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OLG Hamburg Beschluss vom 29.12.2004 - 3 Ss 114/04 OWi - Zur Schätzung eines Polizeibeamten bei einem qualifizierten Rotlichtverstoß

OLG Hamburg v. 29.12.2004: Zur Schätzung eines Polizeibeamten bei einem qualifizierten Rotlichtverstoß


Das OLG Hamburg (Beschluss vom 29.12.2004 - 3 Ss 114/04 OWi) hat entschieden:
  1. Die Schätzung eines Zeitablaufs ist schon allgemein mit hoher Unsicherheit behaftet. Dies gilt insbesondere dann, wenn ein Polizeibeamter den das Rotlicht überfahrenden Autofahrer nicht gezielt, sondern zufällig beobachtet.

  2. Die im Urteil in derartigen Fällen festgestellte Verkehrssituation muss konkrete Tatsachen aufweisen, auf denen die Schätzung der Dauer der Rotlichtphase beruht und die einer gerichtlichen Überprüfung zugänglich sind (z. B. Methode der Schätzung, Sicherheitsabschlag, Geschwindigkeit, Abstand und Bremsverzögerung des Zeugen, Strecke bis zum Stillstand).

Siehe auch Stichwörter zum Thema Rotlichtverstöße


Zum Sachverhalt: Das AG verurteilte den Betr. wegen fahrlässigen Rotlichtsverstoßes zu einer Geldbuße und ordnete ein Fahrverbot von einem Monat an. Das Gericht stellte hierzu Folgendes fest:
„Der Betroffene befuhr mit einem Pkw in Hamburg öffentliche Straßen. An einer Kreuzung zeigte die Lichtzeichenanlage rot. Leicht versetzt vor ihm — auf der anderen Fahrspur — fuhr in einem zivilen Funkstreifenwagen ein ziviler Polizeibeamter. Dieser erkannte das rote Ampellicht, verlangsamte seine Fahrt und fuhr auf die rote Ampel zu, um dort zum Stehen zu kommen. Dies gelang innerhalb einer Zeit von mindestens einer Sekunde. Der Betroffene indes traf eine andere Entscheidung. Er gab Gas, zog mit aufheulendem Motor an dem Funkstreifenwagen des Zeugen vorbei und überquerte die Haltelinie der Lichtzeichenanlage als diese mindestens schon eine Sekunde Rot anzeigte und überquerte die Kreuzung ...

Das Gericht stützt seine Überzeugung auf die Angaben des Polizeibeamten. Dieser hat den Vorfall beobachtet und konnte ihn von seinem Standpunkt aus auch sehen - er fuhr versetzt unmittelbar vor, später hinter dem Betroffenen in der gleichen Straße. Er bekundet, langsam auf die bereits Rotlicht anzeigende Verkehrsampel gefahren zu sein, als er auf einen aufheulenden Motor aufmerksam geworden sei. Er habe nach links geschaut und das - trotz Rotlicht - beschleunigende Fahrzeug des Betroffenen gesehen, der dann bei ,;rot” in die Kreuzung hineingefahren sei. Die Dauer der Rotlichtphase von mindestens einer Sekunde habe er dann - vor dem Hintergrund der ihm zur Verfügung stehenden Anhaltezeit - geschätzt, eher seien es jedoch 2 Sekunden gewesen. Der Betroffene habe insbesondere - wie auch er - ausreichend Zeit gehabt, bei ordnungsgemäßer Geschwindigkeit sein Fahrzeug rechtzeitig zum Halten zu bringen."
Die zulässige Rechtsbeschwerde hatte (vorläufigen) Erfolg.


Aus den Gründen:

Die GenStA Hamburg hat ihren Antrag auf Aufhebung des angefochtenen Urteils wie folgt begründet:
„Das Urteil leidet an einem Darstellungsmangel, da es dem BeschwGer. nicht die Überprüfung ermöglicht, ob die Überzeugungsbildung des Tatrichters, der Betr. habe einen qualifizierten Rotlichtverstoß (§ 4 I Nr. 4 BKatV i. V. m. lfd. Nr. 132.2 der Anlage zu § 1 I BKatV) — Rotlichtphase länger als eine Sekunde — begangen, frei von Rechtsfehlern zu Stande gekommen ist. Das AG hat seine Auffassung, der Betr. habe entgegen seiner Einlassung „die Haltelinie der Lichtzeichenanlage (überquert); als diese mindestens schon eine Sekunde rot anzeigte”, auf die Aussage des als erfahren und glaubhaft bezeichneten Polizeibeamten gestützt. Auf der Grundlage der Angaben des Zeugen hat das AG festgestellt, dieser sei in einer Fahrspur langsam auf die rote Ampel zugefahren, während der Betr. im nahezu gleichen Moment im anderen Fahrstreifen Gas gegeben und ihn überholt habe; er – der Zeuge – habe die Dauer der Rotlichtphase vor dem Hintergrund der ihm zur Verfügung stehenden Anhaltezeit auf mindestens eine, eher jedoch zwei Sekunden geschätzt. Eine solche Darstellung der Beweisgründe ist jedoch unzureichend.

Handelt es sich - wie hier - um die Feststellung eines qualifizierten Rotlichtverstoßes, so ist es zwar grundsätzlich möglich, dass der Tatrichter seine sichere Überzeugung auf Grund von Angaben eines den Tathergang beobachtenden Polizeibeamten, der die Dauer der Rotlichtphase lediglich schätzen kann, gewinnt (vgl. OLG Köln, Beschl. v. 7. 9. 2004, Az. 8 Ss-OWi 12/04; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 26. 2. 2003, Az. IV-2 a Ss (OWi) 2/03 – (OWi) 7/03; III, 2a Ss (OWi)- 2/03 – (OWi) 7/03 III; BayObLG, Beschl. v. 19. 6. 2002, Az. 1 ObOWi 79/92; KG, Beschl. v. 5. 9. 2001, Az. 2 Ss 85/01 – Ws (B) 418/01; 2 Ss 85/01 – 3 Ws (B) 418/01; sämtliche zitiert nach juris; OLG Hamm, NStZ-RR 1996, 216f. – Beschl. v. 25.3.1996, Az. 2 Ss OWi 248/96).Jedoch muss dabei dem Umstand Rechnung getragen werden, dass die Schätzung eines Zeitablaufs allgemein mit hoher Unsicherheit behaftet ist, was insbesondere dann gilt, wenn ein Polizeibeamter den das Rotlicht überfahrenden Autofahrer nicht gezielt, sondern zufällig beobachtet hat (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 4. 11. 2002, Az. 2 b Ss (OWi) 216/02 – (OWi) 68/02 I; BayObLG, Beschl. v. 17.8.1995, Az. 1 ObOWi 272/95; zitiert nach juris). In derartigen Fällen muss die im Urteil festgestellte Verkehrssituation konkrete Tatsachen aufweisen, auf denen die Schätzung der Dauer der Rotlichtphase zum Zeitpunkt des Überfahrens der Haltelinie beruht und die einer gerichtlichen Überprüfung zugänglich sind (BayObLG, Beschl. v. 17. . 1995, Az. 1 ObOWi 272/95, aaO; KG, Beschl. v. 5. 9. 2001, Az. 2 Ss 85/01 – Ws (B) 418/01; 2 Ss 85/01 3 Ws (B) 418/01, aaO; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 4. 11. 2002, Az. 2b Ss (OWi) 216/02 – (OWi) 68/02 I, aa0).

Derartige tatsächliche Anhaltspunkte, die es dem BeschwGer. ermöglichen würden, die Richtigkeit der vom Tatrichter zu Grunde gelegten Schätzung des Zeugen zu überprüfen, enthält das angefochtene Urteil aber nicht. Es wird lediglich festgestellt, der Zeuge habe die Dauer der Rotlichtphase von mindestens einer Sekunde „vor dem Hintergrund der ihm zur Verfügung stehenden Anhaltezeit" geschätzt. Das lässt jedoch nicht erkennen, ob diese Angabe das Ergebnis richtig ermittelter objektiver Anknüpfungstatsachen und deren richtiger Verknüpfung auf Grund verkehrsanalytischer Erfahrungssätze ist oder ob es sich lediglich um eine freie Schätzung handelt (vgl. BayObLG, Beschl. v. 19. 6. 2002, Az. 1 ObOWi 79/92, aa0). Es wird nicht mitgeteilt, nach welcher Methode der Zeuge die Zeit geschätzt hat, etwa durch Mitzählen der Rotlichtphase - „21, 22” - (vgl. BayObLG, Beschl. v. 17. . 1995, Az. 1 ObOWi 272/95, aaO) und ob und ggf. in welcher Höhe das Gericht einen Sicherheitsabschlag bei der konkret angewandten Schätzmethode gemacht hat (vgl. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 26. 2. 2003, Az. IV 2 a Ss (OWi) 2/03 (OWi) 7/03;111, 2 a Ss (OWi) 2/03 (OWi) 7/03 III, aaO). Auch lässt sich dem Urteil nicht entnehmen, mit welcher Geschwindigkeit der Zeuge gefahren ist als er die Rotlicht zeigende Verkehrsampel bemerkte, in welchem Abstand er sich dabei zur Haltelinie befand mit welcher Bremsverzögerung sowie innerhalb welcher Strecke er sodann sein Fahrzeug zum Stillstand brachte (vgl. BayObLG, Beschl. v. 17. . 1995, Az. 1 ObOWi 272/95, aaO). Nur bei Kenntnis solcher Umstände (vgl. OLG Thüringen, Beschl. v. 10. 12. 1998, Az. 1 Ss 219/98; zitiert nach juris) wäre es dem BeschwGer. möglich, auf Grund eigener Berechnungen die Schätzung des Zeugen auf ihre Richtigkeit hin zu überprüfen."
Der Senat schließt sich diesen zutreffenden und überzeugenden Ausführungen an mit der Folge, dass das Urteil aufzuheben und die Sache neu zu verhandeln ist.