Das Verkehrslexikon

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Kammergericht Berlin Beschluss vom 19.02.2009 - 12 W 2/09 - Zur vorweggenommenen Beweiswürdigung im PKH-Verfahren und zur Alleinhaftung des Fußgängers beim Überqueren der Fahrbahn

KG Berlin v. 19.02.2009: Zur vorweggenommenen Beweiswürdigung im PKH-Verfahren und zur Alleinhaftung des Fußgängers beim Überqueren der Fahrbahn


Das Kammergericht Berlin (Beschluss vom 19.02.2009 - 12 W 2/09) hat entschieden:
  1. Im Rahmen des Prozesskostenhilfeverfahrens ist die Vorwegnahme der Würdigung einer Beweisaufnahme in begrenztem Umfang zulässig.

    Dies gilt insbesondere dann, wenn die für das Einholen eines Unfallrekonstruktionsgutachtens zum Zwecke des Nachweises der behaupteten Sorgfaltspflichtverletzung des Kraftfahrers als Ursache für den Unfall des geschädigten Fußgängers erforderlichen Anknüpfungstatsachen fehlen.

  2. Der Kraftfahrer braucht grundsätzlich nicht damit zu rechnen, dass ein erwachsener Fußgänger das Überqueren einer sechsspurigen Straße über die Mittellinie fortsetzt, obwohl das Kraftfahrzeug bereits nahe ist.

Siehe auch Die Beweiswürdigung in Zivilsachen und Rechtliches Gehör


Gründe:

1. Die Zurückweisung der nach § 127 Abs. 2 ZPO zulässigen Beschwerde erfolgt aus den zutreffenden Gründen des angefochtenen Beschlusses sowie des Nichtabhilfe-Beschlusses vom 12. Januar 2009.

Die Beschwerde vom 12. Dezember 2008 rechtfertigt eine andere Beurteilung nicht.

Es sind keine Rechtsfehler oder Ermessensfehler der angefochtenen Entscheidungen festzustellen.

Der Antragsteller macht auf S. 3 seiner Beschwerde unter Bezugnahme auf BVerfG, NJW 2003, 2976, geltend, das Landgericht habe eine im Rahmen des PKH-Verfahrens unzulässige Beweisantizipation vorgenommen.

Diese Auffassung teilt das Beschwerdegericht nicht.

Das BVerfG führt in der zitierten Entscheidung u.a. wörtlich aus:
„Die Annahme der Fachgerichte, dass eine Beweisantizipation im Prozesskostenhilfeverfahren in eng begrenztem Rahmen zulässig ist, hat das Bundesverfassungsgericht zwar bereits mehrfach unbeanstandet gelassen (vgl. BVerfG, NJW 1997, S. 2745 <2746>) .

Kommt jedoch eine Beweisaufnahme ernsthaft in Betracht und liegen keine konkreten und nachvollziehbaren Anhaltspunkte dafür vor, dass die Beweisaufnahme mit großer Wahrscheinlichkeit zum Nachteil des Beschwerdeführers ausgehen würde, so läuft es dem Gebot der Rechtsschutzgleichheit zuwider, dem Unbemittelten wegen fehlender Erfolgsaussichten seines Rechtsschutzbegehrens Prozesskostenhilfe zu verweigern (vgl. Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Januar 1993 – 2 BvR 1584/92 –; BVerfG, NJW-RR 2002, S. 1069).“
Danach erscheint im Streitfall das Gebot der Rechtsschutzgleichheit nicht verletzt; denn – wie das Landgericht richtig ausgeführt hat – würde eine Beweisaufnahme durch ein Unfallrekonstruktionsgutachten mit großer Wahrscheinlichkeit zum Nachteil des Antragstellers und Beschwerdeführers ausgehen.

a) So wird der Antragsteller mittels eines Unfallrekonstruktionsgutachtens eine Sorgfaltspflichtverletzung des Erstbeklagten (unfallursächliche Unaufmerksamkeit und/oder unfallursächliche überhöhte Geschwindigkeit von 60 km/h), für die er die Beweislast trägt, höchstwahrscheinlich nicht beweisen können. Dies hat das Landgericht bereits zutreffend ausgeführt.

Denn die für ein im Sinne des Antragstellers überzeugendes Gutachten unerlässlichen Anknüpfungstatsachen sind entweder nicht dargelegt oder mit den verfügbaren Beweismitteln höchstwahrscheinlich nicht feststellbar (genauer Kollisionsort; genaue Entfernung des Kfz vom Kollisionsort im Zeitpunkt der Reaktionsaufforderung – vgl. KG, Urteil vom 26. Oktober 2006 – 22 U 193/05 – Nichtzulassungsbeschwerde zurückgewiesen, VersR 2008, 797 –; genaue vom Antragsteller zurückgelegte Wegstrecke sowie Gehgeschwindigkeit des Antragstellers); die erforderlichen Anknüpfungstatsachen lassen sich auch nicht mit hinreichender Sicherheit der polizeilichen Unfallskizze entnehmen; aus dieser lassen sich lediglich ein „vermuteter“ Unfallort und eine „vermutete“ Gehstrecke entnehmen, die der Antragsteller auf S. 4 seiner Antragsschrift auch noch als unzutreffend bezeichnet; für seine Behauptung, er habe die Fahrbahn mit „normaler Gehgeschwindigkeit“ überquert, hat der Kläger – wie er selbst auf S. 2 seiner Beschwerde einräumt – keinen Beweis angeboten, so dass es insoweit keine sichere Anknüpfungstatsache gibt.

Auch für die – von dem Antragsgegner mit Schriftsatz vom 6. Februar 2009 bestrittene -Behauptung, der Kraftfahrer sei mindestens 60 km/h gefahren, gibt es weder einen geeigneten Beweisantritt noch einen hinreichenden tatsächlichen Anhaltspunkt; der auf S. 4 unten der Antragsschrift behauptete Anhalteweg von ca. 30 m spricht dafür nicht; denn selbst bei einer Vollbremsung aus 60 km/h ist dieser Anhalteweg länger (zwischen 36, 5 und 33 m auf trockener Fahrbahn, vgl. Kuckuk/Werny, Straßenverkehrsrecht,, 8. Aufl., Tabelle XIX 2); darüber hinaus beruht die Schätzung des Anhaltewegs von ca. 30 m auf einem angenommenen, nicht sicher beweisbaren Kollisionsort.

Dagegen steht jedenfalls fest, dass der Antragsteller sich vor ein herannahendes Fahrzeug begeben hat, also grob sorgfaltswidrig war.

b) Soweit der Antragsteller sich gegen die Auffassung des Landgerichts wendet, der Zeitpunkt der Reaktionsaufforderung für den Kraftfahrer sei der Moment, in welchem der von links kommende Fußgänger einer mehrspurigen Straße (hier: Spandauer Damm mit insgesamt 6 Fahrstreifen und teilweise durchgezogener Mittellinie) die Mittellinie überschreitet, hat dies keinen Erfolg; insoweit kann auf die zutreffenden Erwägungen im Nichtabhilfe-Beschluss vom 12. Januar 2009 Bezug genommen werden.

Der Kraftfahrer braucht nicht damit zu rechnen, dass ein Fußgänger das Überqueren einer mehrspurigen Straße über die Mittellinie hinaus fortsetzt, obwohl das Kraftfahrzeug bereits nahe ist. Dieser Vertrauensgrundsatz erfährt lediglich Einschränkungen im Bereich des § 3 Abs. 2a StVO gegenüber Kindern, Hilfsbedürftigen und älteren Menschen, wobei jedoch selbst hier konkrete Umstände dafür sprechen müssen, dass ein nicht verkehrsgerechtes Verhalten einer solchen Person droht (vgl. etwa für 10 Jahre altes Kind auf Fahrrad in Richtung Fahrbahn: BGH, Urteil vom 1. Juli 1997 – VI ZR 205/96 – NJW 1997, 2756; für 11 Jahre altes Kind: OLG Hamm, Urteil vom 11. April 2005 – 13 U 133/04 – NZV 2006, 151 = DAR 2006, 272).

Schon ein altersgemäß entwickeltes Kind von 12 Jahren weiß dagegen, dass man sich nicht auf eine Fahrbahn begeben darf, ohne sich zu vergewissern, dass kein bevorrechtigter Verkehr herannaht (100 % Haftung des Kindes, OLG Braunschweig, NZV 1998, 27; Revision nicht angenommen, BGH, 12. August 1997 – VI ZR 19/97 –).

Damit, dass der Antragsteller als erwachsener Fußgänger über die Mittellinie des Spandauer Damm hinaus sich vor das unmittelbar herannahende Taxi begeben würde, musste der Antragsgegner ohne konkrete Anhaltspunkte nicht rechnen; Anhaltspunkt ist aber erst das Überschreiten der Mittellinie.

Das nicht zu erwartende Verhalten des Antragstellers ist nur durch dessen grobe Sorgfaltspflichtverletzung (hier höchstwahrscheinlich infolge der – für den Kraftfahrer nicht erkennbaren – starken Alkoholisierung von 2,5 Promille) zu erklären, die zu Lasten des Fußgängers geht.

Kann aber kein Verschulden des Kraftfahrers an der Kollision mit einem sorglos die Fahrbahn überquerenden Fußgänger festgestellt werden, tritt die Haftung aus Betriebsgefahr des Kraftfahrzeuges hinter dem groben Eigenverschulden des Fußgängers zurück (st. Rspr., vgl. Senat , Urteil vom 29. September 2003 – 12 U 315/01 – KGR 2004, 50 = DAR 2004, 30 = VRS 106, 4 = NZV 2004, 158 = VersR 2005, 809 L; KG, Urteil vom 3. März 2008 – 22 U 130/07 –). Dies gilt selbst dann, wenn das Kraftfahrzeug in einem Abstand von 40 m erkennbar herannahte, als der (alkoholisierte) Fußgänger die Fahrbahn betrat (vgl. Senat , Beschluss vom 6. Juni 2006 – 12 U 138/05 – KGR 2006, 745 = VRS 111, 166 = zfs 2007, 20 = NZV 2007, 80 = MDR 2007, 48).

2. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 97 Abs. 1; außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet, 127 Abs. 4 ZPO.



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