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OLG Brandenburg Urteil vom 26.06.2008 - 12 U 153/07 - Den abbiegenden Kfz Führer trifft die Beweislast für ein Mitverschulden des Radfahrers
OLG Brandenburg v. 26.06.2008: Den abbiegenden Kfz Führer trifft die Beweislast für ein Mitverschulden des Radfahrers
Das OLG Brandenburg (Urteil vom 26.06.2008 - 12 U 153/07) hat entschieden:
Kommt es beim Abbiegen eines Kfz zu einem Unfall mit einem entgegenkommenden Radfahrer und lässt sich nicht sicher feststellen, ob der Radfahrer den Gehweg oder die Fahrbahn benutzt hat, gehen verbleibende Zweifel zu Lasten des für ein anspruchsminderndes Mitverschulden beweispflichtigen abbiegenden Kfz-Führers.
Aus den Entscheidungsgründen:
"... 1. Dem Kläger steht ein Anspruch gegen die Beklagten auf Schadensersatz und Schmerzensgeld in Höhe von 7 665,89 € aus den §§ 7 Abs. 1, 11 S. 2 StVG i.V.m. § 3 Nr. 1 PflVG zu. Die Voraussetzungen für eine Haftung aus § 7 Abs. 1 StVG sind gegeben. Der Kläger wurde bei einem Unfall im Zusammenhang mit dem Betrieb des Kraftfahrzeuges des Beklagten zu 1. verletzt und sein Eigentum dabei beschädigt. Ein Fall des Haftungssausschlusses wegen höherer Gewalt nach § 7 Abs. 2 StVG ist nicht dargetan und auch nicht ersichtlich.
Der Anspruch des Klägers ist nicht aufgrund eines gem. §§ 9 StVG, 254 Abs. 1 BGB zu berücksichtigenden Mitverschuldens zu kürzen oder gar ausgeschlossen. Die für die den Vorwurf eines Mitverschuldens begründenden Tatsachen darlegungs- und beweispflichtigen Beklagten haben nach dem Ergebnis der vom Landgericht durchgeführten und vom Senat zum Teil wiederholten Beweisaufnahme nicht mit der für die richterliche Überzeugungsbildung nach § 286 ZPO erforderlichen hinreichenden Gewissheit den Beweis erbracht, dass der Kläger entgegen § 2 Abs. 1 StVO den Gehweg benutzte, obwohl dieser gem. § 25 Abs. 1 S. 1 StVO allein den Fußgängern vorbehalten ist. Unter Berücksichtigung des vom Landgericht eingeholten Gutachtens des Sachverständigen L., der sowohl im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren als auch in dem vorliegenden Rechtsstreit getätigten Bekundungen der Zeugin M. sowie der Erklärungen der persönlich angehörten Parteien lässt sich nicht ohne verbleibende vernünftige Zweifel feststellen, dass der Kläger tatsächlich den Gehweg benutzte.
Der Sachverständige L. hat den genauen Kollisionsort, aus dem man möglicherweise Rückschlüsse darauf hätte ziehen können, ob der Kläger wie von ihm behauptet die rechte Fahrbahnseite oder den Gehweg benutzt hat, mangels objektiver Anknüpfungspunkte im Nachhinein nicht mehr feststellen können. Nach den Untersuchungen des Sachverständigen lässt sich keine der beiden von den Parteien geschilderten Unfallvarianten ausschließen. Vielmehr sprechen nach der Auffassung des Sachverständigen die von der Polizei bei der Unfallaufnahme dokumentierten Kratzspuren im Bereich der Fahrbahn der B. Straße eher für die Behauptung des Klägers, dass er die rechte Fahrbahnseite benutzt habe. Aus dem Umstand, dass der Sachverständige ermittelt hat, dass aufgrund der Beschädigungen beider Fahrzeuge und der Verletzungen des Klägers davon auszugehen ist, dass der Kläger gegen das bereits stehende Fahrzeug des Beklagten zu 1. aufgeprallt ist, lassen sich nicht mit hinreichender Sicherheit Rückschlüsse darauf schließen, ob der Kläger den Gehweg benutzt hat, da auch bei dieser Konstellation die Möglichkeit besteht, dass der Beklagte zu 1. sein Fahrzeug zum Stehen gebracht hat, als er den auf der rechten Fahrbahnseite fahrenden Kläger bemerkt hat.
Auch aufgrund der Aussage der Zeugin M. ist der dem Beklagten obliegende Beweis letztlich nicht zur Überzeugung des Senates erbracht. Die Zeugin M. hat zwar bekundet, sie habe von ihrem Standpunkt aus gesehen, dass der Kläger auf dem Gehweg angekommen sei. Ihren Standpunkt hat die Zeugin jedoch im Laufe ihrer verschiedenen Vernehmungen jeweils unterschiedlich angegeben. In ihrer polizeilichen Zeugenbefragung hatte sie angegeben, sie habe vor der Hauseingangstür des Hauses Nr. 3 mit Blickrichtung zur B. Straße gestanden (Bl. 22 BA). Dieser Standpunkt ist durch den Sachverständigen L. bei der Unfallrekonstruktion berücksichtigt worden; in diesem Zusammenhang ist der Sachverständige zu dem Ergebnis gekommen, dass es aus seiner Sicht nicht möglich gewesen sei, die Annäherung des Klägers vor Erreichen der Einmündung wahrzunehmen, und es zudem unwahrscheinlich sei, dass man aus dieser Perspektive einschätzen könne, ob sich der Kläger auf der Fahrbahn oder auf dem Gehweg angenähert habe (vgl. Bl. 74 GA). Während der Beklagte zu 1. im Termin vom 30.08.2006 vor dem Landgericht erklärt hat, die Zeugin habe „hinter dem Hauseingang vor der Grundstückseinfahrt“ gestanden (Bl. 48 GA), hat die Zeugin M. in ihrer Vernehmung vor dem Landgericht wiederum erklärt, sie habe „hinter dem Knick in der Mitte des Neubaus“ gestanden (Bl. 126 GA). Bei der wiederholten Zeugenvernehmung an Ort und Stelle hat die Zeugin auf entsprechenden Vorhalt erklärt, sie habe sich zum Zeitpunkt des Unfalls auf den links vor dem Hauseingang des Hauses Nr. 3 befindlichen Treppenstufen befunden und von dort den Kläger auf dem Gehweg herankommen sehen. Von dem von der Zeugin nunmehr angegebenen Standpunkt ist es jedoch, wie sich der Senat im Rahmen der Inaugenscheinnahme persönlich überzeugt hat, nicht möglich, den Gehweg hinter dem dort befindlichen Sträuchern einzusehen, ebenso wenig wie im Bereich der Einmündung der B. Straße und der H.-Straße. Dies stimmt auch mit den Angaben des Sachverständigen L. überein. Dabei ist zusätzlich zu berücksichtigen, dass nach Angaben der Zeugin die Sträucher, die den Blick von ihrem Standpunkt aus auf den Gehweg verdecken, zum Unfallzeitpunkt noch geringfügig höher gewachsen waren als zum Zeitpunkt der Inaugenscheinnahme durch den Senat. Auf weiteren Vorhalt hat die Zeugin bekundet, sie haben den Kläger vor dem zwischen dem Gehweg und der Fahrbahn befindlichen Straßenbäumen fahren gesehen. Der Sachverständige L. hat es jedoch in seinem schriftlichen Gutachten andererseits als unwahrscheinlich angesehen, dass man aus der von der Zeugin angegebenen Perspektive einschätzen kann, ob sich der Kläger auf der Fahrbahn oder auf dem Gehweg angenähert habe. Unter diesen Umständen kann es nicht völlig ausgeschlossen werden, dass die Zeugin hier keine eigenen Wahrnehmungen wiedergegeben hat, sondern aufgrund der späteren Endstellung nach der Kollision des Klägers mit dem Fahrzeug des Beklagten zu 1. rückgeschlossen hat, dass der Kläger auf dem Gehweg gefahren sei, so dass es ebenso möglich erscheint, dass die Bekundungen der Zeugin insoweit lediglich aufgrund von Schlussfolgerungen entstanden sind. Im Hinblick darauf erscheint die Aussage der Zeugin M. nicht geeignet, um frei von vernünftigen Zweifeln zu der Annahme zu kommen, dass der Kläger unter Verstoß gegen § 2 Abs. 1 StVO auf dem Gehweg gefahren ist. Diese verbleibenden Zweifel gehen im Streitfall zulasten der beweispflichtigen Beklagten.
Auch die persönliche Anhörung der unfallbeteiligten Parteien hat insoweit keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass eine von den beiden Unfallschilderungen eher Glauben zu schenken wäre. Schließlich spricht auch der Umstand, dass das Fahrzeug des Beklagten zu 1. nach den Angaben der Zeugin M. bereits die gestrichelte Linie überfahren hatte, nicht zwingend dafür, dass der Kläger den Gehweg benutzte. Es ist ebenso möglich, dass der Kläger bei einer Ausweichreaktion, um einen Zusammenstoß zu vermeiden, sein Fahrrad nach rechts gelenkt hat, so dass es erst zu dem Zusammenstoß gekommen ist, als der Beklagte zu 1. bereits zum Teil in die H.-Straße eingebogen war.
Ein Verstoß des Klägers gegen § 3 Abs. 1 StVO liegt nicht vor. Es ist nicht ersichtlich, dass die vom Kläger angegebene Geschwindigkeit von 30 - 40 km/h unter den gegebenen Umständen nicht der Verkehrssituation angepasst war. Der Kläger ist noch unterhalb der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h geblieben. Da der Beklagte zu 1. nach alledem ihm gem. § 9 Abs. 3 StVO die Vorfahrt zu gewähren hatte, war er nicht verpflichtet, im Hinblick auf den wartenden Gegenverkehr die Geschwindigkeit zu vermindern.
2. ...
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