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BGH Urteil vom 15.02.2005 - 1 StR 91/04 - Von einem gesicherten Stand der Wissenschaft im Bereich der anthropologischen Identitätsgutachten kann nicht die Rede sein
BGH v. 15.02.2005: Von einem gesicherten Stand der Wissenschaft im Bereich der anthropologischen Identitätsgutachten kann nicht die Rede sein
Der BGH (Urteil vom 15.02.2005 - 1 StR 91/04) hat zur erforderlichen Tatfotoqualität und zur Notwendigkeit eines anthropologischen Gutachtens entschieden:
Zur Frage, ob die von Überwachungskameras gefertigten Tatfotos als zureichende Anknüpfungstatsachen für ein anthropologisches Identitätsgutachten geeignet sind.
Siehe auch Radarmessverfahren und Geschwindigkeitsverstöße - Nachweis - standardisierte Messverfahren
Aus den Entscheidungsgründen:
"... a) Für ein anthropologisches Identitätsgutachten anhand von Tatfotos gilt allgemein:
aa) Beim anthropologischen Identitätsgutachten werden anhand von Lichtbildern der Raumüberwachungskamera eine bestimmbare Zahl deskriptiver morphologischer Merkmale (z. B. Nasenfurche, Nasenkrümmung etc.) oder von Körpermaßen des Täters herausgearbeitet und mit den entsprechenden Merkmalen des Tatverdächtigen verglichen (BGHR StPO § 267 1 2 StPO Beweisergebnis 4 mwN). Anders als bei Gutachten zur Blutalkoholanalyse oder zur Bestimmung von Blutgruppen handelt es sich um kein standardisiertes Verfahren` (BGH aaO; KK-Schoreit 5. Aufl., § 261 Rn 32). Die morphologischen Merkmale sind nicht eindeutig bestimmbar (Schwarzfischer in Kube/Störzer/Timm [Hrsg.], Kriminalistik Bd. I 1992, S. 735, 743; Knußmann in Knußmann [Hrsg.], Anthropologie Bd. I S. 368, 389; ders. StV 1983, 127, 128).
Zwischen den Klassifizierungen von Einzelmerkmalen besteht ein gleitender Übergang, weswegen in der Regel keine genauen Angaben über die Häufigkeit der Merkmale in der Bevölkerung, der die zu identifizierende Person angehört, gemacht werden können (Schwarzfischer aaO; Knußmann NStZ 1991, 175, 176). Weitere Beeinträchtigungen des Beweiswerts können u. a. durch Vermummung, Grimassierung oder Bartbildung erfolgen (Schwarzfischer aaO; Knußmann in Knußmann, aaO, S. 388 f.). Auf Grund dieser „weichen” Kriterien ist die Abschätzung der Beweiswertigkeit nach der persönlichen Erfahrung eines Sachverständigen subjektiv; graduelle Abweichungen sind zwischen verschiedenen Sachverständigen möglich (Schwarzfischer aaO, S. 744; vgl. auch Knußmann NStZ 1991, 175, 176). Dabei lässt sich der Identitätsausschluss leichter als der Identitätsnachweis erreichen, weil dafür bereits ein besonders prägnantes Gesichtsmerkmal ausreicht (Knußmann in Knußmann, aaO, S. 386 f.; ders. StV 1983, 127, 128; ders. NStZ 1991, 175).
bb) Nach der Rechtsprechung des BGH müssen die Lichtbilder eine gewisse Qualität aufweisen, um als Identifizierungsgrundlage dienen zu können (vgl. BGH NStZ 1991, 596; BGHR StPO § 244 III 2 Ungeeignetheit 16). Das bestätigt auch die Fachwissenschaft. Eine fehlerhafte Beeinträchtigung des Bildmaterials könne durch Beleuchtung, Schattengebung, Tiefenschärfe, Retusche, Entwicklung und Filmmaterial bedingt sein (Schwarzfischer aaO, S. 745). So könnten Reliefmerkmale verschwinden und damit Unähnlichkeiten vorgetäuscht werden, bei zu starker Vergrößerung und grober Körnung könnten Konturen unkenntlich werden. Aufnahmen von hoch installierten Überwachungskameras seien oft wenig geeignet. Auch die Arbeitsgruppe für die anthropologische Identifikation lebender Personen auf Grund von Bilddokumenten weist in ihren „Standards” darauf hin, dass Bilddokumente, die mit starker Kameraüberhöhung gewonnen werden, die bildvergleichenden Untersuchungen erschweren (NStZ 1999, 230, 231). Die Erkennbarkeit von Merkmalen werde durch schlechte Aufnahmen beeinträchtigt. Ebenso betont Knußmann eine mögliche Beeinträchtigung durch fototechnische Umstände wie Beleuchtungsverhältnisse und perspektivische Verzerrungen (Knußmann in Knußmann, aaO, S. 390; Knußmann StV 1983, 127, 128).
b) Die Sachverständigen kommen hinsichtlich der Frage, ob im vorliegenden Fall ein beweisrelevantes Identitätsgutachten möglich ist, und der zu beurteilenden Qualität der Tataufnahme der Raumüberwachungsanlage, bei der ein digitales Aufzeichnungsverfahren eingesetzt wurde, zu unterschiedlichen Ergebnissen ...
d) Es ist Sache des Tatgerichts zu beurteilen, ob eklatante Abweichungen von Merkmalspartien und Einzelmerkmalen in ihrer Grobstruktur vorliegen. Wenn es dabei zu dem Ergebnis kommt, eine derartige Abweichung liege nicht vor, bindet dies grundsätzlich das RevGer. Eine eigene Überprüfung durch den Senat liefe auf eine Rekonstruktion der Beweisaufnahme hinaus (vgl. BGHSt 29, 18, 22; 41, 376, 380; LRHanack 25. Aufl., § 337 Rn 107; Meyer-Goßner 47. Aufl., § 337 Rn 15).
...
Hier hat die StrK eine sehr starke Ähnlichkeit des Angekl. mit den von den Überwachungskameras aufgezeichneten Fotos und eine Übereinstimmung mit der Täterbeschreibung durch die Zeugin B festgestellt. Sogar der Angekl. hat zugegeben, dass ihm die Bilder verblüffend ähnlich sähen. Diese Feststellungen sowie der Ümstand, dass das Gericht ein wichtiges Indiz darin gesehen hat, dass die Zeuginnen K und He den Angekl. auf dem Fahndungsfoto als ihren Stammgast wiedererkannt haben, sind auch kein Widerspruch zu der Aussage des Sachverständigen KHK V, dass die Fotos für Vergleichsuntersuchungen nicht geeignet sind.
Es gibt zwei Wege der Erkenntnis der Personenidentität.
Die vergleichende morphologische Analyse von Abbildern des Täters und des Tatverdächtigen ist eine Möglichkeit, die Identität nachzuweisen oder auszuschließen.
Das Wiedererkennen auf Grund einer komplexen Erinnerung ist der andere Weg (Knußmann in Anthropologie, aaO, S. 386; ders. StV 1983, 127; Standards NStZ 1999, 230). Diese Identifikation erfolgt ganzheitlich und rasch mit einer Tendenz zur Prägnanz zwischen Identität und Nichtidentität (Standards NStZ 1999, 230). Zwar haben die Zeuginnen K und He den Angekl. nicht in der Tatsituation beobachtet, beiden ist er aber als nahezu täglicher Besucher der Spielothek seit vielen Jahren bestens bekannt.
e) Die unterschiedlichen Ergebnisse der Gutachten zeigen, dass von einem gesicherten Stand der Wissenschaft im Bereich der anthropologischen Identitätsgutachten nicht die Rede sein kann. Der von KHK V vom BKA angewandte Maßstab der klaren Erkennbarkeit von individuellen anatomischen Gesichtsmerkmalen und die sich daran anknüpfende Beurteilung der Tataufnahme ist nachvollziehbar und plausibel. Das auf dieser Grundlage von der Sachverständigen Dr. StO vom LKA erstattete Gutachten ist nicht falsch. Die Gutachten von Prof. Dr. R und Prof. Dr. H lassen nicht erkennen, dass sie über bessere wissenschaftlich anerkannte Verfahren verfügen. Ausgangspunkt sämtlicher Vergleichsuntersuchungen sind die während der Tatbegehung gefertigten Aufnahmen des Täters. Diese gilt es auszuwerten und mit dem Tatverdächtigen zu vergleichen .. .
dd) Werden Gutachten unabhängig von der klaren Erkennbarkeit der individuellen anatomischen Merkmale erstellt, besagt dies nichts über deren Beweiswert. Wie Prof. Dr. R selbst ausführt, hat dies eine breitere Verteilung von Wahrscheinlichkeitsprädikaten zur Folge auch in Richtung der unentscheidbaren Fälle. Im vorliegenden Fall sind von den 57 auf den Tatfotos von ihm erkannten Merkmalen noch nicht einmal die Hälfte von sehr guter bis noch guter Erkennbarkeit. Es kann aber keinen Unterschied machen, ob ein Gutachten wegen der mangelhaften Bildqualität nicht erstattet wird oder ob das Ergebnis des Gutachtens nicht aussagekräftig ist. In diesen Fällen wird der Tatrichter grundsätzlich keinen Anlass sehen, ein anthropologisches Identitätsgutachten in Auftrag zu geben. Denn in der Regel kann er selbst beurteilen, ob die Tataufnahmen als Anknüpfungstatsachen für die Begutachtung geeignet sind (vgl. BGHR StPO § 244 III 2 Ungeeignetheit 16; BGH NStZ 1991, 596). Die Behauptung, die Gefahr bei der von KHK V angewandten Vorgehensweise bestehe darin, dass leicht ein Entlastungsindiz übersehen werde, ist nicht belegt. Der von Prof. Dr. H betonte Umstand, dass durch eine Vielzahl von Täterfotos der Qualitätsmangel wettgemacht werden könne, ändert nichts an der mangelnden oder schlechten Erkennbarkeit von Einzelmerkmalen, und diese wird dadurch auch nicht ausgeglichen. Details unterhalb der Pixelgröße werden von vornherein nicht aufgenommen und können damit auf allen Bildern unabhängig von deren Anzahl nicht sichtbar gemacht werden. Bei einer verlustbehafteten Bilddatenkompression werden auf sämtlichen Bildern Details in Form von Strukturen, Linien und Mustern dargestellt, die in Wirklichkeit gar nicht vorhanden sind. Diese Artefakte können auch bei einer Dekomprimierung nicht wieder beseitigt werden, weil diese auf der Basis der Kornpressionsdaten erfolgt. Mit der in der Regel bei Raumüberwachungskameras verwendeten höheren Kameraposition ist eine Perspektive verbunden, die die Person ebenfalls auf allen Bildern von oben zeigt, wodurch individuelle anatomische Gesichtsmerkmale verloren gehen. Mit der Möglichkeit, mittels trigonometrischer Berechnungen die Perspektive zu verändern (vgl. Knußmann in Knußmann, aaO, S. 396), können fehlende Gesichtsmerkmale nicht sichtbar gemacht werden. Das Ergebnis von Prof. Dr. H, dass eine beträchtliche Anzahl der im vorliegenden Fall erfassbaren Merkmale es dem erfahrenen Sachverständigen erlauben dürfte, eine sichere Aussage zur Identität oder Nichtidentität des Täters mit dem Angeklagten zu machen, wird durch die Ausführungen im Gutachten nicht gestützt.
4. Der Senat weist auf folgendes hin: Um den Beweiswert von anthropologischen Identitätsgutachten zu erhöhen, bedarf es einer verbesserten Qualität der Tataufnahmen. Der Senat entnimmt der Literatur (vgl. Schwarzfischer aaO, S. 745; Knußmann in Knußmann, aaO, S. 390; ders. StV 1983, 1127, 128), dass bestimmte technische Anforderungen an die Qualität der Lichtbilder beachtet werden sollten, ohne damit Mindeststandards aufzustellen.
Je höher die Auflösung der Tataufnahmen ist, desto detailreicher ist die Wiedergabe. Diese wird durch die Kameraoptik bestimmt. Ebenso sind die Brennweite und das Objektiv von Bedeutung. Durch die verlustbehaftete Bilddatenkompression werden Bildartefakte wie tatsächlich nicht vorhandene Linien und Muster erzeugt. Je stärker die Bilddaten komprimiert werden, um möglichst viele Bilder auf der Festplatte archivieren zu können, desto geringer ist die Erkennbarkeit. Die Perspektive bei Raumüberwachungskameras von oben ist von vornherein wenig geeignet für Vergleichsuntersuchungen, weil wesentliche Informationen durch die Verzerrung verloren gehen. Allgemein gilt: Je mehr dieser Kriterien beachtet werden, desto höher ist die Qualität der Bilder und desto größer die Chance auf ein aussagekräftiges Gutachten. ..."