkoholkonzentration von 2,54 Promille und die Fahrt auf einem Fahrrad, die an den Gleichgewichtssinn besondere Anforderungen stellt, unter diesem hohen Alkoholeinfluss nach den obigen Ausführungen auch dreieinhalb Jahre nach der Trunkenheitsfahrt, der Frage der Fahreignung des Antragstellers, insbesondere unter dem Aspekt eines Einstellungswandels zum Alkohol, nachzugehen. Das zur Abklärung hierzu geeignete und erforderliche Mittel ist allein eine medizinisch-psychologische Begutachtung. ..."