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Bundesverfassungsgericht Beschluss vom 24.06.1993 - 1 BvR 689/92 - Zur Qualität der MPU-Anordnung als schwerwiegenden Eingriff in das Persönlichkeitsrecht des Betroffenen

BVerfG v. 24.06.1993: Zur Qualität der MPU-Anordnung als schwerwiegenden Eingriff in das Persönlichkeitsrecht des Betroffenen


Das Bundesverfassungsgericht (Beschluss vom 24.06.1993 - 1 BvR 689/92) hat bezüglich der MPU-Anordnung als schwerwiegendem Grundrechtseingriff ausgeführt:
Durch die Anordnung, ein medizinisch-psychologisches Gutachten einzuholen und der Behörde vorzulegen, wird in den Schutzbereich der privaten Lebensführung als Ausfluss des allgemeinen Persönlichkeitsrechts eingegriffen. Jeder Bürger muss jedoch staatliche Maßnahmen hinnehmen, die im überwiegenden Interesse der Allgemeinheit auf gesetzlicher Grundlage unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgebots getroffen werden, soweit sie nicht den unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung beeinträchtigen.


Siehe auch Stichwörter zum Thema medizinisch-psychologische Untersuchung (MPU)


Anmerkung: Die Entscheidung bezieht sich noch auf den früheren § 15 b StVZO als Grundlage für die Entziehung der Fahrerlaubnis; derzeit sind die Grundlagen für die Fahrerlaubnis-Entziehung in der Fahrerlaubnisverordnung (FeV) geregelt.

Aus den Entscheidungsgründen:

"... Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistet in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG das allgemeine Persönlichkeitsrecht. Dieses Recht schützt grundsätzlich vor der Erhebung und Weitergabe von Befunden über den Gesundheitszustand, die seelische Verfassung und den Charakter (vgl. BVerfGE 32, 373 <378 ff.>; 44, 353 <372 f.>; 65, 1 <41 f.>; 78, 77 <84>; 84, 192 <194 f.>). Der Schutz ist um so intensiver, je näher die Daten der Intimsphäre des Betroffenen stehen, die als unantastbarer Bereich privater Lebensgestaltung gegenüber aller staatlicher Gewalt Achtung und Schutz beansprucht (vgl. BVerfGE 32, 373 <378 f.>; 65, 1 <45 f.>).

b) Das von der Straßenverkehrsbehörde geforderte Gutachten setzt die Erhebung höchstpersönlicher Befunde, die unter den Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts fallen, voraus. Das gilt nicht nur für den medizinischen, sondern in gesteigertem Maße auch für den psychologischen Teil der Untersuchung.

Gegenstand des medizinischen Teils einer zur Feststellung der Fahreignung angeordneten medizinisch-psychologischen Untersuchung sind der allgemeine Gesundheitszustand, der Bewegungsapparat, das Nervensystem, unter Umständen auch innere Organe, die Sinnesfunktionen, die psychische Verfassung, die Reaktionsfähigkeit und die Belastbarkeit (vgl. dazu und zum Folgenden: Himmelreich/Janker, MPU-Begutachtung, 1992, S. 130 ff.). Bei Verdacht auf Drogenkonsum werden entsprechende Konsumgewohnheiten durch labormäßige Harnuntersuchungen (Drogenscreening) erkundet. Schwere zurückliegende und gegenwärtige Krankheiten in der Familie des Untersuchten werden erfragt. Dazu gehören auch Fragen nach Alkohol- oder Drogenkonsumgewohnheiten im Zusammenhang mit früheren und heutigen Lebensumständen. Die neurologische Untersuchung erstreckt sich auf Reflexe sowie Zittern von Händen, Kopf und Augenlidern.

Der Psychologe erforscht zunächst den Lebenslauf: Elternhaus, Ausbildung, Beruf, Familienstand, Kinder, besondere Krankheiten, Operationen, Alkohol, Rauchen, finanzielle Verhältnisse, Freizeitgestaltung. Sodann werden Ablauf und Ursachen etwaiger Gesetzesverstöße und die vom Betroffenen daraus gezogenen Lehren erörtert. Leistungsfähigkeit, Verhalten unter Leistungsdruck, Schnelligkeit und Genauigkeit der optischen Wahrnehmung, Reaktionsvermögen bei schnell wechselnden optischen und akustischen Signalen und Konzentration werden getestet.

Diese Befunde stehen dem unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung noch näher als die rein medizinischen Feststellungen, die bei der geforderten Untersuchung zu erheben sind. Sie sind deswegen stärker von Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG geschützt. Die bei dem psychologischen Teil der Untersuchung ermittelten Befunde zum Charakter des Betroffenen berühren seine Selbstachtung ebenso wie sein gesellschaftliches Ansehen. Er muß die Einzelheiten in einer verhörähnlichen Situation offenlegen. Hinzu kommt, daß die Beurteilung des Charakters im wesentlichen auf einer Auswertung von Explorationsgesprächen beruht, einer Methode, die nicht die Stringenz von Laboruntersuchungen aufweist und Unwägbarkeiten nicht ausschließt.

2. In diesen Schutzbereich ist durch die Anordnung, ein medizinisch-psychologisches Gutachten einzuholen und der Behörde vorzulegen, eingegriffen worden.

Es stand dem Beschwerdeführer zwar frei, ob er der Anordnung folgen wollte. Für den Fall seiner Weigerung hatte die Behörde jedoch die Entziehung der Fahrerlaubnis angekündigt. Jedenfalls die Ankündigung dieser Rechtsfolge, die der ständigen Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte entspricht, verleiht bereits der auf § 15 b Abs. 2 StVZO gestützten Gutachtenanforderung Eingriffscharakter (vgl. BVerfGE 74, 264 <281 ff.>).

3. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht ist allerdings nicht absolut geschützt. Vielmehr muß jeder Bürger staatliche Maßnahmen hinnehmen, die im überwiegenden Interesse der Allgemeinheit auf gesetzlicher Grundlage unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgebots getroffen werden, soweit sie nicht den unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung beeinträchtigen (vgl. BVerfGE 32, 273 <279>; 65, 1 <44>). Hier ist der Eingriff jedoch nicht gerechtfertigt.

a) Gegen die gesetzliche Grundlage, auf die die angegriffenen Entscheidungen gestützt werden, bestehen allerdings keine Bedenken.

§ 15 b Abs. 2 StVZO findet in § 6 Abs. 1 Nr. 1 StVG eine Ermächtigungsgrundlage, die den Anforderungen des Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG genügt. Die Norm selbst entspricht rechtsstaatlichen Anforderungen; sie ist insbesondere hinreichend bestimmt. Nach dem Rechtsstaatsprinzip müssen Vorschriften so bestimmt gefaßt sein, wie dies nach der Eigenart der zu ordnenden Sachverhalte und mit Rücksicht auf den Normzweck möglich ist. Auslegungsbedürftigkeit macht eine Norm nicht unbestimmt (vgl. BVerfGE 78, 205 <212> m.w.N.; st. Rspr.). Diesen Anforderungen genügt § 15 b Abs. 2 StVZO jedenfalls in dem Verständnis, das die Vorschrift in der Praxis der Gerichte und Behörden gefunden hat. Nach der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte, der die Straßenverkehrsbehörden folgen, setzt die Anforderung eines Gutachtens nach § 15 b Abs. 2 StVZO voraus, daß aufgrund konkreter tatsächlicher Anhaltspunkte Bedenken gegen die Kraftfahreignung des Betroffenen bestehen und daß das angeforderte Gutachten ein geeignetes und verhältnismäßiges Mittel ist, um die aufgetauchten Eignungszweifel aufzuklären (vgl. etwa BVerwG, Buchholz, 442.10, § 4 StVG). Eine genauere tatbestandliche Umschreibung ist nach der Eigenart des zu regelnden Sachverhalts und mit Rücksicht auf den Normzweck kaum möglich.

Auch in materieller Hinsicht bestehen gegen § 15 b Abs. 2 StVZO keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Der Straßenverkehr birgt hohe Risiken für Leben, Gesundheit und Eigentum vieler Bürger. An die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen müssen daher hohe Anforderungen gestellt werden. Um dies sicherzustellen, ist auch eine präventive Kontrolle von Kraftfahrern, wie sie in § 4 Abs. 1 StVG, § 15 b StVZO vorgesehen ist, grundsätzlich verfassungsrechtlich unbedenklich.

b) Die Gerichte haben jedoch bei der Auslegung des § 15 b Abs. 2 StVZO dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht nicht hinreichend Rechnung getragen. Sie haben insbesondere nicht beachtet, daß die Auslegung nicht zu einer unverhältnismäßigen Grundrechtsbeschränkung führen darf.

Dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht wird bei der Auslegung des § 15 b Abs. 2 StVZO unter Berücksichtigung der allgemeinen gesetzlichen Maßstäbe für die Erteilung und Entziehung der Fahrerlaubnis nur dann angemessen Rechnung getragen, wenn die Anforderung eines Gutachtens sich auf solche Mängel bezieht, die bei vernünftiger, lebensnaher Einschätzung die ernsthafte Besorgnis begründen, daß der Betroffene sich als Führer eines Kraftfahrzeugs nicht verkehrsgerecht und umsichtig verhalten wird. Außerdem ist nicht bereits jeder Umstand, der auf die entfernt liegende Möglichkeit eines Eignungsmangels hindeutet, ein hinreichender Grund für die Anforderung eines medizinisch- psychologischen Gutachtens. Vielmehr müssen der Entscheidung über die Anforderung tatsächliche Feststellungen zugrundegelegt werden, die einen Eignungsmangel als naheliegend erscheinen lassen. Schließlich ist bei der Entscheidung über die Art des nach § 15 b Abs. 2 Nr. 1 bis 3 StVZO anzufordernden Gutachtens dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Betroffenen Rechnung zu tragen. ..."



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