Das Verkehrslexikon

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Kammergericht Berlin Beschluss vom 05.05.2004 - 1 Ss 6/04 - Das Befahren einer Einbahnstraße in entgegengesetzter Richtung ist keine Straßenverkehrsgefährdung

KG Berlin v. 05.05.2004: Keine Straßenverkehrsgefährdung, sondern nur Ordnungswidrigkeit beim Befahren einer Einbahnstraße in verkehrter Fahrtrichtung


Das Kammergericht Berlin (Beschluss vom 05.05.2004 - 1 Ss 6/04) hat entschieden:
Befährt ein Fahrzeugführer eine als Einbahnstraße geführte Nebenstraße in entgegengesetzter Richtung und stößt er dabei beinahe mit einem entgegenkommenden Fahrzeug zusammen, das wider Erwarten nicht ausweichen kann, ist er nicht wegen Gefährdung des Straßenverkehrs durch grob verkehrswidriges und rücksichtsloses Nichtbeachten der Vorfahrt zu bestrafen. Es ist nur eine (der kurzen ordnungswidrigkeitsrechtlichen Verfolgungsverjährung unterliegende) Zuwiderhandlung gegen das Zeichen "Verbot der Einfahrt" anzunehmen.


Aus den Entscheidungsgründen:

"Das Amtsgericht Tiergarten in Berlin hat die Angeklagte entsprechend dem Anklagevorwurf wegen Gefährdung des Straßenverkehrs durch grob verkehrswidriges und rücksichtsloses Nichtbeachten der Vorfahrt zu einer Geldstrafe von fünfzig Tagessätzen zu je 15,00 Euro verurteilt. Das Landgericht hat die Berufung der Angeklagten verworfen. Ihre Revision, mit der sie die Verletzung sachlichen Rechts rügt, führt zum Erfolg.

Das angefochtene Urteil ist aufzuheben. Es hält der Nachprüfung auf die Sachrüge nicht stand. Die getroffenen Feststellungen erlauben nicht die Annahme der Straftat, derentwegen die Angeklagte verurteilt worden ist. Aus ihnen ergibt sich nur die Begehung einer Verkehrsordnungswidrigkeit nach § 24 StVG in Verbindung mit §§ 41 Abs. 2 Nr. 6 - Zeichen 267 - (Verbot der Einfahrt), 49 Abs. 3 Nr. 4 StVO, die wegen eingetretener Verfolgungsverjährung nicht mehr geahndet werden kann. Da nicht damit zu rechnen ist, dass weitere tatsächliche Feststellungen getroffen werden können, die es ermöglichen die Angeklagte strafbaren Handelns zu überführen, fällt es dem Senat zu, in der Sache selbst zu entscheiden. Das führt wegen des überragenden Gewichts des Strafbarkeitsvorwurfs dazu, dass er die Angeklagte davon freispricht.

1. Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen befuhr die Angeklagte mit ihrem Pkw in Berlin-Köpenick von einer in eine Hauptstraße (M Straße) einmündenden Nebenstraße mit einer Spur je Fahrtrichtung (E Straße) deren letzten Abschnitt zu der Hauptstraße hin. Auf dem letzten Teil vor der Einmündung war auf der zu der Hauptstraße hinführenden Fahrbahnseite eine Baustelle angelegt. Ihretwegen war dort das Befahren der Nebenstraße aufgrund Anordnung des zuständigen Tiefbauamts nur auf einer Spur und in eine Richtung erlaubt, nämlich für den aus der Hauptstraße einfahrenden Verkehr. Für den Verkehr in Richtung Hauptstraße war vor der Baustelle gemäß behördlicher Anordnung das Verkehrszeichen 267 (Verbot der Einfahrt) aufgestellt, an der mit der letzten Querstraße davor gebildeten Kreuzung befand sich das Verkehrszeichen 357 (Sackgasse). Zur tatrelevanten Zeit, am späten Nachmittag des 27. November 2001, war das Zeichen 267 - ebenso das Zeichen 357 - gut erkennbar aufgestellt. Die Angeklagte, die die Baustelle kannte und wusste, dass die Durchfahrt zu der Hauptstraße grundsätzlich durch das Verkehrszeichen 267 gesperrt, das Befahren der Gegenrichtung indes erlaubt war, passierte das Verkehrszeichen, ohne darauf zu achten. Es war ihr insofern gleichgültig, als sie entschlossen war, ohnehin - unabhängig von seinem Vorhandensein - dort durchzufahren und sich so den sonst erforderlichen Umweg zu ersparen und schneller voranzukommen. In dem Engpass kam ihr, aus der Hauptstraße mit angemessener Geschwindigkeit einbiegend, die Zeugin ... auf ihrem Damenfahrrad mit eingeschalteter Beleuchtung entgegen. Gleichwohl setzte die Angeklagte ihre Fahrt zunächst unbeirrt fort. Sie erwartete, dass die Radfahrerin ausweichen würde. Da es dieser aber nicht mehr gelang, ohne ein auf dem welligen Straßenbelag - die Asphaltierung war provisorisch - gefährliches Ausweichmanöver seitlich an dem Pkw der Angeklagten vorbeizufahren, führten die Radfahrerin und die Angeklagte im letzten Moment eine Vollbremsung durch. Die Fahrzeuge kamen in einem Abstand von lediglich noch etwa einem halben Meter von einander zum Stehen.

2. Diese Feststellungen vermögen die Verurteilung der Angeklagten wegen Gefährdung des Straßenverkehrs durch grob verkehrswidriges und rücksichtsloses Nichtbeachten der Vorfahrt (§ 315c Abs. 1 Nr. 2 a) StGB) nicht zu tragen. Es hat danach eine Verkehrssituation bestanden, die nach dem erkennbaren und zu respektierenden Verständnis des Gesetzgebers von der Reichweite der von ihm aufgestellten Normen der Bestrafung als Vorfahrtverletzung nach der genannten Strafbestimmung nicht zugänglich ist. Allerdings ist der Begriff der Vorfahrt in § 315c Abs. 1 Nr. 2 a) StGB (vgl. zum Folgenden KG VRS 46, 192; König in Leipziger Kommentar, StGB 11. Aufl., § 315c Rdn. 71 ff.; jeweils mit Nachweisen) nicht nur in dem gesetzestechnischen Sinn des § 8 StVO als Verkehrsvorgang zu verstehen, bei dem Fahrzeuge aus verschiedenen Straßen aufeinander zukommen, was hier nicht der Fall war. In der Rechtsprechung ist vielmehr allgemein anerkannt, dass darunter alle Verkehrsvorgänge fallen, bei denen die Fahrlinien zweier Fahrzeuge bei unveränderter Fahrtrichtung und Fahrweise zusammentreffen oder einander so gefährlich nahekommen, dass sich der Verordnungsgeber veranlasst gesehen hat, durch eine ausdrückliche besondere Vorschrift einem Verkehrsteilnehmer den Fahrtvorrang vor dem anderen einzuräumen (sogenannter erweiterter Vorfahrtbegriff). Das trifft für den Vorrang des Gegenverkehrs vor Linksabbiegern nach § 9 Abs. 3 Satz 1, Abs. 4 StVO, den Vorrang des fließenden Verkehrs vor den nach links in ein Grundstück ein- oder aus ihm herausfahrenden Fahrzeugen nach §§ 9 Abs. 5, 10 Satz 1 StVO und der Schienenbahnen nach § 19 StVO und der Sonderfahrzeuge nach den §§ 35, 38 Abs. 1 StVO ebenso zu wie für die Vorfahrt des Verkehrs auf Autobahnen nach § 18 Abs. 3 StVO vor den von einem Parkplatz oder von der Standspur aus einfahrenden Fahrzeugen, den Vorrang des Gegenverkehrs an Engstellen (Zeichen 208) nach § 41 Abs. 2 Nr. 1 c) StVO und den Vorrang des Gegenverkehrs nach § 6 Satz 1 StVO vor dem an einem haltenden Fahrzeug, einer Absperrung oder einem sonstigen Hindernis links vorbeifahrenden Fahrzeug.

Überlegungen anzustellen, ob in dem vorliegenden Fall des auf seiten der Angeklagten festgestellten Befahrens eines wegen baustellenbedingter Enge als Einbahnstraße ausgeschilderten Abschnitts einer städtischen Nebenstraße in entgegengesetzter Fahrtrichtung eine entsprechende oder entsprechend zu behandelnde Situation vorgelegen hat, ist indessen kein Raum. Es steht entgegen, dass der Gesetzgeber durch eine Ergänzung des § 315c Abs. 1 Nr.2 f) StGB das Fahren entgegen der Fahrtrichtung auf Autobahnen oder Kraftfahrtstraßen nachträglich eigens unter Strafe gestellt hat (Gesetz zur Änderung des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten, des Straßenverkehrsgesetzes und anderer Gesetze vom 7. Juli. 1986, BGBl. I S. 977; dort Artikel 3). Dass er insofern eine schließungsbedürftige Strafbarkeitslücke angenommen hat (vgl. die Begründung des Regierungsentwurfs in BT-Drucks. 10/2652 S. 35), schließt ein, dass nach eigenem Verständnis des Gesetzgebers auch der - hier interessierende - auf die Nichtbeachtung der Vorfahrt abstellende Straftatbestand des § 315c Abs. 1 Nr. 2 a) StGB nicht zum Zuge kommt. Dass der Gesetzgeber mit seiner Ergänzung allein für Autobahnen und Kraftfahrtstraßen (§ 18 StVO) die Strafbarkeit des Fahrens entgegen der Fahrtrichtung eingeführt hat, besagt darüber hinaus, dass es hinsichtlich der übrigen Straßen - so auch einer durch Verkehrsschilder als Einbahnstraße ausgewiesenen innerstädtischen Nebenstraße wie hier in Rede stehend - dabei verblieben ist, dass das Fahren entgegen der Fahrtrichtung nicht unter die die Nichtbeachtung der Vorfahrt betreffende Tatbestandsausformung der durch § 315c StGB unter Strafe gestellten Gefährdung des Straßenverkehrs fällt.

3. Das Landgericht hat seine Feststellungen zum Tatgeschehen, und dies sowohl zum äußeren Ablauf als auch zur inneren Tatseite, erkennbar dermaßen sorgfältig getroffen, dass nicht zu erwarten ist, dass bei erneuter Verhandlung der Sache neue Aufschlüsse zu gewinnen sind, die an der strafrechtlichen Beurteilung etwas ändern.

4. Mangels Strafbarkeit des den Gegenstand des Anklagevorwurfs bildenden Verkehrsverhaltens der Angeklagten verbliebe allenfalls dessen Ahndung als Verkehrsordnungswidrigkeit. Denn im Strafverfahren beurteilt das Gericht die in der Anklage bezeichnete Tat zugleich unter dem rechtlichen Gesichtspunkt einer Ordnungswidrigkeit (§ 82 Abs. 1 OWiG) und dem steht hier wegen der Haltlosigkeit des Strafbarkeitsvorwurfs auch nicht dessen grundsätzlicher Vorrang nach § 21 Abs. 1 OWiG entgegen. Das Nichtbefolgen des Verbots der Einfahrt, das am Tatort durch das unter § 41 Abs. 2 Nr.6 StVO aufgeführte Vorschriftzeichen 267 amtlich angeordnet war, stellt denn auch nach § 49 Abs. 3 Nr. 4 StVO in Verbindung mit § 24 StVG eine Ordnungswidrigkeit dar. Ihrer hat sich die Angeklagte nach den vorliegenden Feststellungen schuldig gemacht. Gleichwohl kann sie deswegen nicht verurteilt werden; denn dies ist durch den Eintritt der Verfolgungsverjährung ausgeschlossen.

Die Verfolgungsverjährung hat bei der hier vorliegenden Ordnungswidrigkeit nach § 24 StVG gemäß § 31 Abs. 3 Satz 1 OWiG mit der Beendigung der Handlung am 27. November 2001 begonnen. Nach § 26 Abs. 3 StVG betrug die von da ab laufende Frist drei Monate, weil die Voraussetzungen für die Geltung der sechsmonatigen Verjährungsfrist (Ergehen eines Bußgeldbescheids oder Erhebung der öffentlichen Klage wegen der Handlung) nicht gegeben waren. Die dreimonatige Verjährungsfrist hat einmal aufgrund einer Verjährungsunterbrechung von neuem begonnen (§ 33 Abs. 3 Satz 1 OWiG), ist dann aber mangels weiterer in die maßgebende Zeitspanne fallender Unterbrechungshandlungen - insbesondere ist die Anklage erst im Juli 2002 erhoben worden - abgelaufen. Das war am 7. April 2002, nachdem am 7. Januar 2002 die Unterbrechungshandlung stattgefunden hatte. Dabei hatte es sich um eine wegen der Tat durchgeführte fernmündliche Befragung der Angeklagten durch die Polizei gehandelt, in der nach ihrer Beschaffenheit hier die erste Betroffenenvernehmung im Sinne des § 33 Abs. 1 Nr. 1 OWiG zu erblicken ist. Die vorherige Übersendung des Anhörungsbogens an die Angeklagte als Fahrzeughalterin mit der Bitte um Angabe der der Polizei als Verfolgungsbehörde bis dahin unbekannten Person des Fahrers oder der Fahrerin zur Tatzeit hatte noch keine Unterbrechungswirkung gehabt (vgl. Göhler, OWiG 13. Aufl., § 33 Rdn. 14).

5. Da das angefochtene Urteil wegen Verletzung des sachlichen Rechts bei der Gesetzesanwendung auf die dem Urteil zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben ist, diese aber erschöpfend sind, mithin ausgeschlossen werden kann, dass eine neue Hauptverhandlung noch Aufschlüsse zu verbringen vermag, und rechtlich feststeht, dass die Angeklagte weder wegen des Strafbarkeitsvorwurfs noch wegen der verkehrsrechtlichen Zuwiderhandlung zur Verantwortung gezogen werden kann, hat der Senat nach § 354 Abs. 1 StPO als Revisionsgericht in der Sache selbst zu entscheiden. Trotz des Zusammentreffens des - rechtlich nicht tragfähigen - Strafbarkeitsvorwurfs mit dem - berechtigten, nur wegen des Verfahrenshindernisses der Verjährung nicht mehr verfolgbaren - Ordnungswidrigkeitenvorwurf ist auf Freispruch und nicht auf Einstellung des Verfahrens nach § 260 Abs. 3 StPO zu erkennen. Es ist in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs anerkannt, dass auf Freispruch und nicht auf Einstellung des Verfahrens zu erkennen ist, wenn bei rechtlichem Zusammentreffen eines schwereren und eines leichteren Vorwurfs der schwerere nicht nachweisbar, der leichtere aber wegen eines Prozesshindernisses nicht verfolgbar ist. Dieser Grundsatz ist (so der BGH in GA 1978, 371) auch anzuwenden, wenn der Vorwurf einer Straftat mit dem Vorwurf einer Ordnungswidrigkeit zusammentrifft, weil der Angeklagte von dem ursprünglich erhobenen Vorwurf einer Straftat freigestellt werden muss. Die Sachentscheidung aus dem schwerer wiegenden rechtlichen Gesichtspunkt - der Strafbarkeitsvorwurf ist gewichtiger als der ordnungswidrigkeitenrechtliche - hat Vorrang (vgl. auch BayObLG NJW 1993, 2882, 2883; OLG Düsseldorf JMBlNW 1990, 106; OLG Oldenburg NdsRpfl 1985, 147; OLG Karlsruhe MDR 1975, 426, 427). ..."



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