Das Verkehrslexikon
Verwaltungsgericht München Beschluss vom 05.11.2004 - M 6a S 04.2546 - Keine abgestuften Maßnahmen vor einer MPU-Anordnung als Ermessensentscheidung
VG München v. 05.11.2004: Keine abgestuften Maßnahmen vor einer MPU-Anordnung als Ermessensentscheidung
Das Verwaltungsgericht München (Beschluss vom 05.11.2004 - M 6a S 04.2546) hat entschieden:
Bei der nach § 11 Abs. 3 FeV zu treffenden Ermessensentscheidung zur Überprüfung der Fahreignung durch Anordung einer MPU gibt es im Gegensatz zu den Entscheidungen nach Abs. 2 oder Abs. 4 keine vorrangigen abgestuften Überprüfungsmaßnahmen (ärztliches Gutachten, Gutachten eines amtlich anerkannten Gutachters oder Prüfers).
Siehe auch Stichwörter zum Thema medizinisch-psychologische Untersuchung (MPU)
Zum Sachverhalt: Der Antragsteller war Inhaber einer Fahrerlaubnis der Klasse 3 (alt).
- Mit Strafbefehl des Amtsgerichts I. vom Oktober 1997 (rechtskräftig seit Januar 1998) wurde gegenüber dem Antragsteller wegen fahrlässiger Gefährdung des Straßenverkehrs gem. § 315 c Abs. 1 Nr. 1a, Abs. 3 Nr. 2 StGB eine Geldstrafe von 40 Tagessätzen festgesetzt; ebenfalls wurde ihm die Fahrerlaubnis entzogen. Nach den Gründen des Strafbefehls hatte der Antragsteller bei einer Blutalkoholkonzentration von 1,33 Promille ein Fahrzeug geführt und infolge seiner alkoholbedingten Fahruntüchtigkeit im Rahmen eines Überholvorgangs ein Fahrzeug touchiert. Die Antragsgegnerin erteilte dem Antragsteller nach Ablauf der Sperrfrist im Dezember 1998 die Fahrerlaubnis wieder.
- Mit einem weiteren Strafbefehl des Amtsgerichts P. vom März 2000 (rechtskräftig seit April 2000) wurde gegen den Antragsteller eine Geldstrafe von 20 Tagessätzen wegen zwei tateinheitlichen Beleidigungen verhängt, weil er im Oktober 1999 aus seinem Personenkraftwagen heraus auf der Abfahrt von der Bundesstraße 13 auf die Bundesstraße 300 gerichtet an zwei andere Verkehrsteilnehmer kreisende Bewegung mit der Hand vor dem Gesicht (sog. ”Scheibenwischer”) machte und sodann mit dem Zeigefinger an die Stirn tippte.
- Durch Urteil des Amtsgerichts P. vom Januar 2001 (rechtskräftig seit März 2001) wurde der Antragsteller wegen versuchter Nötigung in Tatmehrheit mit Beleidigung zu einer Gesamtgeldstrafe von 50 Tagessätzen verurteilt; des Weiteren wurde ihm im Urteil auf die Dauer von einem Monat verboten, Kraftfahrzeuge jeder Art zu führen. In den Urteilsgründen wird ausgeführt, dass der Antragsteller am ... Oktober 2000 auf einem Streckenabschnitt einer Bundesautobahn, auf dem aufgrund einer polizeilichen Großkontrollstelle die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf 60 km/h begrenzt worden war, einem vorausfahrenden PKW mit einem derart geringen Abstand auffuhr, dass die Fahrerin des betroffenen Fahrzeugs in ihrem Innenspiegel lediglich die Scheinwerfer des PKW des mit Nötigungsabsicht die Lichthupe betätigenden Antragstellers erkennen konnte. Nach Aufhebung der Geschwindigkeitsbegrenzung tippte der Antragsteller, als er sich beim Überholvorgang auf gleicher Höhe mit dem zuvor vorausfahrenden Fahrzeug befand, unter Blickkontakt zur Fahrerin dieses PKW mit dem Zeigefinger gegen seine Stirn.
- Im Juli 2003 berichtete die Verkehrspolizeidirektion M. der Antragsgegnerin über eine weitere Ermittlung gegen den Antragsteller wegen Nötigung im Straßenverkehr. Die hierzu ergangene Anklageschrift der Staatsanwaltschaft M. vom Juli 2003 legte dem Antragsteller zur Last, am April 2003 gegen 14.00 Uhr mit einem LKW (VW, amtliches Kennzeichen ...) auf dem Mittleren Ring in M. sich nach einem Überholvorgang vor einen anderen LKW gesetzt zu haben und sodann ohne Grund von einer Geschwindigkeit von 60 km/h auf ca. 20 km/h abgebremst zu haben, um den Fahrer des überholten LKW ebenfalls zum Abbremsen zu zwingen; dies habe sich bis zur Autobahnauffahrt zur BAB A 9 noch zumindest sechsmal wiederholt. Mit Urteil des Amtsgerichts M. vom Oktober 2003 (rechtskräftig seit Oktober 2003) wurde der Antragsteller wegen fortgesetzter Nötigung zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen verurteilt; gleichzeitig wurde gegen den Antragsteller ein Fahrverbot von drei Monaten verhängt.
- Im November 2003 teilte das Kraftfahrt-Bundesamt der Antragsgegnerin unter Vorlage von Auszügen aus dem Verkehrszentralregister mit, dass beim Antragsteller mittlerweile 17 Punkte nach dem Punktesystem des StVG und der FeV vorlägen. U.a. ist den übersandten Unterlagen zu entnehmen, dass der Antragsteller im Juni 2002 die zulässige Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 26 km/h überschritten hatte, was als Ordnungswidrigkeit verfolgt wurde (Datum der Entscheidung: Oktober 2002; Datum der Rechtskraft: Oktober 2002). Ob und ggf. welche Maßnahmen gem. § 4 Abs. 3 StVG seitens der Antragsgegnerin hierauf ergangen sind, ist nach Aktenlage nicht ersichtlich.
Mit Schreiben vom Januar 2004 ordnete die Antragsgegnerin gegenüber dem Antragsteller unter Berufung auf § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 FeV die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens bis zum März 2004 zwecks Überprüfung der Fahreignung hinsichtlich körperlicher und geistiger Anforderungen an. Wegen Nichtvorlage des Gutachtens entzog die Behörde dem Antragsteller die Fahrerlaubnis mit Sofortvollzug.
Der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung blieb erfolglos.
Aus den Entscheidungsgründen:
"... Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG i.V.m. § 46 Abs. 1 Satz 1 FeV hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich deren Inhaber als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Dies gilt gemäß § 46 Abs. 1 Satz 2 FeV insbesondere, wenn Erkrankungen oder Mängel nach den Anlagen 4, 5 oder 6 vorliegen, oder erheblich oder wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder Strafgesetze verstoßen wurde und dadurch die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ausgeschlossen ist.
Nach § 46 Abs. 3 FeV finden die §§ 11 bis 14 FeV entsprechende Anwendung, wenn Tatsachen bekannt werden, die Bedenken begründen, dass der Inhaber einer Fahrerlaubnis zum Führen eines Kraftfahrzeugs ungeeignet oder bedingt geeignet ist. Weigert sich der Betroffene, sich auf eine solche Anordnung hin untersuchen zu lassen oder bringt er der Fahrerlaubnisbehörde das von ihr geforderte Gutachten nicht fristgerecht bei, so darf Letztere bei ihrer Entscheidung gem. § 46 Abs. 3 FeV i.V. mit § 11 Abs. 8 FeV auf die Nichteignung des Betroffenen schließen.
Voraussetzung ist allerdings insoweit, dass die Untersuchungsanordnung rechtmäßig ist und die Weigerung ohne ausreichenden Grund erfolgt (Hentschel, Straßenrecht, 37. Aufl. 2003, § 11 FeV, Rn. 22 u. 24, m.w.N.). Nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts ist hiervon auszugehen:
§ 11 FeV führt bestimmte Sachverhalte an, die ein Verlangen nach Beibringung eines fachärztlichen oder eines medizinisch-psychologischen Gutachtens rechtfertigen. Die Berechtigung, ein Fahreignungsgutachten zu verlangen, ergibt sich im vorliegenden Fall aus § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 FeV. Danach kann die Fahrerlaubnisbehörde u.a. bei Straftaten, die im Zusammenhang mit dem Straßenverkehr stehen, die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens zur Klärung von Eignungszweifeln anordnen. Die Tatbestandsvoraussetzungen dieser Vorschrift sind vorliegend erfüllt. Der Antragsteller wurde zwischen 1997 und 2003 wiederholt aufgrund von Delikten, die er im Zusammenhang mit dem Straßenverkehr begangen hatte, strafrechtlich belangt. Diese, im einzelnen oben unter I. beschriebenen Straftaten im Zusammenhang mit dem Straßenverkehr unterliegen mangels Tilgungsreife - vgl. § 29 Abs. 1 i.V. mit Abs. 6 Satz 3 StVG bzw. § 45 Abs. 1, 46 BZRG - noch keinem Verwertungsverbot (§ 29 Abs. 8 StVG, § 51 Abs. 1 und 2 BZRG). Die Fahrerlaubnisbehörde durfte daher nach der Ermessensregelung des § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 FeV vom Antragsteller die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens anfordern, um dessen Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen im Sinne des § 2 Abs. 4 Satz 1 StVG zu klären.
Es sind auch keine Ermessensfehler ersichtlich. Die Antragsgegnerin hat erkennbar hinsichtlich der Anordnung der medizinisch-psychologischen Untersuchung Ermessen ausgeübt und dabei keine sachwidrigen Erwägungen angeführt. Der noch im Schreiben vom 1. April 2004 erhobene Vorwurf, die Antragsgegnerin habe dem Antragsteller eine bestimmte Begutachtungsstelle vorgegeben, erweist sich nach Aktenlage als unbegründet; der diesbezügliche Vortrag wurde im gerichtlichen Verfahren auch nicht weiter aufrechterhalten. Insbesondere verstößt die Anordnung zur Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens auch nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Im Anwendungsbereich des § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 FeV verlangt das Übermaßverbot keine vorrangige Beibringung eines ärztlichen Gutachtens gem. § 11 Abs. 2 FeV oder eines Gutachtens eines amtlich anerkannten Sachverständigen oder Prüfers für den Kraftfahrzeugverkehr gem. § 11 Abs. 4 FeV. Dies zeigt der systematische Vergleich zu § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FeV, der in seinem Anwendungsbereich ein solches Stufenverhältnis ausdrücklich als Rechtmäßigkeitsvoraussetzung festschreibt. Der vorliegend als Rechtmäßigkeitsmaßstab fungierende § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 FeV ist aber insofern eigenständige, speziellere Regelung und verzichtet unter den in seinem Tatbestand umschriebenen Voraussetzungen auf vorrangige Maßnahmen, wie sie der allgemeinere § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 für notwendig hält. Nach dem Übermaßverbot lässt sich auch keine vom Antragsteller behauptete Regel aufstellen, wonach gegenüber einer auf § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 FeV gestützten Anforderung einer medizinisch-psychologischen Begutachtung Maßnahmen nach § 48 StVO (Verkehrsunterricht) oder nach § 4 Abs. 7 und 8 StVG (Aufbauseminar, verkehrspsychologische Beratung) vorrangig wären.
Denn im Falle von Anhaltspunkten für eine mangelnde Fahreignung, die gerade durch Maßnahmen wie § 11 Abs. 3 FeV - als mögliche Vorstufe einer anschließend notwendigen Entziehung der Fahrerlaubnis - einer Aufklärung zugeführt werden sollen, wären die o.g. vom Antragsteller vorgebrachten Alternativen zur Abwehr von Gefahren für die übrigen Verkehrsteilnehmer von erheblich geringerer Effizienz. Im übrigen widerspräche die Übertragung des Maßnahmekatalogs gem. § 4 Abs. 3, 8 und 9 StVG auf die Fälle des § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4, Abs. 8 FeV der Gesetzessystematik, da § 4 StVG nicht analogiefähige Spezialregelungen für die Entziehung der Fahrerlaubnis nach dem Punktesystem gem. StVG/FeV vorsieht. Wenngleich Vieles dafür spricht, dass eine nach § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 FeV anzuordnende medizinisch-psychologische Untersuchung als Einheit anzusehen ist (vgl. auch Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 37. Aufl. 2003, zu § 11 FeV, Rn. 11), kann das Gericht im vorliegenden Fall die Frage dahin stehen lassen, ob, wie der Antragsteller unter Berufung auf die bundesverwaltungsgerichtliche Rechtsprechung zur früheren Rechtslage vorträgt, § 11 Abs. 3 Satz 1 FeV am Maßstab des Übermaßverbots in der Weise teleologisch zu reduzieren ist, dass nur ein psychologisches - und kein medizinisch-psychologisches - Gutachten angefordert werden dürfe, wenn eine medizinische Begutachtung mangels Fallrelevanz keinerlei Aufklärung verspricht. Im vorliegenden Fall mögen die den Tatbestand des § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 FeV erfüllenden Straftaten auf mangelnde Anpassungsbereitschaft des Antragstellers zurückzuführen sein, jedoch erscheint nicht von vornherein ausgeschlossen, dass diese - neben eventuellen Bedenken in charakterlicher Hinsicht - auch auf körperlichen Mängeln beruht (vgl. insofern auch die von der Behörde formulierte Frage, die das Gutachten zu klären hat, Bl. 49 Rückseite der Behördenakten). Insofern ist eine Untersuchung auch in medizinischer Hinsicht nicht ohne jeden Sinn.
Da die Antragsgegnerin damit zu Recht, insbesondere unter Berücksichtigung des Übermaßverbots ermessensfehlerfrei die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens gefordert hatte und der Antragsteller dieses nicht vorlegte, konnte sie nach § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV auf seine Nichteignung zum Führen von Kraftfahrzeugen schließen. Die Antragsgegnerin konnte - zumal keinerlei Anlass zu einer nochmaligen Fristsetzung zur Vorlage eines Gutachtens ggf. einer anderen Begutachtungsstelle bestand - im Hinblick auf das gesamte Verhalten des Antragstellers im Verwaltungsverfahren davon ausgehen, dass dieser einen Eignungsmangel verbergen wollte (vgl. Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 37. Aufl. 2003, Rn. 22 zu § 11 FeV). Sie hatte ihm deshalb zwingend, d.h. ohne dass diesbezüglich ein Ermessen auszuüben war, gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG i.V.m. § 46 Abs. 1 Satz 1 FeV wegen Nichteignung die Fahrerlaubnis zu entziehen. Darauf war der Antragsteller auch hingewiesen worden (§ 11 Abs. 8 Satz 2 FeV). Da der Behörde insofern kein Ermessen verblieb, hatte sie hinsichtlich Ziffer 1. des Bescheides die Folgen der Fahrerlaubnisentziehung für die selbständige Tätigkeit des Antragstellers sowie für den Lebensunterhalts seiner Familie nicht zu berücksichtigen.
Da nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage der Bescheid vom ... April 2004 rechtmäßig ist und daher der Widerspruch sowie eine eventuell sich anschließende Anfechtungsklage des Antragstellers voraussichtlich keinen Erfolg haben, verbleibt es beim Vorrang des öffentlichen Interesses am Sofortvollzug gegenüber dem privaten Suspensivinteresse des Antragstellers. Der Antragsteller hat es im öffentlichen Interesse hinzunehmen, zunächst bis zum Abschluss des Verwaltungsverfahrens (Widerspruchsverfahren) und eines ggf. folgenden Verwaltungsstreitverfahrens in der Hauptsache nicht mehr am Straßenverkehr teilnehmen zu können. Im Rahmen der Interessenabwägung konnte sich nicht zu Gunsten des Antragstellers auswirken, dass seit der letzten Straftat im Zusammenhang mit dem Straßenverkehr einige Zeit bis zur endgültigen Entziehung der Fahrerlaubnis verstrichen ist. Denn bei Maßnahmen im sicherheitsrechtlichen Bereich besteht die Gefahrenlage unabhängig davon, wie schnell die Behörde reagiert. Auch konnte im Rahmen der Interessenabwägung nicht zu Gunsten des Antragstellers berücksichtigt werden, dass er auf die Fahrerlaubnis im Rahmen seiner Berufsausübung dringend angewiesen ist. Gerade bei berufsbedingter und deshalb verstärkter Verkehrsteilnahme von für fahrungeeignet gehaltenen Kraftfahrern ist das öffentliche Interesse an der Entziehung der Fahrerlaubnis besonders hoch, um mögliche Straßenverkehrsgefährdungen auszuschließen. ..."