Das Verkehrslexikon

A     B     C     D     E     F     G     H     I     K     L     M     N     O     P     Q     R     S     T     U     V     W     Z    

OLG Düsseldorf Urteil vom 19.12.2005 - I-1 U 128/05 - Der Unfallgeschädigte muss nicht ein höheres Restwertangebot der Versicherung abwarten

OLG Düsseldorf v. 19.12.2005: Der Unfallgeschädigte muss nicht ein höheres Restwertangebot der Versicherung abwarten


Das OLG Düsseldorf (Urteil vom 19.12.2005 - I-1 U 128/05) hat entschieden, dass sich der Geschädigte auf die Restwertfeststellung des von ihm eingeschalteten Kfz-Sachverständigen verlassen darf:
Der Geschädigte ist nicht verpflichtet, nach Übersendung des Schadensgutachtens des Sachverständigen mit der Veräußerung des Unfallfahrzeugs zu warten, bis die gegnerische Haftpflichtversicherung eventuell ein höheres Restwertangebot vorlegt. Es besteht auch keine Verpflichtung, die gegnerische Versicherung die beabsichtigte oder bevorstehende Veräußerung zu informieren.


Siehe auch Totalschaden - Wiederbeschaffungswert und Der Restwert des unfallbeschädigten Fahrzeugs bei Totalschaden


Aus den Entscheidungsgründen:

"... Außer Streit steht, dass der Kläger seinen Fahrzeugschaden nach den Grundsätzen über die Totalschadenabrechnung zu berechnen hat. Danach sind die Beklagten zum Ersatz des Wiederbeschaffungswertes abzüglich des Restwertes verpflichtet. In Übereinstimmung mit dem Landgericht ist als Restwert ein Betrag von 5.000,-- € in Ansatz zu bringen. Realisiert der Geschädigte den Restwert, wie hier, durch den Verkauf seines unfallbeschädigten Fahrzeugs, kann er seiner Schadensberechnung grundsätzlich den erzielten Restwertbetrag zugrunde legen (BGH NJW 2005, 3134 = DAR 2005, 617).

Unbestritten hat der Kläger bei der Veräußerung des Unfallfahrzeugs an das Autohaus W. einen Preis von 5.000,-- € erzielt. Der tatsächliche Erlös entspricht dem Betrag, den der von ihm eingeschaltete Sachverständige als Restwert ermittelt hat. Wie er in seinem Gutachten auf S. 13 unter der Überschrift "Restwert" ausgeführt hat, hat er nach Maßgabe der einschlägigen Entscheidungen des Bundesgerichtshofes vom 6. April 1993 und vom 30. November 1999 auf den Preis abgestellt, der auf dem regionalen allgemeinen Markt für das unfallbeschädigte Kraftfahrzeug üblicherweise zu erzielen ist. Unter Berücksichtigung dieser Kriterien ist er zu dem Ergebnis gelangt, dass der Restwert 5.000,-- € beträgt. Verwiesen hat er auf ein entsprechendes Gebot einer Firma S. aus H. mit einer Gültigkeitsdauer von 21 Kalendertagen.

b) Mit Blick auf den erzielten Veräußerungserlös von 5.000,-- € kann der Senat nicht erkennen, dass der Kläger sich über das Gebot der Wirtschaftlichkeit (dazu BGH NJW 2005, 3134) und über die Verpflichtung, den Schaden möglichst gering zu halten, zum Nachteil der Beklagten hinweggesetzt hat. Seinen Unfallwagen hat er an ein seriöses Autohaus zu genau dem Preis verkauft, der im Schadensgutachten als Restwert ausgewiesen ist. Auf die Richtigkeit dieser Schätzung konnte und durfte er sich verlassen. Die Schätzung stammte von einem anerkannten Sachverständigen für Kraftfahrzeuge und Verkehrsunfallschäden. Anhaltspunkte für eine Fehleinschätzung lagen nicht vor. Der Vorwurf der Beklagten, der Kläger habe sein Fahrzeug zu einem selbst für einen Laien erkennbar viel zu niedrigen Preis verkauft, geht fehl. Abgesehen davon, dass in der Gesamtübersicht der von der Beklagten zu 2. übermittelten Gebote an 7. Stelle ein Gebot über lediglich 5.362,07 € netto notiert ist, gab es aus Sicht des Klägers als Laie keinen Grund, die Schätzung des von ihm eingeschalteten Sachverständigen in Zweifel zu ziehen.

Soweit die Beklagten unter Vorlage der bereits angesprochenen Gesamtübersicht über Restwertangebote, ermittelt über die A-online-GmbH in N., geltend machen, sogar auf dem regionalen Markt hätte der Kläger einen deutlich höheren Restwert erzielen müssen, sieht der Senat keine Veranlassung, dieser Frage nachzugehen. Denn der entsprechende Sachvortrag ist unerheblich. Erheblich wäre er, wenn der Kläger sein Unfallfahrzeug ohne hinreichende Absicherung durch ein Sachverständigengutachten und damit auf eigenes Risiko veräußert hätte. So wie die Dinge im Entscheidungsfall liegen, hat es bei dem Grundsatz zu bleiben, dass der Geschädigte sein Fahrzeug zu demjenigen Preis veräußern darf, den ein von ihm eingeschalteter Sachverständiger als Wert auf dem allgemeinen regionalen Markt ermittelt hat.

c) Die zentrale Kritik der Beklagten am Verhalten des Klägers gilt denn auch weniger der Preisgestaltung als vielmehr dem Zeitpunkt der Veräußerung. Sie werfen ihm vor, bewusst oder zumindest grob fahrlässig vereitelt zu haben, dass die Beklagten ihm reelle und attraktive Restwertangebote unterbreiten. Damit habe er gerechnet, worauf nicht zuletzt der Hinweis seines Anwalts auf das Fehlen einer Empfangsvollmacht für Restwertangebote hindeute. Indem der Kläger sein Fahrzeug veräußert habe, bevor die beklagte Versicherung Gelegenheit gehabt habe, durch Einholung und Vorlage "richtiger" Restwertangebote die Verwertung zu ihren Gunsten zu beeinflussen, habe der Kläger gegen seine Schadensminderungspflicht verstoßen.

Dieser Argumentation vermag der Senat nicht zu folgen.

d) Entgegen der Ansicht der Beklagten war der Kläger unter den gegebenen Umständen nicht verpflichtet, nach Übersendung des Schadensgutachtens des Sachverständigen L. mit der Veräußerung des Unfallfahrzeugs zu warten, bis die Beklagte zu 2. eventuell ein (höheres) Restwertangebot vorlegt. Es bestand auch keine Verpflichtung, sie über die beabsichtigte Veräußerung zu informieren. Das ergibt sich nicht erst aus der Entscheidung des BGH vom 12. Juli 2005, NJW 2005, 3134 = DAR 2005, 617. Es ist vielmehr gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung. So heißt es beispielsweise in der Entscheidung des BGH vom 06.04.1993 (NJW 1993, 1849 = DAR 1993, 251) unter II., 4.:
"Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts war die Klägerin schließlich auch nicht verpflichtet, vor der Veräußerung des beschädigten Fahrzeuges das von ihr eingeholte Gutachten den Beklagten zur Kenntnis zu bringen. ... Die Unterrichtung der Beklagten zu 2. hätte deshalb nur den Zweck haben können, ihr die Möglichkeit zu geben, eine ihr günstigere Schadensberechnung auf der Grundlage der Preise professioneller Restwertaufkäufer aufzumachen. Darauf muss sich aber ... der Geschädigte nicht verweisen lassen."
Diese Rechtsprechung, der der Senat seit Jahren folgt (vgl. z.B. Urteil vom 29.03.2004, 1 U 185/03; Urteil vom 07.06.2004, 1 U 12/04, NJW-RR 2004, 1470 = NZV 2004, 584), ist weiterhin maßgebend. Allerdings verkennt der Senat nicht, dass in Teilen der Rechtsprechung und auch im Schrifttum (vor allem Ch. Huber, DAR 2002, 385, 393, 395) abweichende Auffassungen vertreten werden. Zur Untermauerung ihres Standpunktes berufen die Beklagten sich insbesondere auf den Beschluss des 15. Zivilsenats des OLG Köln vom 14. Februar 2005, 15 U 191/04. In diesem Beschluss, ergangen nach § 522 Abs. 2 ZPO, wird auf ein Schreiben des Senatsvorsitzenden vom 11. Januar 2005 Bezug genommen, in dem es auszugsweise heißt:
"Dementsprechend besteht in Literatur und Rechtsprechung auch kein Zweifel, dass der Geschädigte zwar seiner Berechnung grundsätzlich den vom Sachverständigen geschätzten Restwert zugrunde legen kann, dem Schädiger aber das Gutachten übermitteln muss, damit er eine günstigere Verkaufsmöglichkeit nachweisen oder das Wrack selbst zu höherem Betrag übernehmen kann."
Belegt wird diese - vom Senat nicht geteilte Auffassung - mit einem Hinweis auf Palandt/Heinrichs, Rdnr. 24 zu § 249 BGB.

In der Tat heißt es in diesem Kommentar, auch in der 65. Auflage, unter der angegebenen Randnummer zu § 249 BGB, der Geschädigte müsse dem Schädiger das Gutachten übermitteln, damit dieser eine günstigere Verkaufsmöglichkeit nachweisen kann. Vom OLG Köln unbeachtet ist indes geblieben, dass Palandt/ Heinrichs ausdrücklich darauf hinweisen, dass der Bundesgerichtshof in der Entscheidung vom 06.04.1993, NJW 1993, 1849, einen gegenteiligen Standpunkt vertritt. Außer dem erkennenden Senat teilen zahlreiche andere Instanzgerichte die Ansicht des Bundesgerichtshofes (z.B. OLG München DAR 1999, 407; LG Köln DAR 2003, 226; LG Augsburg NJOZ 2004, 3748; LG Konstanz, ZfS 2005, 491). Sie gilt zu Recht als herrschend.

Das OLG Köln sieht in seiner bereits zitierten Entscheidung, abgedruckt in Schadenpraxis 2005, 196, vgl. auch NJW Spezial 10/2005, 449, die anstehenden Rechtsfragen als in seinem Sinne geklärt durch die Entscheidung des BGH vom 30. November 1999, NJW 2000, 800. Dort habe der BGH dem Geschädigten auferlegt, von einer ihm durch den Schädiger nachgewiesenen, ohne Weiteres zugänglichen günstigeren Verwertungsmöglichkeit Gebrauch zu machen. Dies setze "denknotwendig" voraus, dass dem Schädiger Gelegenheit eingeräumt werde, solches überhaupt zu versuchen.

Der Senat versteht die o.a. Entscheidung des BGH nicht in diesem Sinne. Aus dem Umstand, dass ein Geschädigter gehalten sein kann, von einer grundsätzlich zulässigen Verwertung Abstand zu nehmen und im Rahmen des ihm Zumutbaren andere sich ihm darbietende Verwertungsmöglichkeiten zu ergreifen, kann nicht, schon gar nicht "denknotwendig", abgeleitet werden, dass der Geschädigte dem Schädiger/Versicherer Gelegenheit geben muss, eine für ihn günstigere Verwertungsmöglichkeit aufzuzeigen. Denn was der BGH dem Geschädigten als Obliegenheit aufbürdet, betrifft eine Ausnahmesituation ("besondere Umstände"). Gekennzeichnet ist sie zum einen dadurch, dass der Schädiger/Versicherer dem Geschädigten vor der Verwertung des Unfallfahrzeugs durch diesen ein Restwertangebot unterbreitet. Außerdem muss es bestimmten formalen und inhaltlichen Anforderungen genügen.

Grundsätzlich ist der Geschädigte, wenn er von seiner Ersetzungsbefugnis nach § 249 Abs. 2 BGB Gebrauch macht, der Herr des Restitutionsgeschehens. Wie er mit seinem beschädigten Fahrzeug verfährt, ist deshalb seine Sache. Seine Verwertungsfreiheit erstreckt sich nicht nur auf das Ob, sondern auch auf den Zeitpunkt der von ihm beabsichtigten Veräußerung. Es kann ihm in der Regel nicht zum Nachteil gereichen, wenn er seine Absicht alsbald nach dem Unfall in die Tat umsetzt, sei es durch einen freien Verkauf, sei es durch eine Inzahlunggabe. Für eine zügige Veräußerung gibt es erfahrungsgemäß eine Reihe von Gründen, die der Schädiger/Versicherer zu respektieren hat. Davon abgesehen kann auch ihm zugute kommen, dass der Geschädigte seinen Unfallwagen ohne Verzögerung veräußert. Denn auf diese Weise kann der Geschädigte frühzeitig in den Besitz eines Ersatzfahrzeuges gelangen und damit den Ausfallzeitraum kostensparend abkürzen (zu diesem Aspekt siehe LG Konstanz, a.a.O.; Harneit, DAR 1994, 93).

Es trifft zwar zu, dass den Geschädigten mit dem Haftpflichtversicherer des Schädigers ein gesetzliches Schuldverhältnis verbindet, in dem auch der Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) Beachtung finden muss. Entgegen der Ansicht des LG Bochum (Beschluss vom 26.08.2005, 11 S 181/05) folgt daraus aber nicht, dass der Geschädigte vor der Veräußerung seines Fahrzeuges von sich aus Gelegenheit geben muss, den beschädigten Wagen kurzfristig zu besichtigen und er außerdem verpflichtet ist, ein von ihm eingeholtes Gutachten zu übermitteln.

In dem Spannungsverhältnis zwischen der Ersetzungsbefugnis des Geschädigten einerseits und dem Interesse des Versicherers an einem höchstmöglichen Veräußerungserlös andererseits muss Letzteres unter den hier gegebenen Umständen zurücktreten. Für diese Wertung spricht nicht nur die gesetzliche Konzeption des § 249 Abs. 2 BGB mit der Ersetzungsbefugnis. Gegen die Annahme einer Obliegenheit zur Vorlage des Schadensgutachtens und erst recht gegen die Verpflichtung, im Falle einer überobligationsmäßigen Vorlage die Eigenverwertung eine zeitlang zurückzustellen, ist nach wie vor die Überlegung ins Feld zu führen, von der der BGH sich in seiner bereits zitierten Entscheidung vom 6. April 1993 (NJW 1993, 1849) hat leiten lassen. Auch ein Versicherer, der das Schadensgutachten kennt, kann bei Beachtung der Leitlinien des Bundesgerichtshofes zur Ermittlung des Restwertes (zuletzt BGH NJW 2005, 3134) nur in seltenen Fällen ein akzeptables Restwertangebot unterbreiten, das einen korrekt ermittelten Restwertbetrag im Schadensgutachten wesentlich übersteigt. Folglich kann eine Unterrichtung der Versicherung in der Tat wohl nur den Zweck haben, ihr die Möglichkeit zu geben, eine ihr günstigere Schadensberechnung auf der Grundlage der Angebote überregionaler Restwertaufkäufer aufzumachen. Dass der Geschädigte sich darauf nicht verweisen lassen muss, entspricht im Grundsatz gefestigter Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes (zuletzt NJW 2005, 3134).

Bei der Abwägung der beiderseitigen Interessen (umfassend dazu Ch. Huber, DAR 2002, 337 ff., 385 ff.) kann auch nicht unberücksichtigt bleiben, dass der Versicherer gegen Fehlbewertungen des Restwertes im Schadensgutachten durch die Möglichkeit eines Schadensersatzanspruchs gegen den Sachverständigen geschützt ist (Vertrag mit Schutzwirkung zu Gunsten Dritter).

Von alledem abgesehen stellt sich dem Senat die Frage, wie lange eine etwaige Wartezeit zu bemessen ist. Die Befürworter einer Wartepflicht geben darauf keine überzeugende Antwort. Unangemessen beeinträchtigt würde die Selbstverwertungsfreiheit des Geschädigten, wenn der Versicherer es in der Hand hätte, durch die Dauer seiner Restwertrecherche mit anschließender Unterrichtung des Geschädigten den frühesten Zeitpunkt einer Eigenverwertung zu bestimmen. Aus Sicht des Geschädigten ist vielfach nicht einmal klar, dass der Versicherer auf diesem Gebiet überhaupt aktiv wird. Noch weniger kann er den Zeitraum bis zur Übermittlung eines (höheren) Restwertgebotes abschätzen. Dessen Überprüfung nimmt zudem Zeit und sachkundige Beratung (Anwalt und/oder Kfz-Sachverständiger) in Anspruch.

Solange der Geschädigte durch sein eigenes Verhalten nicht die berechtigte Erwartung erzeugt, er werde die Verwertung zurückstellen, bis der Versicherer sich bei ihm gemeldet habe, muss er in seiner Disposition auch in zeitlicher Hinsicht frei bleiben. Ein solcher Fall der Selbstbindung liegt hier - entgegen der Einschätzung der Beklagten - nicht vor. Der Kläger hat durch nichts zu verstehen gegeben, dass er sein Fahrzeug erst veräußern wolle, wenn die Zweitbeklagte dafür "grünes Licht" gegeben habe. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Fristsetzung im Abrechnungsschreiben vom 17. Dezember 2004. Sie bezog sich allein auf das geforderte Anerkenntnis sowie auf die Zahlung eines Vorschusses. Gleichfalls ohne Bedeutung ist in diesem Zusammenhang der Umstand, dass der Anwalt des Klägers dem Schreiben vom 17. Dezember 2004 das Schadensgutachten des Sachverständigen L. mit Restwertschätzung beigefügt hat. Daran konnte die Beklagte zu 2. nicht die Erwartung knüpfen, der Kläger werde sein Unfallfahrzeug erst nach Ablauf einer Wartezeit veräußern. ..."



Datenschutz    Impressum