Das Verkehrslexikon

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Verwaltungsgericht Sigmaringen Beschluss vom 19.01.2001 - 2 K 59/01 - Zur Annahme von Alkoholabhängigkeit bei einem Berufskraftfahrer bei häuslichem Konsum

VG Sigmaringen v. 19.01.2001: Zur Annahme von Alkoholabhängigkeit bei einem Berufskraftfahrer bei häuslichem Konsum


Das Verwaltungsgericht Sigmaringen (Beschluss vom 19.01.2001 - 2 K 59/01) hat entschieden:
Der häusliche Trunk ohne Verkehrsteilnahme unter Alkohol kann die Annahme von Alkoholmissbrauch begründen bei einem Berufskraftfahrer, der einerseits sehr alkoholgewöhnt ist und andererseits regelmäßig fahren muss (hier: Nachtrunk von 2,5 l Weißbier und BAK von 1,57 Promille nach leichtem Verkehrsunfall).


Siehe auch Stichwörter zum Thema medizinisch-psychologische Untersuchung (MPU)


Zum Sachverhalt: Am Sonntag, den 30.01.2000 gegen 18:20 Uhr fuhr der Antragsteller beim rückwärtigen Ausparken aus einer Hofeinfahrt gegen ein anderes Fahrzeug und verursachte damit einen Sachschaden von 1.500 DM. Der Geschädigte wandte sich wegen Alkoholverdachts an die Polizei, die den Antragsteller daraufhin zu Hause aufsuchte. Der Antragsteller gab bei dieser Gelegenheit an, im Laufe des Tages drei "Tannenzäpfle" und in der halben Stunde zwischen dem Unfall und dem Eintreffen der Polizei drei Halbliterdosen Weißbier getrunken zu haben. Auf dem Wohnzimmertisch konnte die Polizei fünf leere Bierdosen (0,5 l) feststellen. Nach einem Atemalkoholtest um 19:26 Uhr ordnete die Polizei zwei Blutproben an, die um 20 Uhr bzw. 20:35 Uhr entnommen wurden und einen Blutalkoholgehalt von 1,57 ‰ bzw. 1,48 ‰ ergaben. Ferner wurde der Führerschein des Antragstellers in Verwahrung genommen. Das Amtsgericht T. entzog dem Antragsteller durch Beschluss vom 11.02.2000 (6 Gs 50/00) vorläufig die Fahrerlaubnis wegen des dringenden Verdachts der Straßenverkehrsgefährdung oder der Trunkenheit im Straßenverkehr. Durch Beschluss vom 09.05.2000 (9 Cs 35 Js 2190/2000 AK 436/2000) stellte das Amtsgericht T. das Strafverfahren wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr ein und hob die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis (Beschluss vom 11.02.2000) auf. In der Folgezeit korrigierte der Antragsteller seine Einlassungen und behauptete, im Laufe des Tages fünf kleine Rothauspils a 0,33 l und nach dem Unfall fünf (und nicht nur drei) Halbliterdosen Weißbier getrunken zu haben.

Mit Schreiben vom 12.09.2000 ordnete das Landratsamt B. die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens an, weil aufgrund des Nachtrunks von fünf Dosen Weizenbier zwischen 18:30 Uhr und 19:27 Uhr der Verdacht des Alkoholmissbrauches und damit Bedenken an der Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen bestünden. Der Antragsteller äußerte gegenüber dem Landratsamt, dass er diese Aufforderung für rechtswidrig halte.

Mit Bescheid vom 09.01.2000 entzog das Landratsamt B. dem Antragsteller die Fahrerlaubnis der Klassen 2 und 3 und alle darin eingeschlossenen Fahrerlaubnisklassen wegen fehlender Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen und ordnete die Abgabe des Führerscheins an.

Gegen diese Verfügung hat der Antragsteller Widerspruch eingelegt und die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung dieses Widerspruchs beantragt.

Der Antrag blieb erfolglos.


Aus den Entscheidungsgründen:

"... Die Entziehung der Fahrerlaubnis ist voraussichtlich rechtmäßig. Erweist sich der Inhaber einer Fahrerlaubnis als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen, so hat ihm die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen (§ 3 Abs. 1 Satz 1 StVG und § 46 Abs. 1 Satz 1 FeV). Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken begründen, dass der Inhaber einer Fahrerlaubnis zum Führen eines Kraftfahrzeugs ungeeignet oder bedingt geeignet ist, so finden die §§ 11 bis 14 FeV entsprechend Anwendung (§ 46 Abs. 3 FeV). Der Antragsteller hat sich geweigert, sich medizinisch-psychologisch begutachten zu lassen. Aus dieser Weigerung des Antragstellers durfte das Landratsamt B. auf seine Nichteignung schließen (§ 11 Abs. 8 Satz 1 FeV). Diese Vorschrift (§ 11 Abs. 8 Satz 1 FeV) ist auf medizinisch-psychologische Untersuchungen zur Klärung von Eignungszweifeln bei Alkoholproblematik (§ 13 FeV) anzuwenden (amtliche Begründung zu § 11 Abs. 8 FeV, BR-Drucksache 443/98, Seite 254, zitiert nach Jagusch/Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 35. Auflage 1999, 1254, § 11 FeV RdNr. 5). Das Landratsamt B. hat den Antragsteller gemäß § 11 Abs. 8 Satz 2 FeV auf diese Folge seiner Weigerung hingewiesen.

In der Sache hat das Landratsamt B. - was ebenfalls Voraussetzung für den Schluss auf die Nichteignung gemäß § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV ist (BVerwG, Urteil vom 12.03.1985, BVerwGE 71, 93, 96 Mitte) - die Beibringung des Gutachtens zu Recht angeordnet. Nach § 13 Nr. 2 a FeV ordnet die Fahrerlaubnisbehörde zur Vorbereitung von Entscheidungen über die Erteilung oder Verlängerung der Fahrerlaubnis oder über die Anordnung von Beschränkungen oder Auflagen an, dass ein medizinisch-psychologisches Gutachten beizubringen ist, wenn nach dem ärztlichen Gutachten zwar keine Alkoholabhängigkeit, jedoch Anzeichen für Alkoholmissbrauch vorliegen oder sonst Tatsachen die Annahme von Alkoholmissbrauch begründen. Beim Antragsteller ist die zweite Tatbestandsalternative gegeben. Denn aufgrund seines Verhaltens liegen Tatsachen vor, die die Annahme von Alkoholmissbrauch begründen. Entgegen seiner Auffassung setzt der Tatbestand dieser zweiten Alternative nicht voraus, dass zuvor ein ärztliches Gutachten gemäß § 13 Nr. 1 FeV eingeholt wurde. Das Vorliegen eines ärztlichen Gutachtens ist lediglich Voraussetzung der ersten Tatbestandsalternative in § 13 Nr. 2 Buchstabe a FeV, die beim Antragsteller nicht einschlägig ist.

Alkoholmissbrauch liegt vor, wenn ein Bewerber oder Inhaber einer Fahrerlaubnis das Führen eines Kraftfahrzeuges und einen die Fahrsicherheit beeinträchtigenden Alkoholkonsum nicht hinreichend trennen kann, ohne bereits alkoholabhängig zu sein (Anlage 4 Nr. 8.1 zur Fahrerlaubnisverordnung; amtliche Begründung zu § 13 FeV, BR-Drucksache 443/98, Seite 260, abgedruckt bei Jagusch/Hentschel, a.a.O., § 13 FeV RdNr. 2; Bundesanstalt für Straßenwesen, Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung des gemeinsamen Beirats für Verkehrsmedizin beim Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen und beim Bundesministerium für Gesundheit, Februar 2000, Seite 40 unter Nr. 3.11.1). Das Trinkverhalten des Antragstellers am 30.01.2000 weckt Bedenken daran, dass er ausreichend zwischen Trinken und Fahren trennen kann. Deshalb bestehen bei ihm Anhaltspunkte für Alkoholmissbrauch und Zweifel an der Fahreignung.

Beim Antragsteller liegen Anhaltspunkte für "eine gewisse Dauer regelmäßigen Alkoholkonsums mit Überschreitung hoher Blutalkohol-Werte" vor (vgl. zu diesem Kriterium Jagusch/Hentschel, a.a.O., § 13 FeV, RdNr. 4). Das Gericht geht mit dem Bundesverwaltungsgericht (Urteil vom 15.07.1988, BVerwGE 80, 43, 45) davon aus, dass nach verkehrsmedizinischen Untersuchungen der sogenannte "Geselligkeitstrinker" alkoholische Getränke allenfalls bis zu einem Blutalkoholgehalt von 1 oder maximal 1,3 ‰ verträgt und zu sich nehmen kann und dass Personen, die Blutalkohol-Werte über etwa 1,6 ‰ erreichen, regelmäßig bereits an einer dauerhaften ausgeprägten Alkoholproblematik leiden (BVerwG, a.a.O., m.w.N.). Diese Blutalkohol-Konzentration hat der Antragsteller nahezu erreicht. Außerdem spricht sein rascher und hoher Alkoholkonsum von 2,5 l Weißbier innerhalb von weniger als einer (vermutlich sogar nur einer halben) Stunde für ein hohes Maß an Alkoholverträglichkeit und Alkoholgewöhnung. Dabei können die zuvor im Laufe des Tages getrunkenen "Tannenzäpfle" noch außer Betracht bleiben. Wenn ihn die Aufregung über einen Verkehrsunfall mit einem nur geringen Sachschaden dazu veranlasst hat, in kurzer Zeit 2,5 l Weißbier zu trinken und dadurch eine Blutalkoholkonzentration von 1,57 ‰ zu erreichen, so ist dies ohne eine gewisse Dauer regelmäßigen Alkoholkonsums mit Erreichen hoher Blutalkohol-Werte kaum zu erklären (vgl. hierzu auch VGH BW, Beschluss vom 17.01.2000, VBlBW 2000, 401 f.).

Der Verdacht des Alkoholmissbrauchs durch den Antragsteller - also dass er Trinken und Fahren nicht trennen kann - rührt allerdings nicht daher, dass er mit Alkohol im Straßenverkehr "erwischt" worden ist, wie dies beispielsweise § 13 Nr. 2 Buchstabe b und c FeV voraussetzen. Auch dürften diese Eignungszweifel nicht bereits daraus folgen, dass er zu Hause innerhalb kurzer Zeit 2,5 l Weißbier getrunken hat und dadurch auf eine Blutalkoholkonzentration von 1,57 ‰ gekommen ist. Allein ein hoher Alkoholkonsum ohne Teilnahme am Straßenverkehr rechtfertigt grundsätzlich noch nicht den Schluss, dass der Betroffene in seinem Verhalten das Trinken und das Fahren nicht ausreichend trennen kann. Hoher Alkoholkonsum in der eigenen Wohnung dürfte deshalb für sich genommen kaum einen Anlass dafür bieten, ein Gutachten über die Fahreignung beizuziehen (ebenso Himmelreich/Janker, MPU-Begutachtung, 2. Auflage 1999, Seite 84, RdNr. 281).

Beim Antragsteller ergeben sich die Anhaltspunkte für Alkoholmissbrauch daraus, dass er mit einer "dauerhaften, ausgeprägten Alkoholproblematik" (BVerwG, a.a.O.) Berufskraftfahrer ist und deshalb regelmäßig, um nicht zu sagen täglich, fahren muss. Bei einem Berufskraftfahrer, der regelmäßig große Mengen Alkohol zu sich nimmt, liegt die Gefahr nahe, dass er das Trinken und das Fahren nicht ausreichend trennen kann, schon weil er beruflich zum Fahren verpflichtet ist, auch wenn er viel getrunken hat.

Die Entziehung der Fahrerlaubnis ist auch verhältnismäßig. Dem Antragsteller ist es ohne weiteres möglich und zumutbar, durch ein medizinisch-psychologisches Gutachten die Zweifel an seiner Fahreignung auszuräumen und es damit zu erreichen, dass die angefochtenen Verfügung aufgehoben wird. Diese Möglichkeit hat er auch jetzt noch während des Widerspruchsverfahrens. Aus diesem Grunde spielt es für die Verhältnismäßigkeit der angefochtenen Fahrerlaubnisentziehung auch keine Rolle, dass er nach seinem Vortrag auf die Fahrerlaubnis angewiesen ist, um regelmäßig die Krankenhäuser in M. und T. aufzusuchen. Der Umstand, dass er bereits genug "gestraft" ist, weil er seinen Arbeitsplatz verloren hat, wegen Sperrfrist kein Arbeitslosengeld bekommen und auch noch einen Darmdurchbruch erlitten hat, spielen in diesem Zusammenhang keine Rolle. Denn die Entziehung der Fahrerlaubnis ist eine ordnungsrechtliche Maßnahme zur Gefahrenabwehr und keine Strafsanktion für ein schuldhaftes Fehlverhalten. Deshalb ist die aufschiebende Wirkung auch nicht wegen einer unzumutbaren Härte (entsprechend § 80 Abs. 4 Satz 3 VwGO) wiederherzustellen. ..."



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