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OLG Jena Beschluss vom 16.05.2006 - 1 Ss 106/06 - Zu den Anforderungen an die Darstellung eines anthropologisch-biometrischen Sachverständigengutachtens im Urteil

OLG Jena v. 16.05.2006: Zu den Anforderungen an die Darstellung eines anthropologisch-biometrischen Sachverständigengutachtens im Urteil


Das OLG Jena (Beschluss vom 16.05.2006 - 1 Ss 106/06) hat entschieden:
Bei einem anthropologischen Identitätsgutachten handelt es sich nicht um eine standardisierte Untersuchungsmethode; um dem Rechtsbeschwerdegericht die Überprüfung der gedanklichen Schlüssigkeit des Gutachtens und seines Beweiswertes zu ermöglichen, bedarf es daher über die Aufzählung der mit dem Foto übereinstimmenden morphologischen Merkmalsprägungen des Betroffenen hinausgehender Angaben sowie Angaben zur Untersuchungsmethodik.


Siehe auch Radarmessverfahren und Geschwindigkeitsverstöße - Nachweis - standardisierte Messverfahren


Aus den Entscheidungsgründen:

"... Doch ist das angefochtene Urteil in der Darstellung der Beweiswürdigung lückenhaft.

Die Urteilsgründe ermöglichen nämlich dem Senat nicht die Kontrolle, ob die Feststellung, dass gerade der Betr. die gegenständliche Tat begangen hat, rechtsfehlerfrei getroffen worden ist. Ihnen ist nicht hinreichend zu entnehmen. aus welchen Gründen das AG den Ausführungen des Sachverständigen gefolgt und deshalb zur Überzeugung von der Fahrereigenschaft der Betr. gelangt ist.

Der Tatrichter, der ein Sachverständigengutachten eingeholt hat und diesem Beweisbedeutung beimisst, muss auch dann, wenn er sich dem Gutachten des Sachverständigen anschließt, die Ausführungen des Sachverständigen in einer, wenn auch nur gedrängten, zusammenfassenden Darstellung unter Mitteilung der zugrunde liegenden Anknüpfungstatsachen und der daraus gezogenen Schlussfolgerungen wiedergeben, um dem Rechtsbeschwerdegericht die gebotene Nachprüfung zu ermöglichen (BGH, NStZ 1991. 596; NStZ 2000, 106, 107; OLG Celle, NZV 2002, 472; OLG Hamm. VRS 107, 371, 373; Senatsbeschlüsse vom 14. 11.2005, Az.: 1 Ss 217/05, und vom 24. 3. 2006, Az.: 1 Ss 57/06).

Bei einem anthropologischen Identitätsgutachten handelt es sich nicht um eine standardisierte Untersuchungsmethode, bei welcher sich die Darstellung im Wesentlichen auf die Mitteilung des Ergebnisses des Gutachtens beschränken kann (BGH, a.a.O.). Um dem Rechtsbeschwerdegericht die Überprüfung der gedanklichen Schlüssigkeit des Gutachtens und seines Beweiswertes zu ermöglichen, bedarf es daher über die Aufzählung der mit dem Foto übereinstimmenden morphologischen Merkmalsprägungen des Betr. hinausgehender Angaben (Senat, a.a.O. m.w.N.). Nur so kann der sich hieran anknüpfende Schluss des Sachverständigen, ein Dritter sei aufgrund dieser Übereinstimmungen als Fahrer im Tatzeitpunkt praktisch ausgeschlossen, nachvollzogen werden.

Das AG teilt im angefochtenen Urteil aber schon nicht alle insgesamt 15 Anknüpfungstatsachen des Sachverständigen mit. Darüber hinaus enthält das Urteil keine Angaben zur Untersuchungsmethodik. Vor allem aber fehlen Angaben zum Verbreitungsgrad der verschiedenen Merkmalsprägungen, d.h. zu deren Häufigkeit oder Seltenheit. Denn es mag Merkmale geben, die bei einem hohen Anteil der Bevölkerung vorhanden sind, und andere, die nur äußerst selten vorkommen. Um dies beurteilen zu können, muss eine Untersuchung entweder auf biostatisches Vergleichsmaterial oder auf mehr oder weniger genaue Anhaltswerte zurückgreifen, wobei Letztere allerdings a priori den Beweiswert der Wahrscheinlichkeitsaussage ganz erheblich schmälern (vgl. BGH, NStZ 2000, 106, 107). Entsprechend wäre es auch geboten gewesen, das der Tatrichter mitteilt, worauf der Sachverständige seine Wahrscheinlichkeitsberechnung gestützt hat. Je nach Häufigkeit des Vorkommens in der - richtig abgegrenzten - Bevölkerung kommt dem Vorhandensein einzelner Merkmale nämlich eine höhere Beweisbedeutung zu als anderen (OLG Celle, a.a.O.). Dies wird vor allem dann relevant, wenn es nicht nur Übereinstimmungen, sondern auch Abweichungen gegeben hat und sich die Frage stellt, ob angesichts dieser Abweichung(en) die Wahrscheinlichkeitsaussage einer Relativierung bedarf. Zur Beweisbedeutung der einzelnen Merkmalsprägungen - allein oder ggf. in Kombination mit anderen festgestellten Merkmalen - ist in den Urteilsgründen indes nichts ausgeführt. Es ist auch nicht erörtert worden, ob neben den Übereinstimmungen auch Abweichungen vom Sachverständigen festgestellt und ggf. wie diese bewertet wurden.

4. Für die neue Hauptverhandlung und die anschließende Abfassung der Urteilsgründe weist der Senat auf Folgendes hin:

a) Ob ein Lichtbild die Feststellung zulässt, dass der Betr. der abgebildete Fahrzeugführer ist, hat allein der Tatrichter zu entscheiden. Er entscheidet auch, ob die Einholung eines anthropologischen Sachverständigengutachtens geboten ist. Die Zuziehung eines Sachverständigen wird etwa dann entbehrlich sein, wenn der Tatrichter infolge Selbststudiums oder aufgrund eines bereits in anderem Zusammenhang erholten Sachverständigengutachtens über ausreichend eigene Sachkunde verfügt und hierdurch in die Lage versetzt ist, die Identität zwischen der abgebildeten Person und der Person des Betr. zu beurteilen. Allerdings ist der Tatrichter jedenfalls in den Fällen, in denen er die Zuziehung eines Sachverständigen bei früherer Befassung mit der Sache zunächst noch für geboten erachtet hat, schon aus Fürsorgegesichtspunkten gehalten, die Verfahrensbeteiligten auf die nunmehr für ausreichend erachtete eigene Sachkunde hinzuweisen.

Verzichtet der Tatrichter auf die Zuziehung eines Sachverständigen und stützt er seine Überzeugungsbildung von der Täterschaft auf eine Inaugenscheinnahme des Frontfotos und des Betr., müssen die Urteilsgründe so gefasst sein, dass das Rechtsbeschwerdegericht prüfen kann, ob das Belegfoto überhaupt geeignet ist, die Identifizierung einer Person zu ermöglichen.

Diese Forderung kann der Tatrichter dadurch erfüllen, dass er in den Urteilsgründen auf das in der Akte befindliche Foto gem. §§ 267 Abs. 1 Satz 3 StPO, 71 Abs. 1 OWiG Bezug nimmt (BGHSt 41, 376, 382). Aufgrund der Bezugnahme, die deutlich und zweifelsfrei zum Ausdruck gebracht sein muss, wird das Lichtbild zum Bestandteil der Urteilsgründe. Das Rechtsmittelgericht kann die Abbildung aus eigener Anschauung würdigen und ist daher auch in der Lage zu beurteilen, ob es als Grundlage einer Identifizierung tauglich ist. Macht der Tatrichter von dieser Möglichkeit Gebrauch, sind darüber hinausgehende Ausführungen zur Beschreibung des abgebildeten Fahrzeugführers entbehrlich, wenn das Foto zur Identifizierung uneingeschränkt geeignet ist. Es bedarf weder einer Auflistung der charakteristischen Merkmale, auf die sich die Überzeugung von der Identität mit dem Betr. stützt, noch brauchen diese Merkmale und das Maß der Übereinstimmung beschrieben zu werden. Solche Ausführungen wären auch überflüssig und ohne Wert: Die Überprüfung, ob der Betr. mit dem abgebildeten Fahrer identisch ist, steht dem Rechtsmittelgericht ohnehin nicht zu und wäre ihm zudem unmöglich. Dies setzte nämlich eine Inaugenscheinnahme des Betr. voraus, wäre also ohne eine - unzulässige - (teilweise) Rekonstruktion der Hauptverhandlung nicht möglich. Als Grundlage für die Überprüfung der generellen Ergiebigkeit des Fotos könnten Beschreibungen der Abbildung dem Rechtsmittelgericht keine besseren Erkenntnisse vermitteln, als sie ihm aufgrund der - durch die Bezugnahme ermöglichten - eigenen Anschauung zur Verfügung stehen.

Ist das Foto - etwa aufgrund schlechterer Bildqualität (z.B. erhebliche Unschärfe) oder aufgrund seines Inhalts - zur Identifizierung eines Betr. nur eingeschränkt geeignet, so hat der Tatrichter zu erörtern, warum ihm die Identifizierung gleichwohl möglich erscheint. Dabei sind um so höhere Anforderungen an die Begründung zu stellen, je schlechter die Qualität des Fotos ist. Die - auf dem Foto erkennbaren - charakteristischen Merkmale, die für die richterliche Überzeugungsbildung bestimmend waren, sind zu benennen und zu beschreiben.

Sieht der Tatrichter hingegen von der die Abfassung der Urteilsgründe erleichternden Verweisung auf das Beweisfoto ab, so genügt es weder, wenn er das Ergebnis seiner Überzeugungsbildung mitteilt, noch, wenn er die von ihm zur Identifizierung herangezogenen Merkmale auflistet. Vielmehr muss er dem Rechtsmittelgericht, dem das Foto dann nicht als Anschauungsobjekt zur Verfügung steht, durch eine entsprechend ausführliche Beschreibung die Prüfung ermöglichen, ob es für eine Identifizierung geeignet ist. In diesem Fall muss das Urteil Ausführungen zur Bildqualität (insbesondere zur Bildschärfe) enthalten und die abgebildete Person oder jedenfalls mehrere Identifizierungsmerkmale (in ihren charakteristischen Eigenarten) so präzise beschreiben, dass dem Rechtsmittelgericht anhand der Beschreibung in gleicher Weise wie bei Betrachtung des Fotos die Prüfung der Ergiebigkeit ermöglicht wird. Die Zahl der zu beschreibenden Merkmale kann dabei um so kleiner sein, je individueller sie sind und je mehr sie in ihrer Zusammensetzung geeignet erscheinen, eine bestimmte Person sicher zu erkennen. Dagegen muss die Beschreibung um so mehr Merkmale umfassen, je eher die geschilderten auf eine Vielzahl von Personen zutreffen und daher weniger aussagekräftig sind. Umstände, die eine Identifizierung erschweren können, sind ebenfalls zu schildern. Bei der Beantwortung der Frage. ob nach diesen Grundsätzen die vom Tatgericht gegebene Beschreibung des Fahrers ausreichend ist, darf jedoch die sonstige Beweissituation nicht außer Betracht bleiben. Bestreitet der Betr. mit näheren Ausführungen, der Fahrer gewesen zu sein, und benennt er etwa andere Personen, die als Fahrer in Betracht kommen, so kann eine eingehendere Darstellung der Beweiswürdigung - unter Umständen auch unter Berücksichtigung der Ergebnisse einer erweiterten Beweisaufnahme - geboten sein. Umgekehrt kann eine Gesamtwürdigung aller Umstände - der sich aus dem Foto ergebenden Anhaltspunkte sowie weiterer Indizien, etwa der Haltereigenschaft, der Fahrtstrecke oder -zeit - auch dann zur Überführung des Beschuldigten ausreichen, wenn der Vergleich des Fotos mit dem Betr. für sich allein diesen Schluss nicht rechtfertigt (Senatsbeschluss vom 17.6.2004, Az.: 1 Ss 13/04, VRS 107, 296). ..."



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