Das Verkehrslexikon
OVG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 10.06.2009 - 1 S 97.09 - Zur Verwertung der eigenen Angaben des Betroffenen über Kokainkonsum
OVG Berlin-Brandenburg v. 10.06.2009: Zur Verwertung der eigenen Angaben des Betroffenen über Kokainkonsum
Das OVG Berlin-Brandenburg (Beschluss vom 10.06.2009 - 1 S 97.09) hat entschieden:
Aus einem vom betroffenen Fahrerlaubnisbesitzer angegebenen einmaligen Konsum von Kokain kann auf dessen Fahrungeeignetheit geschlossen werden. Eigenangaben des Betroffenen sind verwertbar, auch ohne dass eine konkrete Beeinträchtigung der Fahrtauglichkeit durch Einhaltung des Grenzwerts von mindestens 75 ng/ml Benzoylecgonin im Blutserum ärztlich nachgewiesen worden ist. Der genannte Grenzwert gilt nur in Bußgeldverfahren, nicht im Verwaltungsverfahren.
Gründe:
I.
Der 1986 geborene Antragsteller wendet sich gegen die Entziehung seiner Fahrerlaubnis. Eine im Anschluss an eine Verkehrskontrolle am 06.09.2008 gegen 20.45 Uhr zum Zweck der Untersuchung auf Betäubungsmittel entnommene Blutprobe des Antragstellers ergab nach dem Bericht des Brandenburgischen Landesinstituts für Rechtsmedizin vom 10.09.2008 folgende Konzentration der Wirkstoffe des Kokain im Blutserum: 147 ng/ml Benzoylecgonin sowie 8 ng/ml Methylecgonin. Im Rahmen der Anhörung zur beabsichtigten Entziehung der Fahrerlaubnis gab der Antragsteller an, dass er am 02.09.2008 während einer Feier eine geringe Menge Kokain eingenommen habe. Mit Bescheid vom 02.02.2009 entzog der Antragsgegner dem Antragsteller unter Anordnung sofortiger Vollziehung die Fahrerlaubnis, forderte ihn zur Abgabe des Führerscheins auf und drohte für den Fall der Nichtabgabe ein Zwangsgeld an. Der hiergegen eingelegte Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 27.03.2009 zurückgewiesen. Über die am 30.04.2009 erhobene Klage (VG 10 K 705/09) ist noch nicht entschieden. Den Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Entziehung der Fahrerlaubnis hat das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 07.05.2009 zurückgewiesen.
II.
Die Beschwerde ist zulässig, aber nicht begründet. Das für die Prüfung des Oberverwaltungsgerichts maßgebliche Beschwerdevorbringen des Antragstellers (vgl. § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO) rechtfertigt eine Änderung des angegriffenen Beschlusses nicht. Das Verwaltungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass sich der angegriffene Entziehungsbescheid vom 2. Februar 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27. März 2009 im Klageverfahren voraussichtlich als rechtmäßig erweist und das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung der Fahrerlaubnisentziehung das private Aussetzungsinteresse des Antragstellers überwiegt.
Entgegen der Auffassung der Beschwerde fehlt es nicht an einer ordnungsgemäßen Begründung der Anordnung sofortiger Vollziehung im Sinne des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO. Die Vorschrift, nach der das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung schriftlich zu begründen ist, normiert formelle Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen für die Anordnung der sofortigen Vollziehung eines Verwaltungsakts; ob die Erwägungen der Behörde auch inhaltlich zutreffen, ist im Rahmen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO unbeachtlich. Die Begründung darf zwar nicht bloß formelhaft, sondern muss einzelfallbezogen sein. Allerdings belegen bei Maßnahmen der Gefahrenabwehr – wie hier – die den Erlass des Verwaltungsakts rechtfertigenden Gründe in der Regel zugleich die Dringlichkeit der Vollziehung
(vgl. Senatsbeschluss vom 15. April 2009 –1 S 172.08 –, juris Rn. 4).
Gemessen daran wird die im Bescheid vom 2. Februar 2009 gegebene Begründung den Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO gerecht. Der Antragsgegner hat das besondere öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung im Wesentlichen damit begründet, dass die Gefährdung von Gesundheit, Leben und Eigentum anderer Verkehrsteilnehmer, die mit der weiteren Teilnahme des Antragstellers am Straßenverkehr trotz fehlender Eignung verbunden wäre, bis zur Unanfechtbarkeit des Bescheids nicht hingenommen werden könne. Er hat damit hinreichend deutlich und einzelfallbezogen zu erkennen gegeben, dass er sich des Ausnahmecharakters der Anordnung der sofortigen Vollziehung bewusst war.
Die angegriffene Entziehungsverfügung erweist sich auch materiell als rechtmäßig. Gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG und § 46 Abs. 1 Satz 1 FeV hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich der Inhaber der Fahrerlaubnis als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Dies gilt nach § 46 Abs. 1 Satz 2 FeV insbesondere, wenn Erkrankungen oder Mängel nach Anlage 4 zur Fahrerlaubnisverordnung vorliegen und dadurch die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ausgeschlossen ist. Die Nichteignung muss im maßgeblichen Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung positiv festgestellt sein. Unter welchen Voraussetzungen der Betäubungsmittelkonsum zur Nichteignung zum Führen von Kraftfahrzeugen führt, wird unter Ziffer 9 dieser Anlage 4 näher bestimmt. Danach schließt die Einnahme von Betäubungsmitteln im Sinne des Betäubungsmittelgesetzes (ausgenommen Cannabis) die Fahreignung aus (Nr. 9.1). Nach der Rechtsprechung des Senats sowie der überwiegenden Mehrzahl anderer Obergerichte stellt eine für die Vergangenheit einmalig nachgewiesene Einnahme von Betäubungsmitteln (ausgenommen Cannabis) nach der normativen Wertung des Verordnungsgebers für den Regelfall eine hinreichende Prognosegrundlage für einen künftigen eignungsausschließenden Drogenkonsum dar, ohne dass es der Anordnung zur Beibringung eines Gutachtens bedarf (vgl. § 11 Abs. 7 FeV).
Die von der Beschwerde unter Hinweis auf die Rechtsprechung des VGH Kassel vertretene einschränkende Auslegung von Nr. 9.1 der Anlage 4 zur FeV, wonach die Eignungsbeurteilung regelmäßig eine Begutachtung voraussetzt
(vgl. VGH Kassel, Beschluss vom 14. Januar 2002 – 2 TG 3008/01 –, juris Rn. 4),
würde demgegenüber der für den Regelfall im Hinblick auf das besondere Gefährdungspotenzial sog. „harter“ Drogen vorgenommenen normativen Wertung nicht gerecht
(vgl. Senatsbeschluss vom 15. Februar 2008 – IS 186.07 –, juris Rn. 5; VGH München, Beschluss vom 27. März 2009 – 11 CS 09.85 –, juris Rn. 11; OVG Koblenz, Beschluss vom 25. Juli 2008 – 10 B 10646/08 –, juris Rn. 4; OVG Münster, Beschluss vom 6. März 2007 – 16 B 332/07 –, juris Rn. 4; VGH Mannheim, Beschluss vom 19. Februar 2007 – 10 S 3032/06 –, juris Rn. 3; OVG Hamburg, Beschluss vom 24. Januar 2007 – 3 Bs 300/06 –, juris Rn. 9).
Von diesem Maßstab ist das Verwaltungsgericht zutreffend ausgegangen. Es ist entgegen dem Einwand der Beschwerde nicht zu beanstanden, dass das Verwaltungsgericht seiner Würdigung die vom Antragsteller selbst in seinem Anhörungsschreiben vom 12. Januar 2009 eingeräumte Einnahme von Kokain zugrunde gelegt hat. Es ist weder auf der Grundlage des Beschwerdevorbringens noch sonst ersichtlich, weshalb diese Angaben des Antragstellers nicht zutreffen sollten. Anders als die Beschwerde vorträgt, kann die Feststellung der Einnahme von Kokain nicht nur auf der Grundlage eines ärztlichen Gutachtens, sondern jedenfalls dann auch aufgrund der glaubhaften Angaben des Antragstellers selbst getroffen werden, wenn – wie hier -Zweifel an deren Richtigkeit nicht bestehen. Das Verwaltungsgericht hat ferner zu Recht hervorgehoben, dass es angesichts der festgestellten zumindest einmaligen Einnahme von Kokain, bei dem es sich nach § 1 Abs. 1 BtMG i.V.m. Anlage III um ein Betäubungsmittel im Sinne des Betäubungsmittelgesetzes handelt, auf die vom Antragsteller in Zweifel gezogene Verwertbarkeit der Blutuntersuchung des Brandenburgischen Landesinstituts für Rechtsmedizin vom 10. September 2008 nicht ankommt.
Soweit die Beschwerde geltend macht, eine Beeinträchtigung der Fahrtauglichkeit des Antragstellers stehe nicht fest, weil die Rechtsprechung der Oberlandesgerichte erst bei einer Konzentration von mehr als 75 ng/ml Benzoylecgonin im Blutserum von einer Beeinträchtigung der Fahrtauglichkeit ausgehe, überzeugt das nicht. Der Einwand verkennt, dass sich der von der Grenzwertkommission beschlossene Grenzwert sowie die vom Antragsteller angeführte Rechtsprechung der Oberlandesgerichte auf Ordnungswidrigkeiten nach § 24a Abs. 2 StVG bezieht. Der Grenzwert hat zwar Bedeutung für die Verwirklichung des genannten Bußgeldtatbestandes, nicht aber für die hier interessierende Frage, ob Kokain als Betäubungsmittel eingenommen wurde. Die für die Beurteilung der Kraftfahreignung allein relevante Frage nach der Einnahme eines Betäubungsmittels lässt sich unabhängig von der etwaigen Konzentration des Betäubungsmittels beantworten
(vgl. Senatsbeschluss vom 15. Februar 2008 –1 S 186.07 –, juris Rn. 6).
Besondere Umstände, die es im Fall des Antragstellers rechtfertigten, eine Abweichung vom Regelfall im Sinne der Nr. 9.1.der Anlage 4 zur FeV anzunehmen, sind nicht erkennbar. Allein die Angabe des Antragstellers in seinem Anhörungsschreiben, dass die Einnahme von Kokain „mit Sicherheit nicht mehr vorkommen“ werde, genügt dafür nicht. Es bestehen auch keine Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsteller die Kraftfahreignung zwischenzeitlich wiedererlangt haben könnte, weil die hierfür erforderliche mindestens einjährige Abstinenz (vgl. Nr. 9.5 der Anlage 4 zur FeV) nicht gegeben ist.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 3 Nr. 2, § 52 Abs. 1GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).