Das Verkehrslexikon
Verwaltungsgericht Neustadt Beschluss vom 27.07.2005 - 3 L 1181/05.NW - Die Führerscheinstelle darf keine ergänzende Stellungnahme zum MPU-Gutachten einholen
VG Neustadt v. 27.07.2005: Die Führerscheinstelle darf keine ergänzende Stellungnahme zum MPU-Gutachten einholen
Das Verwaltungsgericht Neustadt (Beschluss vom 27.07.2005 - 3 L 1181/05.NW) hat entschieden:
- Zur Nachvollziehbarkeit eines Fahreignungsgutachtens.
- Die Fahrerlaubnisbehörde ist nicht berechtigt, ohne Einwilligung des betroffenen Fahrerlaubnisinhabers bei der amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung eine ergänzende Stellungnahme zu einem ihr vorgelegten Fahreignungsgutachten einzuholen.
- Die Beziehungen der Fahrerlaubnisbehörde zu der Begutachtungsstelle beschränken sich nach § 11 Abs.6 S.4 FeV ausschließlich auf die Formulierung der zu beantwortenden Fragen sowie die Übersendung der vollständigen Unterlagen an die Gutachterstelle.
- Die Einholung einer ergänzenden Stellungnahme bei der Begutachtungsstelle durch die Fahrerlaubnisbehörde unter Umgehung des Fahrerlaubnisinhabers als Auftraggeber des Gutachtens ist ein Eingriff in dessen vertragliche Beziehungen und verstößt auch gegen das Gebot einer fairen Verfahrensführung.
Siehe auch Stichwörter zum Thema medizinisch-psychologische Untersuchung (MPU)
Aus den Entscheidungsgründen:
"... Das private Interesse des Antragstellers, von der Fahrerlaubnis bis zur Entscheidung im Verfahren zur Hauptsache Gebrauch machen zu können, überwiegt vorliegend das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung der Entziehung der Fahrerlaubnis.
Im Blick auf das Hauptsacheverfahren ist es als offen anzusehen, ob aufgrund des Fahreignungsgutachtens des TÜV Pfalz vom 28. Februar 2005 die Ungeeignetheit des Antragstellers zum Führen eines Kraftfahrzeuges im Sinne des § 3 Abs. 1 StVG i.V.m. § 46 Abs. 1 FeV feststeht. Dies beruht darauf, dass die in dem genannten Gutachten aus den verkehrspsychologischen Untersuchungsbefunden gezogene Schlussfolgerung auf die derzeit nicht bestehende Fahreignung des Antragstellers nicht ohne weiteres nachvollzogen werden kann.
In der psychologischen Bewertung der bei der Begutachtung gewonnenen Erkenntnisse kommt der TÜV Pfalz zu dem Ergebnis, dass eine positive Beurteilung der Fahreignungsfrage derzeit noch nicht vertretbar sei. Er empfiehlt die Teilnahme an einem Rehabilitationskurs nach § 70 FeV. Die Begründung dieses Resultats ist für das Gericht nicht nachvollziehbar. So wird ausgeführt, dass nie ein täglicher Drogenkonsum stattgefunden habe, trotzdem wird dann für den Deliktszeitraum ein regelmäßiger Cannabiskonsum angenommen. Dieser setzt aber nach der Rechtsprechung einen täglichen oder nahezu täglichen Konsum voraus (OVG Koblenz, Beschluss vom 12.11.2003 - 7 B 11599/03.OVG - m.w.N., veröffentlicht in: ESOVGRP). Weiter heißt es in dem Gutachten, dass der Antragsteller „zu seinem Drogenkonsum offene und glaubhafte Angaben“ mache. Andererseits werden seine Einlassungen als „ weitgehend offen und glaubhaft“ bewertet. Offene und glaubhafte Angaben sind aber nicht identisch mit „weitgehend“ offenen und glaubhaften Aussagen. In letzterem Fall verbleiben Lücken in den Angaben und nicht glaubhafte Aussagen. Dieser Widerspruch in dem Gutachten ist bisher nicht aufgelöst. Nicht nachvollziehbar ist auch die Einschätzung, dass die Angaben des Antragstellers, seit dem 01. September 2004 keine Drogen mehr zu konsumieren, nur „mit hoher Wahrscheinlichkeit als glaubhaft“ einzustufen seien, wenn andererseits durch Haaranalyse eines ca. 4 cm langen Haars ein „regelmäßiger Cannabiskonsum ab ca. Anfang Oktober 2004 ausgeschlossen“ wird und die Erklärung des Antragstellers, auch wenn für den September 2004 keine Werte vorliegen, nicht in Zweifel gezogen wird. In der Stellungnahme des TÜV Pfalz auf Nachfrage der Antragsgegnerin wird dann aber ausgeführt, dass den Aussagen des Antragstellers, seit dem 01. September 2004 keine Drogen konsumiert zu haben, habe gefolgt werden können, auch wenn dies nicht durch Screenings belegt sei. Es liege somit eine 5 1/ 2 Monate währende Drogenabstinenz vor. Aus welchem Grund die Gutachter dann die Einlassung des Antragstellers, seit 01. September 2004 keine Drogen konsumiert zu haben, in dem Gutachten nur „mit hoher Wahrscheinlichkeit als glaubhaft“ betrachten, bleibt offen.
Im Hinblick auf diese aufgezeigten Mängel erscheint die Schlussfolgerung der Gutachter auf die noch nicht wiedergegebene Fahreignung des Antragstellers nicht nachvollziehbar. Allerdings ist einzuräumen, dass eine stabile Verhaltensänderung im Sinne eines dauerhaften Drogenverzichts noch nicht in hinreichendem Maße festzustellen ist, so dass die empfohlene Kursteilnahme sinnvoll erscheint. Es ist aber fraglich, ob eine solche dauerhafte Drogenabstinenz im vorliegenden Fall überhaupt zu fordern ist. Die Gutachter führen nämlich unter „Voraussetzungen für eine günstige Prognose“ aus:
„Bei einer Drogenproblematik ohne deutliche Hinweise auf eine Abhängigkeit genügt es in der Regel, wenn eine bestehende Drogenabstinenz von bereits ausreichender Dauer durch günstige Faktoren in der Person, im Sozialverhalten und im sozialen Umfeld gestützt wird.“
Die Gutachter haben bei dem Antragsteller zwar das „Bild einer Drogengefährdung, die aber noch nicht als fortgeschrittene Drogenproblematik bezeichnet werden kann“, erkannt. Sie haben auch in ihrer ergänzenden Stellungnahme vom 09. Mai 2005 ausgeführt, dass im Gegensatz zur Darstellung in ihrer Beurteilung in dem Gutachten bei dem Antragsteller doch mehr Überlegungen und Motivationsansätze, die einen dauerhaften Drogenverzicht unterstützen, was aus dem Explorationsteil ersichtlich werde, vorhanden seien. So seien im Gespräch differenziert Konsumnachteile benannt worden und es sei auch erkennbar geworden, dass er sich von der Illusion, Cannabis sei eine harmlose Droge, verabschiedet habe. Weiter heißt es, eine nachgewiesene Abstinenzzeit von sechs Monaten werde als ausreichend angesehen. Durch die von dem Antragsteller noch vorzulegenden Drogenscreenings kann dieser Zeitraum vollends abgedeckt werden.
Weiter wird in dem Gutachten ausgeführt:
„Bei einer gelegentlichen Einnahme von Cannabis kann die Eignung unter folgenden Voraussetzungen gegeben sein: Trennung von Konsum und Fahren und kein zusätzlicher Beigebrauch von Alkohol oder anderen psychoaktiv wirkenden Stoffen, keine Störung der Persönlichkeit und kein Kontrollverlust.“
Festzuhalten ist hier, dass ein gelegentlicher und kein regelmäßiger oder gewohnheitsmäßiger Drogenkonsum durch den Antragsteller stattfand und er bei der Fahrt am 01. September 2004 nach dem Gutachten des Instituts für Rechtsmedizin der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, Univ.-Prof. Dres. U…., vom 04. Oktober 2004 zum Zeitpunkt der zeitnah nach der Fahrt erfolgten Blutabnahme nicht unter aktuellem Cannabiseinfluss stand. Der Antragsteller hat demnach Cannabiskonsum und Fahren getrennt. Dies unterscheidet auch das Ereignis von dem des Jahres 2002. Nach alledem ist die Schlussfolgerung der Gutachter, eine positive Beurteilung der Fahreignungsfrage sei derzeit noch nicht vertretbar, für das Gericht nicht nachvollziehbar.
Auch für die Antragsgegnerin war das Gutachten des TÜV Pfalz vom 28. Februar 2005 nicht nachvollziehbar. Sie hat nämlich mit Schreiben vom 11. April 2005 den Gutachtern einen Fragenkatalog zukommen lassen, der sich nicht nur auf die Empfehlung des Besuchs eines Rehabilitationskurses nach § 70 FeV bezog. Auskunft sollten die Gutachter z.B. geben, welcher Abstinenzzeitraum nachgewiesen sein müsse. In dem Schreiben der Antragsgegnerin vom 18. Mai 2005, das der Antragsteller nach seinen Angaben aber nicht erhalten haben will, heißt es:
„Nachdem uns nun (Hervorhebung durch das Gericht) die ergänzende Stellungnahme des TÜV Pfalz vorliegt, ist das uns vorgelegte Gutachten hinsichtlich seiner negativen Beurteilung nachvollziehbar.“
Der Antragsteller und sein Vater, ein Dipl.-Psychologe, nahmen somit in - ihnen allerdings nicht bekannter - Übereinstimmung mit der Antragsgegnerin an, dass das beigebrachte Gutachten vom 28. Februar 2005 nicht nachvollziehbar ist.
Vor diesem Hintergrund ist die Äußerung der Antragsgegnerin gegenüber dem Vater des Antragstellers am 20. Juni des Jahres, also 17 Tage nach Erlass der angefochtenen Verfügung, es sei ihr nicht nachvollziehbar, „dass er das vorliegende Gutachten als nicht nachvollziehbar angesehen habe“, nicht erklärlich.
Die Auffassung der Antragsgegnerin, sie sei nicht verpflichtet, den Betroffenen über ihre Bewertung des Gutachtens und eine Nachfrage bei der Gutachterstelle in Kenntnis zu setzen, ist unzutreffend. Der Betroffene hat einen Anspruch darauf, dass die Fahrerlaubnisbehörde ihm mitteilt, wenn sie weiteren Aufklärungsbedarf sieht und aus diesem Grund bei der Gutachterstelle eine ergänzende Stellungnahme einholen will. Sie darf nämlich ohne sein Einverständnis eine solche Stellungnahme nicht herbeiführen.
Dies ergibt sich aus Folgendem: Der Auftrag zur Untersuchung wird gemäß § 11 Abs. 6 Satz 5 FeV von dem Betroffenen erteilt. Dies belegt eindeutig der Wortlaut des § 11 Abs. 6 Satz 3 FeV, wonach der Betroffene die Fahrerlaubnisbehörde darüber zu unterrichten hat, "welche Stelle er mit der Untersuchung beauftragt hat". Der Betroffene schließt mit dem von ihm gegenüber der Fahrerlaubnisbehörde benannten Arzt oder der amtlich anerkannten Begutachtungsstelle einen Vertrag und zwar einen Werkvertrag im Sinne des § 631 BGB ab. Er hat gegenüber seinem Vertragspartner einen zivilrechtlichen Anspruch auf Erstellung eines vollständigen und mängelfreien Gutachtens. Das Gutachten ist ihm, wenn er mit der Gutachterstelle nichts anderes vereinbart und sie nicht von ihrer Schweigepflicht entbunden hat, zuzuleiten. Er hat als Auftraggeber die Mängelfreiheit des Gutachtens zu prüfen und kann, wenn er Mängel, z.B. einen Verstoß gegen die geltenden gesetzlichen Vorgaben (Anlage 15 zu § 11 Abs. 5 FeV), feststellt, die ihm zivilrechtlich zustehenden Rechte gegen den Vertragspartner geltend machen. Hierzu kann unter Umständen der Anspruch auf Nachbesserung des Gutachtens gehören. Diese vertraglichen Ansprüche stehen grundsätzlich nur den Vertragsparteien zu. Die Fahrerlaubnisbehörde ist in diesem Verhältnis nicht Vertragspartei. Ihre Beziehungen zu der von dem Betroffenen benannten Gutachterstelle beschränken sich nach § 11 Abs. 6 Satz 4 FeV ausschließlich auf die Formulierung der von dieser zu beantwortenden Fragen sowie die Übersendung der vollständigen Unterlagen. Hält die Fahrerlaubnisbehörde das von dem Betroffenen vorgelegte Gutachten für ergänzungs- oder erläuterungsbedürftig, so hat sie dies dem Betroffenen mitzuteilen, damit er für die weitere Aufklärung sorgen kann. Eine andere Möglichkeit für die Behörde wäre, sich die Einwilligung des Betroffenen geben zu lassen, um sich direkt an die Gutachterstelle wenden zu dürfen.
Die Antragsgegnerin hat nach den dem Gericht vorliegenden Akten, insbesondere dem Inhalt der von dem Antragsteller unterzeichneten Erklärung zur Einholung eines Fahreignungsgutachtens vom 22. November 2004, sich nicht das Einverständnis des Antragstellers eingeholt, sich zur Klärung eventueller Fragen unmittelbar an die Gutachterstelle wenden zu dürfen.
Die Pflicht der Fahrerlaubnisbehörde, den Betroffenen zu unterrichten, wenn sich aus dem Gutachten noch Fragen ergeben und sie sich an den Gutachter wenden will, folgt aber auch aus dem Rechtsstaatsprinzip in seiner Ausgestaltung als Gebot fairer Verfahrensführung. Es entspricht gefestigter Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, dass die verfassungsrechtliche Gewährleistung der Grundrechte auch im jeweiligen Verfahrensrecht Geltung beansprucht. So folgt z.B. bereits unmittelbar aus Art 14 Abs 1 GG die Pflicht, bei Eingriffen in dieses Grundrecht einen effektiven Rechtsschutz zu gewähren, der den Anspruch auf faire Verfahrensführung einschließt (vgl. BVerfGE 46, 325 (334); 49, 220 (225); zum Gebot fairer Verfahrensführung vgl. ferner BVerfGE 46, 202 (210) mwN). Eine verfassungskonforme Gestaltung und Anwendung des Verfahrensrechts gebietet ebenso das Grundrecht aus Art 2 Abs. 2 GG (vgl. BVerfGE 51, 324 = EuGRZ 1979, S 470; Beschluss vom 3. Oktober 1979, NJW 1979, S 2607). Da das Gebot eines fairen Verfahrens bereits unmittelbar aus dem jeweiligen Grundrecht folgt, ist es nicht auf das Verfahren der gerichtlichen Überprüfung beschränkt, sondern beeinflusst auch die Gestaltung des behördlichen Verfahrens, soweit die behördliche Entscheidung ein Grundrecht - hier das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit nach Art. 2 Abs 1 GG berührt.
Unter Berücksichtigung, dass das Gutachten auch unter Einbeziehung der ergänzenden Stellungnahme derzeit nicht nachvollziehbar ist, der Antragsteller eine Drogenabstinenz über den von den Gutachtern geforderten Zeitraum noch nicht nachgewiesen hat, bestand Anlass, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers unter Anordnung der aus dem Tenor ersichtlichen Auflagen wiederherzustellen. Hierdurch kann erreicht werden, dass er nicht unter Drogeneinfluss ein Kraftfahrzeug führen wird und seine Motivation zur Drogenabstinenz weiter gestärkt wird. ..."