Das Verkehrslexikon

A     B     C     D     E     F     G     H     I     K     L     M     N     O     P     Q     R     S     T     U     V     W     Z    

BGH Beschluss vom 16.04.1985 - 4 StR 755/84 - Keine Strafbarkeit bei nachträglichem Wegfall der vorläufigen Deckung

BGH v. 16.04.1985: Keine Strafbarkeit bei nachträglichem Wegfall der vorläufigen Deckung


Der BGH (Beschluss vom 16.04.1985 - 4 StR 755/84) hat entschieden:
Wer auf öffentlichen Wegen oder Plätzen ein Fahrzeug gebraucht oder den Gebrauch gestattet, für welches Haftpflichtversicherungsschutz auf Grund einer vorläufigen Deckungszusage besteht, macht sich nicht nach PflVG § 6 strafbar, wenn die vorläufige Deckung später infolge Nichteinlösung des Versicherungsscheins rückwirkend wegfällt oder wenn der Versicherer vom Vertrag gemäß VVG § 38 zurücktritt.


Siehe auch Verstöße gegen die gesetzliche Pflichtversicherung


Zum Sachverhalt: Der Angeklagte beantragte am 20. Oktober 1982 bei der N -Versicherung den Abschluss eines Haftpflichtversicherungsvertrages für seinen Pkw. Er erhielt eine Versicherungsbestätigungskarte und benutzte anschließend sein Fahrzeug im öffentlichen Straßenverkehr. Mit Schreiben vom 17. Dezember 1982 erklärte die Gesellschaft ihren Rücktritt vom Vertrag, weil der Angeklagte, nachdem zwischenzeitlich sein Versicherungsantrag unverändert angenommen worden war, die erste Versicherungsprämie nicht gezahlt hatte. Nach Erhalt der Rücktrittserklärung verkaufte der Angeklagte den Pkw.

Das Amtsgericht hat den Angeklagten von dem Vorwurf des vorsätzlichen Gebrauchs eines Fahrzeugs ohne den erforderlichen Haftpflichtversicherungsvertrag (§§ 1, 6 Abs. 1 PflVG) freigesprochen. Dagegen hat die Staatsanwaltschaft Revision eingelegt.

Das zur Entscheidung hierüber berufene Oberlandesgericht Frankfurt/M. möchte dem Rechtsmittel stattgeben. Es hält den äußeren Tatbestand der §§ 1, 6 PflVG für erfüllt. Infolge der Erklärung der Versicherungsgesellschaft vom 17. Dezember 1982 sei das Versicherungsverhältnis gemäß § 1 Nr. 2 Satz 4 AKB rückwirkend erloschen. Daher habe zu keiner Zeit der erforderliche Versicherungsvertrag bestanden. Darauf, nicht aber auf das Bestehen von Versicherungsschutz gegenüber Dritten, komme es für die strafrechtliche Beurteilung nach dem Pflichtversicherungsgesetz an. Es sei deshalb vom Tatrichter zu klären, ob und wann der Angeklagte den Entschluss gefasst habe, den Versicherungsschein nicht einzulösen, oder ob und wann er erkannt habe, dazu nicht in der Lage zu sein.

An der beabsichtigten Entscheidung sieht sich das Oberlandesgericht Frankfurt/M. durch den Beschluss des Oberlandesgerichts Hamm vom 13. Mai 1968 - 3 Ws 480/67 (GA 1968, 309) - gehindert. Das Oberlandesgericht Hamm vertritt darin die Auffassung, aus der zivilrechtlichen Rückwirkung der Vertragsauflösung lasse sich eine Strafbarkeit des Fahrzeugführers nicht herleiten. Das Oberlandesgericht Frankfurt/M. hat die Sache daher dem Bundesgerichtshof zur Entscheidung vorgelegt und die Rechtsfrage wie folgt formuliert:
"Kann sich derjenige, der ein Fahrzeug auf öffentlichen Wegen oder Plätzen gebraucht, nach § 6 PflVG strafbar machen, wenn anschließend wegen Nichteinlösung des Versicherungsscheins die vorläufige Deckung gemäß § 1 Abs. 2 Satz 4 AKB rückwirkend außer Kraft tritt?"


Aus den Entscheidungsgründen:

"... In der Sache vermag der Senat der Ansicht des vorlegenden Gerichts nicht beizutreten.

1. Tathandlung nach § 6 PflVG ist der Gebrauch eines Fahrzeugs - oder die Gestattung des Gebrauchs - ohne zivilrechtlich wirksamen Haftpflichtversicherungsvertrag. Ob der Versicherer einem geschädigten Dritten auch ohne solchen Vertrag, etwa im Rahmen seiner Nachhaftung gemäß § 3 Nr. 4 - 6 PflVG, leistungspflichtig ist, bleibt ohne Belang (BGHSt 32, 152, 156 f). Demgemäß fehlt es am äußeren Tatbestand der Strafvorschrift, sofern im Zeitpunkt der Verwendung des Fahrzeugs im Verkehr ein gültiger, den Erfordernissen des § 1 PflVG genügender Haftpflichtversicherungsvertrag besteht.

Unter Haftpflichtversicherungsvertrag ist jede vertragliche Beziehung zu verstehen, die eine den Vorschriften des Gesetzes entsprechende Haftpflichtversicherung zum Gegenstand hat, namentlich auch die vorläufige Deckungszusage des Versicherers (Begründung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung von Vorschriften über die Pflichtversicherung für Kraftfahrzeughalter - BT-Drucks. IV 2252 S. 21). Händigt der Versicherer dem Versicherungsnehmer die für die behördliche Zulassung seines Fahrzeugs nach § 29 a StVZO erforderliche Versicherungsbestätigungskarte aus, so liegt darin die Zusage vorläufiger Deckung (§ 1 Nr. 2 Satz 2 AKB). Solange diese Zusage gilt, besteht somit ein wirksamer Haftpflichtversicherungsvertrag.

2. Wird der Versicherungsschein nach unveränderter Annahme des Antrags nicht rechtzeitig eingelöst, so verliert die vorläufige Deckungszusage rückwirkend ihre Kraft (§ 1 Nr. 2 Satz 4 AKB). Einer besonderen, auf diese Rechtsfolge abzielenden Erklärung des Versicherers bedarf es dazu nicht, weil die Deckungszusage auflösend bedingt ist (BGHZ 21, 122, 130). Eine Rücktrittserklärung des Versicherers, wie sie auch im vorliegenden Fall abgegeben wurde, bezieht sich vielmehr auf den - infolge Annahme des Vertragsantrags zustande gekommenen - endgültigen Versicherungsvertrag. Dieser endgültige Versicherungsvertrag ist rechtlich mit der vorläufigen Deckungszusage nicht identisch (BGHZ 47, 352, 355). Von ihm zurückzutreten, ist dem Versicherer in Fällen der vorliegenden Art nach § 38 VVG eröffnet.

Für die Beantwortung der Vorlegungsfrage kommt es auf diesen möglichen Unterschied der Rechtsgrundlagen für den Wegfall des Versicherungsverhältnisses jedoch nicht an. Der Rücktritt vom Vertrag ist nämlich insoweit nicht anders zu behandeln als die gemäß § 1 Nr. 2 Satz 4 AKB von selbst eintretende Rechtsfolge: Beides kann strafrechtlich nicht in die Vergangenheit wirken.

3. Das Strafrecht knüpft an den Zeitpunkt der Tat an (§ 2 Abs. 1 StGB). Es kommt für die Bestrafung des Täters darauf an, ob die Tat zur Tatzeit unter Strafe gestellt war. Wird das Verhalten des Täters erst nach der Tat strafbedroht, so kann der Täter deswegen gemäß Art. 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB nicht bestraft werden. Hat der Täter einen Straftatbestand erfüllt, so vermag sein weiteres Verhalten an der Strafbarkeit in der Regel nichts mehr zu ändern.

a) Danach ist z.B. die rückwirkende Wiederherstellung eines aufgelösten Versicherungsverhältnisses gemäß § 39 Abs. 3 Satz 3 VVG strafrechtlich unbeachtlich. Hat der Täter das Fahrzeug in dem Zeitraum benutzt, in dem wegen seines Zahlungsverzugs der Haftpflichtversicherungsvertrag aufgehört hatte zu bestehen, so kann er seine Strafbarkeit aus § 6 PflVG nicht noch abwenden, indem er nachträglich die geschuldete Prämie zahlt. Dass er mit der Zahlung die zivilrechtlichen Wirkungen der Vertragsauflösung vollständig beseitigt, ändert daran nichts (BGHSt 32, 152).

b) Umgekehrt lässt sich Strafbarkeit für ein Verhalten nicht aus Ereignissen herleiten, welche erst nach dem Ende des als Tathandlung in Betracht kommenden Vorgangs eintreten und nur zivilrechtlich mit Rückwirkung ausgestattet sind. Dies gilt auch für die Beendigung des Versicherungsverhältnisses, wenn die Teilnahme am Verkehr davor lag.

Die zivilrechtliche Rückwirkung der Vertragsauflösung nach § 1 Nr. 2 Satz 4 AKB ist lediglich eine gedankliche Konstruktion, mit deren Hilfe eine im Tatzeitpunkt nicht bestehende Rechtslage als gegeben angenommen wird. Sie beseitigt nicht den Umstand, dass ein Haftpflichtversicherungsvertrag objektiv bestanden hat. Der Kraftfahrer, der sich nach Erlangung einer vorläufigen Deckungszusage mit dem Fahrzeug in den öffentlichen Verkehr begeben hat, handelte deshalb rechtmäßig. Es besteht keine Handhabe, dieses rechtmäßige Verhalten nachträglich mit dem Makel der Rechtswidrigkeit zu versehen. Anderenfalls würde der Täter für etwas bestraft, was er tun durfte.

Wenn das vorlegende Gericht mit Rüth (in Müller, Straßenverkehrsrecht 22. Aufl. Bd. II (1969) S. 241) darauf abstellt, ob der Täter im Zeitpunkt des Fahrzeuggebrauchs weiß oder damit rechnet, dass er den Versicherungsschein nicht einlösen werde, so ist dies eine Erwägung, die sich nur auf die innere Tatseite bezieht. Diese vermag das Vorliegen des objektiven Tatbestandes im Tatzeitpunkt nicht zu ersetzen. Darüber hinaus hat sich der Vorsatz auf die Verwirklichung der äußeren Merkmale der Tat im Zeitpunkt ihrer Begehung zu beziehen. Die Voraussicht einer späteren Pflichtwidrigkeit begründet keine strafrechtliche Verantwortlichkeit für das gegenwärtige Verhalten des Täters. Daher ist der Straftatbestand des § 6 PflVG nicht erfüllt, sofern im Zeitpunkt des Fahrzeuggebrauchs ein gültiger Haftpflichtversicherungsvertrag besteht; auf dessen späteres Schicksal kommt es nicht an (ebenso Meyer in Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze § 6 PflVG Anm. 3 c).

4. Damit wird der Schutzbereich des Strafgesetzes nicht unangemessen beschnitten. Das Verhalten eines Versicherungsnehmers, der eine vorläufige Deckungszusage in der Absicht beantragt, den Versicherungsschein später nicht einzulösen, wird unter dem Gesichtspunkt des § 263 StGB zu würdigen sein. Im übrigen hat es der Versicherer durch entsprechende Gestaltung seines inneren Geschäftsbetriebs in der Hand, den Zeitraum des vorläufigen Deckungsschutzes abzukürzen.

5. Die Vorlegungsfrage ist demnach wie folgt zu beantworten:

Wer auf öffentlichen Wegen oder Plätzen ein Fahrzeug gebraucht oder den Gebrauch gestattet, für welches Haftpflichtversicherungsschutz auf Grund einer vorläufigen Deckungszusage besteht, macht sich nicht nach PflVG § 6 strafbar, wenn die vorläufige Deckung später infolge Nichteinlösung des Versicherungsscheins rückwirkend wegfällt oder wenn der Versicherer vom Vertrag gemäß VVG § 38 zurücktritt. ..."



Datenschutz    Impressum