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OLG Koblenz Urteil vom 15.01.1999 - 10 U 1574/97 - Die Frage nach Vorschäden bezieht sich auf sämtliche Vorschäden
OLG Koblenz v. 15.01.1999: Die Frage nach Vorschäden bezieht sich auf sämtliche Vorschäden
Das OLG Koblenz (Urteil vom 15.01.1999 - 10 U 1574/97) hat entschieden:
- Die im Schadensanzeigeformular gestellte Frage nach Vorschäden eines Kfz ist aus der Sicht eines durchschnittlichen VN so zu verstehen, dass nach sämtlichen Vorschäden und nicht nur nach dem letzten Vorschaden gefragt wird. Ein besonderes Interesse an der Anzahl der Vorschäden ist insbesondere dann begründet, wenn die Schadensregulierung bezüglich drei nicht angegebener Vorschäden auf der Basis "fiktiver Reparaturkosten" und auch ein weiterer angegebener Schaden auf dieser Abrechnungsbasis erfolgte.
- Liegt danach eine Obliegenheitsverletzung mit der Vermutung einer vorsätzlichen Aufklärungspflichtverletzung vor, kann sich der VN nicht damit entlasten, dass ein Kfz-Sachverständiger anlässlich der Begutachtung des vierten Schadens nach Reparatur in Eigenleistung keine ersichtlichen Vorschäden festgestellt habe. Die Anzahl der Vorschäden ist weiterhin für die Wertermittlung des entwendeten Kfz von Bedeutung.
Siehe auch Obliegenheitsverletzungen / Leistungsfreiheit und Regress der Kfz-Versicherung
Zum Sachverhalt: Der Kl. nahm die Bekl. aus einer Kfz-Kaskoversicherung wegen Diebstahls seines Pkw Nissan 240 SX (US-Version), Erstzulassung in Deutschland im Jahr 1991, in Anspruch. Er meldete den Pkw am 4. 5. 1994 bei der Polizeidienststelle in M. als gestohlen. Das Fahrzeug wurde nicht wiederaufgefunden. Im Schadensanzeigeformular gab der Kl. auf die Frage nach Vorschäden des Kfz an, dass er einen Blechschaden vorn links im Jahr 1994 gehabt habe. Tatsächlich hatte das Fahrzeug drei weitere Vorschäden in den Jahren 1992 und 1993. Die Bekl. lehnte die Regulierung im Hinblick auf das Verschweigen dieser Vorschäden ab.
Der Kl. trug vor, dass er geglaubt habe, nur den zeitlich letzten Schaden vor dem Diebstahl angeben zu müssen, zumal ein Kfz-Sachverständiger anlässlich der Begutachtung des vierten Schadens keine ersichtlichen Vorschäden festgestellt habe. Die Bekl. habe die Möglichkeit gehabt, sich aufgrund des bestehenden Datenverbundes über etwaige Vorschäden zu informieren. Die Bekl. war der Auffassung, dass der Pkw aufgrund der Vorschäden und vor dem Hintergrund, dass es sich um ein US-Modell gehandelt habe, nahezu unverkäuflich gewesen sei. Der Kl. nahm die Bekl. auf Zahlung von 20 000 DM in Anspruch.
Das LG hat die Klage abgewiesen, weil die Bekl. wegen Obliegenheitsverletzung leistungsfrei geworden sei. Die Berufung des Kl. wurde zurückgewiesen.
Aus den Entscheidungsgründen:
Die Bekl. ist gem. § 7 I Abs. 2 S. 3 und V Abs. 4 AKB i. V. m. § 6 Abs. 3 VVG von ihrer Leistungspflicht frei geworden. Leistungsfreiheit des Versicherers besteht, wenn der VN seine Obliegenheit verletzt hat, nach Eintritt des Versicherungsfalls alles zu tun, was zur Aufklärung des Tatbestands und zur Minderung des Schadens dienlich sein kann, es sei denn, dass die Obliegenheitsverletzung weder auf Vorsatz noch auf grober Fahrlässigkeit beruht. Der Umfang der Aufklärungspflicht richtet sich maßgebend nach den vom Versicherer im Schadensanzeigeformular gestellten Fragen (vgl. Prölss/Martin, VVG 26. Aufl. 1998 § 7 AKB Rdnr. 13).
Zur Obliegenheit des VN gehört es, dass die in der Schadensanzeige gemachten Angaben wahrheitsgemäß und vollständig sind. Unter die Aufklärungspflicht fallen sämtliche Umstände, die zur Feststellung des Entschädigungsbetrags von Bedeutung sein können. Dies gilt vor allem bei Entwendungen von Kfz, bei denen der Versicherer keine eigenen Erkenntnismöglichkeiten hat (vgl. Prölss/Martin aaO § 7 Rdnr. 43). Das LG hat zutreffend ausgeführt, dass der Kl. gegen die Obliegenheit, wahrheitsgemäße und vollständige Angaben zu machen, verstoßen hat, indem er lediglich einen Blechschaden vorn links aus dem Jahr 1994 angegeben hat, obgleich das Fahrzeug noch drei weitere Vorschäden aus den Jahren 1992 und 1993 hatte.
Der Berufung kann nicht darin zugestimmt werden, dass die Fragestellung in dem Schadensanzeigeformular unklar gewesen sei. Im Schadensformular wird allgemein nach Vorschäden des Kfz gefragt und ob und gegebenenfalls wann diese repariert worden sind. Aus der Sicht eines durchschnittlichen VN ist die Fragestellung eindeutig. In dem Schadensanzeigeformular wird nicht nach dem letzten Vorschaden gefragt. Die Frage "Vorschäden des Kfz, unrepariert/wann repariert?" bezieht sich eindeutig auf sämtliche Vorschäden.
Der Senat ist davon überzeugt, dass auch dem Kl. bewusst war, dass die Anzahl der vorhandenen Vorschäden für die Bekl. von Bedeutung war. Für die Wertermittlung eines entwendeten Kfz ist die Anzahl vorhandener Vorschäden nicht unerheblich. Dabei ist vorliegend besonders zu berücksichtigen, dass die Regulierung der drei Vorschäden auf der Basis "fiktiver Reparaturkosten" erfolgte und der Versicherer nicht die Möglichkeit hat, etwa durch Einblick in vorhandene Reparaturrechnungen zu prüfen, ob vorhandene Vorschäden vollständig und ordnungsgemäß repariert worden sind, was für die Wertermittlung des entwendeten Fahrzeugs von Relevanz ist. Die Vorschäden vom 1. 7. 1992 (Regulierung 3830,25 DM), vom 1. 12. 1993 (Regulierung 3575,65 DM) und vom 20. 7. 1992 (Regulierung 8335,52 DM) waren nicht unerheblich. Hinzu kommt der Schaden vom März 1994 in Höhe von 2258 DM, der ebenfalls fiktiv reguliert worden ist.
Der Kl. kann sich auch nicht damit entlasten, dass er behauptet, als Deutscher nigerianischer Herkunft der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtig zu sein und deshalb einen Rechtsanwalt aufgesucht habe, mit dem die Unterhaltung teils in englischer Sprache geführt worden sei. Der Kl. lebt seit mehreren Jahren in Deutschland. Er hat in Deutschland studiert. Er ist von Beruf Architekt und arbeitet in Deutschland. Er gibt selbst an, mit Ausnahme der Amtssprache deutsch zu verstehen. Es handelt sich bei der Fragestellung im Schadensanzeigeformular nach vorhandenen Vorschäden nicht um eine komplizierte Frage, die besondere Sprachkenntnisse erfordert. Auch handelt es sich nicht um ein Schreiben, das in einer Amtssprache verfasst wäre.
Dass der Kl. die Frage nach vorhandenen Vorschäden auch durchaus richtig verstanden hat, ergibt sich aus der vorgerichtlichen Korrespondenz. Dort wird ausgeführt, dass der Kl. der Auffassung gewesen sei, dass aufgrund des bestehenden Datenverbundes die Vorschäden, da bekannt, nicht anzugeben seien. Es bedarf bereits deshalb keiner Parteivernehmung des Kl. nach § 448 ZPO, wie in der Berufungsinstanz beantragt, um sich ein persönliches Bild von den Sprachkenntnissen des Kl. zu machen. Die Voraussetzungen des § 448 ZPO liegen aber auch deshalb nicht vor, weil es hier nicht darum geht, etwaige vorhandene Restzweifel auszuräumen, um die Überzeugung von der Richtigkeit der Darstellung des Kl. zu gewinnen. Die Behauptungen des Kl. sind in sich nicht überzeugend.
Steht danach eine objektive Obliegenheitsverletzung fest, wird nach § 6 Abs. 3 S. 1 VVG vermutet, dass der Kl. als VN vorsätzlich seine Aufklärungspflicht verletzt hat (BGH vom 19. 5. 1976 - IV ZR 83/75 - VersR 1976, 849 [850]). Der Kl. hat diese Vorsatzvermutung nicht widerlegt. An den Gegenbeweis sind hohe Anforderungen zu stellen (vgl. Prölss/Martin aaO § 6 Rdnr. 105). Der Senat vermag diesbezüglich der Auffassung der Berufung nicht zu folgen, dass die Vorschäden aus den Jahren 1992 und 1993 deshalb für die Wertermittlung nicht von Bedeutung gewesen seien, weil das Sachverständigenbüro R. mit Schadensgutachten vom 25. 3. 1995 (vierter Schaden) keine "ersichtlichen" Vorschäden festgestellt habe. Selbst bei ordnungsgemäß durchgeführter Reparatur der vorhandenen drei Vorschäden, insbesondere wenn diese vom Kl. in Eigenleistung selbst vorgenommen worden sind und die betreffenden Haftpflichtversicherer auf der Basis fiktiver Reparaturkosten abgerechnet haben, ist die Anzahl der Vorschäden für die Wertermittlung von Bedeutung. Denn es entspricht der allgemeinen Lebenserfahrung, dass ein Fahrzeug, das eine Vielzahl von Vorschäden aufweist, einen geringeren Verkehrswert hat als ein unbeschädigtes Fahrzeug.
Die falschen Angaben des Kl. waren hier geeignet, die Interessen des Versicherers ernstlich zu gefährden. Der Versicherer muss in der Lage sein, sich aufgrund der Schadensanzeige ein richtiges Bild über den ungefähren Umfang des Schadens zu machen. Er muss sich ohne eigene Nachforschungen auf die Richtigkeit der Angaben des VN verlassen können. Insbesondere, wenn - wie hier - keine Belege über den Kauf des aus den USA importierten Fahrzeugs vorliegen und vorhandene Vorschäden in Eigenleistung repariert worden sind, ist der Versicherer auf die Richtigkeit der Angaben des VN angewiesen.
Die Berufung wendet schließlich vergebens ein, dass die Belehrung im Schadensanzeigeformular nicht ordnungsgemäß gewesen sei. Richtig ist zwar, dass folgenlos gebliebene Falschangaben in der Schadensanzeige nur dann zur Leistungsfreiheit des Versicherers führen, wenn der VN vorher ausdrücklich darüber belehrt worden ist, dass er durch bewusst unwahre oder unvollständige Angaben auch dann den Versicherungsschutz verliert, wenn dem Versicherer dadurch kein Nachteil entsteht. Diese Belehrung muss neben ihrer inhaltlichen Richtigkeit weithin auf dem Schadensformular äußerlich auffallend vorhanden sein (OLG Hamm NJW-RR 97, 476).
Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Auf dem Schadensanzeigeformular ist deutlich vermerkt, dass die gestellten Fragen eingehend und wahrheitsgemäß zu beantworten sind und dass keine Frage unbeantwortet bleiben darf. Es wird ferner darauf hingewiesen, dass bewusst unwahre oder unvollständige Angaben zum Verlust des Anspruchs auf Versicherungsschutz führen, auch dann, wenn dem Versicherer durch diese Angaben kein Nachteil entsteht. Die Belehrung war vorliegend ausreichend und wirksam. ..."