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OLG Zweibrücken Beschluss vom 06.07.1990 - 1 Ss 159/90 - Zum Vertrauen des Wartepflichtigen auf richtiges Verhalten des Vorfahrtberechtigten beim Blinken

OLG Zweibrücken v. 06.07.1990: Zum Vertrauen des Wartepflichtigen auf richtiges Verhalten des Vorfahrtberechtigten beim Blinken


Dafür, dass der Vertrauensgrundsatz auch bei sog. abknickender Vorfahrt gilt, hat das OLG Zweibrücken (Beschluss vom 06.07.1990 - 1 Ss 159/90) sich ausgesprochen:
Der wartepflichtige Verkehrsteilnehmer darf auch im Falle der abknickenden Vorfahrt (Zusatzschild zu Zeichen 306) auf richtiges Blinkzeichen des die Vorfahrtsstraße verlassenden Vorfahrtsberechtigten vertrauen (Änderung der bisherigen Rechtsprechung des Senats).


Siehe auch Irreführendes Falschblinken des Vorfahrtberechtigten und Stichwörter zum Thema Vorfahrt


Gründe:

Das Amtsgericht - Jugendrichter - Ludwigshafen am Rhein hat den Betroffenen wegen Vorfahrtsverletzung und Schädigung eines anderen gemäß §§ 1 Abs. 2, 8 Abs. 1, 49 Abs. 1 Nr. 1 und 8 StVO, 24 StVG zu einer Geldbuße von 50,00 DM verurteilt.

Auf den in formeller Hinsicht nicht zu beanstandenden Antrag des Verurteilten lässt der Senat die Rechtsbeschwerde zu, weil die Nachprüfung der Entscheidung zur Fortbildung des materiellen Rechts erforderlich ist (§ 80 Abs. 2 Nr. 1 OWiG).

Die Rechtsbeschwerde führt in der Sache zu einem vorläufigen Erfolg.

Nach den Feststellungen des Amtsgerichts kam es am 7. Juli 1989 in L im Kreuzungsbereich S. straße/M. Straße/W. Straße/In den N. zum Zusammenstoß der Fahrzeuge des Betroffenen und der Zeugin F. Die Zeugin befuhr, aus Richtung O. kommend, die S. straße. An der Unfallstelle wird, aus der Fahrtrichtung der Zeugin betrachtet, die S. straße in einem Linksbogen als "abknickende Vorfahrtsstraße" in die M. Straße weitergeführt, während von rechts die W. Straße einmündet und die S. straße sich geradeaus in der Straße In den N. fortsetzt. Die Zeugin wollte nicht der Vorfahrtsstraße folgen, sondern geradeaus in die Straße In den N. weiterfahren. Kurz vor der Kreuzung betätigte sie, ohne ihre Fahrt zu verlangsamen, den rechten Fahrtrichtungsanzeiger ihres Pkw, weil sie einem ihr nachfolgenden Motorradfahrer anzeigen wollte, dass sie die Vorfahrtstraße verlassen und geradeaus weiterfahren werde. Aus dem Blinkzeichen schloss der Betroffene, der sich der Kreuzung auf der W. Straße genähert hatte und auf der S. straße weiterfahren wollte, auf die Absicht der Zeugin, in die W. Straße einzubiegen. Er setzte deshalb seine Fahrt fort, und es kam so zum Zusammenstoß mit der geradeaus fahrenden Zeugin.

Das Amtsgericht hat in der Fahrweise des Betroffenen ein verkehrswidriges Verhalten gesehen und dazu ausgeführt:
"Nach einhelliger Auffassung in Literatur und Rechtsprechung darf ein Wartepflichtiger nicht blindlings auf die Fahrtrichtungsanzeige des Berechtigten vertrauen. Vielmehr hat er auf weitere Umstände zu achten, die eine Abbiegeabsicht des Vorfahrtsberechtigten bestätigen. Solche Umstände sind z. B. Verlangsamen der Geschwindigkeit oder beginnendes Einschlagen der Vorderräder und damit einhergehendes Schwenken des berechtigten Fahrzeugs um die Längsachse.

Dies gilt um so mehr bei abknickenden Vorfahrtstraßen. Insbesondere hier darf der Wartepflichtige auf richtige Blinkzeichen vorerst nicht vertrauen und muss mit der Möglichkeit falscher Blinkzeichen rechnen (vgl. nur Jagusch/Hentschel, § 8 StVO Anm. 43 und 54 mit Rechtsprechungsnachweisen)."
Daran ist richtig, dass sich im Straßenverkehr grundsätzlich kein Verkehrsteilnehmer "blindlings" auf ordnungsgemäße Zeichengebung anderer verlassen darf. Indessen darf nach mittlerweile herrschender Meinung in Rechtsprechung und Schrifttum bei geradem Straßenverlauf der Wartepflichtige grundsätzlich darauf vertrauen, dass der Bevorrechtigte, wenn er den Blinker gesetzt hat, in die nächste Querstraße einbiegen wird, sofern nicht besondere Anzeichen gegen eine dahingehende Absicht sprechen (OLG Zweibrücken DAR 1974, 166; OLG Düsseldorf NStZ 1982, 117; OLG Stuttgart VRS 46, 215; KG DAR 1975, 41; Rüth/Berr/Berz, Straßenverkehrsrecht 2. Aufl. § 8 Rdn. 50; Jagusch/Hentschel, Straßenverkehrsrecht 30. Aufl. § 8 StVO Rdn. 54 m.w.N.; Mühlhaus/Janiszewski, StVO 11. Aufl. § 8 Rdn. 42; vgl. auch BGHSt 20, 238).

Der Vertrauensschutz des Wartepflichtigen kann aber auch bei abknickender Vorfahrtstraße nicht mehr schlechthin verneint werden. Insoweit hält der Senat an seiner früheren Rechtsprechung (aaO) nicht mehr fest. Die bisher in der Rechtsprechung und im Schrifttum befürwortete Versagung des Vertrauensschutzes für den Wartepflichtigen in den Fällen der abknickenden Vorfahrt (vgl. OLG Zweibrücken aaO; BayObLG DAR 1974, 302; OLG Düsseldorf NJW 1977, 1245; zuletzt BayObLG DAR 1986, 126; Drees/Kuckuk/Werny, Straßenverkehrsrecht 6. Aufl. § 8 StVO Rdn. 51; § 9 StVO Rdn. 9, 10: Jagusch/Hentschel aaO § 8 StVO Rdn. 43; Rüth/Berr/Berz aaO; Mühlhaus/Janiszewski aaO § 9 Rdn. 40) beruhte auf der Erfahrung, dass zunächst die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH NJW 1966, 108) und dann die seit dem 1. März 1971 auch in die Straßenverkehrsordnung (§ 42 Abs. 2 - Zusatzschild zu Zeichen 306 Satz 2 -) aufgenommene Vorschrift zur Zeichengebung bei abknickender Vorfahrt einer beträchtlichen Zahl von Verkehrsteilnehmern noch nicht genügend bekannt war, dementsprechend häufig gegen die Zeichengebungsvorschrift auch in der Weise verstoßen wurde, dass die Absicht des Geradeausfahrens durch Blinken angezeigt wurde - mit der Folge, dass die Verkehrslage an Kreuzungen mit abknickender Vorfahrt unklar erschien -, und deshalb auch der Schutz des Vertrauens in richtiges Blinkverhalten an Kreuzungen mit abknickender Vorfahrt nicht gerechtfertigt war. Nach nunmehr fast zwanzigjähriger Geltung des geschriebenen Satzes, dass rechtzeitig und deutlich anzukündigen hat, wer der (abknickenden) Vorfahrtsstraße folgend abbiegen will, dessen Kehrseite das Verbot der missverständlichen Zeichengebung bei Geradeausfahrt ist, ist die Ausgangslage dieser Rechtsauffassung durch Zeitablauf und die Entwicklung des Verkehrs überholt. Straßenführungen mit abknickender Vorfahrtsregelung sind inzwischen häufig anzutreffen, und die Beobachtung des allgemeinen Verkehrsverhaltens zeigt, dass die dafür geltenden Blinkregeln heute weitgehend beachtet werden und dagegen jedenfalls nicht wesentlich häufiger als gegen die sonst geltenden Regeln für das Zeichengeben verstoßen wird. Das rechtfertigt die Ausdehnung des für gerade Straßenführung geltenden Vertrauensgrundsatzes (aaO) auf Kreuzungen mit abknickender Vorfahrt. Dafür besteht auch im Hinblick auf die ständig zunehmende Verkehrsdichte und die daraus folgenden Probleme ein erhebliches Bedürfnis. Die Versagung des Vertrauensschutzes begünstigt die Bildung von Verkehrsstauungen, deren Vermeidung nicht nur der Aufrechterhaltung des Verkehrsflusses dient, sondern auch wegen der damit verbundenen Umweltbelastung im Allgemeininteresse liegt.

Die Anwendung dieser Rechtsregel auf den vorliegenden Fall bedeutet, dass der Betroffene aus der Zeichengebung der Zeugin schließen und sich darauf verlassen durfte, dass die Zeugin nach - aus ihrer Fahrtrichtung gesehen - rechts in die Weimarer Straße einbiegen werde. Der Vorwurf verkehrswidrigen Verhaltens kann ihn daher nur dann treffen, wenn ihr sonstiges Fahrverhalten Anlass zu der Annahme gab, dass sie trotz ihrer anders zu verstehenden Zeichengebung nicht rechts abbiegen, sondern geradeaus fahren wolle. Feststellungen, die einen solchen Vorwurf rechtfertigen könnten, hat das Amtsgericht nicht getroffen. Der Umstand allein, dass die Zeugin ihre Geschwindigkeit nicht ermäßigt hat, brauchte nicht auf ihre wahre Absicht hinzudeuten, wenn sie ohnehin mit mäßiger, ein Rechtsabbiegen ohne weiteres ermöglichender Geschwindigkeit fuhr.

Nach alledem ist das angefochtene Urteil aufzuheben, und das Amtsgericht, an das die Sache zurückzuverweisen ist, wird unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats prüfen müssen, ob nach den besonderen Umständen des zum Unfall führenden Verkehrsgeschehens ein Vertrauen des Betroffenen auf richtige Zeichengebung durch die Zeugin nicht gerechtfertigt war.