Das Verkehrslexikon
Landgericht Essen Urteil vom 30.11.2004 - 12 O 324/04 - Alleinhaftung des Radfahrers, wenn er einem verkehrswidrig parkenden Fahrzeug leicht hätte ausweichen können
LG Essen v. 30.11.2004: Alleinhaftung des Radfahrers, wenn er einem verkehrswidrig parkenden Fahrzeug leicht hätte ausweichen können
Das Landgericht Essen (Urteil vom 30.11.2004 - 12 O 324/04) hat entschieden:
Ein die Mithaftung für ein verkehrswidrig abgestelltes Fahrzeug ausschließendes Alleinverschulden des Radfahrers an einer Kollision mit dem Fahrzeug liegt dann vor, wenn dem Radfahrer, der sich mit 30 km/h dem Hindernis nähert, ohne reichlich vorhandene Ausweichmöglichkeiten wahrzunehmen und auszunutzen.
Zum Sachverhalt: Der Kläger verlangte von den Beklagten den Ersatz von 50 % seines Schadens, den er als Radfahrer bei einem Unfall am 14.07.2003 gegen 14.15 Uhr in H. erlitt.
Er befuhr die I. Straße in Fahrtrichtung N. mit einer Geschwindigkeit von ca. 30 km/h. Die Straße verläuft im Bereich der Unfallstelle geradeaus. Es gab keine Sichthindernisse. Der Beklagte zu 1) hatte seinen Pkw Ford Mondeo (amtliches Kennzeichen: ...), versichert bei der Beklagten zu 2), am rechten Fahrbahnrand abgestellt auf der dort befindlichen durchgezogenen weißen Linie. Der linke Teil seines Fahrzeuges ragte noch in die Fahrbahn hinein, der rechte befand sich auf dem befestigten Randstreifen.
Der Kläger näherte sich dem geparkten Fahrzeug des Beklagten zu 1) von rückwärts. Er konzentrierte sich auf den beschädigten Fahrbahnbelag, um Schlaglöchern ausweichen zu können. Das geparkte Fahrzeug bemerkte er nicht. Unstreitig stieß sein Rad gegen die linke hintere Ecke des Fahrzeugs des Beklagten zu 1). Der Kläger kam zu Fall, schlug mit dem Kopf gegen die linke C-Säule des Pkw und stürzte neben dem Pkw zu Boden.
Er behauptete, das Fahrzeug des Beklagten zu 1) habe etwa einen Meter in den Fahrbahnbereich hineingeragt.
Seinen Schaden verlangte der Kläger zu 50 % ersetzt.
Die Beklagten haben Klageabweisung beantragt.
Sie behaupteten, das Fahrzeug des Beklagten zu 1) habe nur in ganz geringem Umfang auf der Fahrbahn gestanden. Der Unfall sei dadurch verursacht worden, dass der Kläger vor der Berührung mit dem Fahrzeug des Beklagten zu 1) gestrauchelt und dadurch auf den Pkw gestürzt sei. Auch nach dem Sachvortrag des Klägers sei dessen Eigenverschulden so gravierend, dass eine Haftung der Beklagten ausscheide. Die Beklagten bezweifeln, dass die von dem Kläger ersetzt verlangten Schäden "bei Betrieb" des Fahrzeuges des Beklagten zu 1) entstanden seien.
Die Klage blieb erfolglos.
Aus den Entscheidungsgründen:
"... Eine Haftung der Beklagten kommt aus §§ 7 Abs. 1 StVG, 3 Pflichtversicherungsgesetz grundsätzlich in Betracht. Das Fahrzeug des Beklagten zu 1) war vorübergehend und verkehrswidrig (§ 12 Abs. 3 Ziffer 8 StVO) geparkt. Es befand sich deshalb in Betrieb im Sinne von § 7 Abs. 1 StVG. Der Beklagte zu 1) hat als Halter für die Betriebsgefahr einzustehen. Den Nachweis der Unabwendbarkeit haben die Beklagten nicht geführt (§ 17 Abs. 1 StVG), unabhängig von dem Streit der Parteien, wie weit das Fahrzeug des Beklagten zu 1) in den Fahrbahnbereich hineinragte. Den überraschend in dem Verhandlungstermin vom 30.11.2004 mündlich gehaltenen Sachvortrag des Beklagten zu 1), er habe nur angehalten, um eine akute Übelkeit zu überwinden, glaubt das Gericht ihm nicht. Denn davon hatte er zuvor weder den Polizeibeamten am Unfallort noch seinem Prozessbevollmächtigten berichtet.
Die Haftung der Beklagten ist aber ausgeschlossen, weil das Unfallereignis auf ein überragendes Eigenverschulden des Klägers zurückzuführen ist. Gem. § 9 StVG ist § 254 BGB anwendbar. Danach kann im Rahmen des Schadensausgleichs das Verhalten des Geschädigten haftungsmindernd berücksichtigt werden, was zu einer Verkürzung, aber auch zu einem völligen Ausschluss seines Ersatzanspruchs führen kann. Die Voraussetzungen eines solchen Haftungsausschlusses liegen hier vor. Das gilt wieder unabhängig von der streitigen Frage, wie weit der Pkw des Beklagten zu 1) in die Fahrbahn des Klägers hineinragte. Die dadurch bewirkte unterschiedliche Verengung der Fahrbahn für den Kläger hat deshalb eine nur marginale Bedeutung, weil in beiden Fällen ausreichend Raum zur Verfügung stand, dem Hindernis, welches der parkende Pkw bot, auszuweichen und auch die Verkehrsverhältnisse einem solchen Ausweichmanöver nicht im Wege waren. Das erhebliche Eigenverschulden des Klägers liegt darin begründet, dass er mit beachtlicher Geschwindigkeit von ca. 30 km/h eine lange Strecke zurücklegte, welche weit voraus einzusehen war, ohne ein einziges Mal nach vorn zu schauen. Gem. § 1 StVO sind auch Radfahrer als Verkehrsteilnehmer zu ständiger Vorsicht und Rücksicht verpflichtet. Dieses Gebot hat der Kläger in eklatanter Weise verletzt. Der Einwand, die Fahrbahndecke sei schadhaft gewesen, weshalb er sich auf diese konzentriert habe, kann ihn nicht entlasten, weil es auch bei dieser besonderen Fahrweise möglich bleibt, zumindest für den Bruchteil einer Sekunde die Augen zu heben, um voraus zu blicken. Das Fehlverhalten des Klägers war derart leichtfertig, dass die Haftung der Beklagten für die Betriebsgefahr dahinter zurücktritt. Denn dem Beklagten zu 1) ist nur der geringe und eher theoretische Vorwurf falschen Parkens zu machen: Der Unfall wäre auch geschehen, wenn das Fahrzeug des Beklagten zu 1) etwa verkehrsbedingt in zulässiger Weise dort gestanden hätte. ..."