Das Verkehrslexikon
OLG Hamm Beschluss vom 09.12.2009 - 3 Ss OWi 948/09 - Zur Beweiswürdigung im Bußgeldverfahren und zum Geschwindigkeitsmesssystem Provida 2000
OLG Hamm v. 09.12.2009: Zur Beweiswürdigung im Bußgeldverfahren und zum Geschwindigkeitsmesssystem Provida 2000
Das OLG Hamm (Beschluss vom 09.12.2009 - 3 Ss OWi 948/09) hat entschieden:
Zur Zulässigkeit eines Verweises auf einen Videofilm im Urteil.
Zur den Anforderungen an die Beweiswürdigung im Bußgeldurteil bei Geschwindigkeitsmessung mit dem Provida2000-System.
Siehe auch Das Video-Messsystem ProViDa - Police-Pilot - Modular und Toleranzabzüge bei standardisierten Messverfahren zur Feststellung von Geschwindigkeitsverstößen
Gründe:
I.
Das Amtsgericht hat den Betroffenen wegen fahrlässiger Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit zu einer Geldbuße von 100 Euro verurteilt und ein Fahrverbot von einem Monat verhängt. Nach den Feststellungen des Amtsgerichts befuhr der Betroffene am 14.09.2008 um 16.47 Uhr als Führer eines Kraftrades die L … in F in Fahrtrichtung Westen. Er fuhr – nach Abzug einer Toleranz von 8 km/h – mit einer Geschwindigkeit von 141 km/h, obwohl die zulässige Höchstgeschwindigkeit dort nur 100 km/h beträgt, was er hätte erkennen können. Die Messung erfolgte mit dem Messgerät Provida 2000.
Gegen das Urteil wendet sich der Betroffene mit der Rechtsbeschwerde und rügt die Verletzung formellen und materiellen Rechts.
II.
Die zulässige Rechtsbeschwerde hat bereits auf die Sachrüge hin Erfolg.
1. Die Beweiswürdigung des angefochtenen Urteils leidet an durchgreifenden sachlich-rechtlichen Mängeln ( § 337 StPO i.V.m. § 79 Abs. 3 OWiG ). Die Beweiswürdigung ist grundsätzlich Sache des Tatrichters und das Revisionsgericht hat sie grundsätzlich hinzunehmen. Es darf sie nur auf Rechtsfehler überprüfen. Rechtsfehlerhaft ist eine Beweiswürdigung insbesondere dann, wenn sie widersprüchlich, lückenhaft oder unklar ist oder Denk- und Erfahrungssätze verstößt (vgl.: BGH NStZ 2007, 538; OLG Hamm Beschl. v. 22.09.2009 – 3 Ss 354/09 – juris; OLG Hamm Urt. v. 20.05.2008 – 3 Ss 179/08 = BeckRS 2008, 11799 – jew. m.w.N.).
Vorliegend ist die Beweiswürdigung aus mehreren Gründen lückenhaft.
Es wird nicht mitgeteilt, wie die fragliche Geschwindigkeitsmessung, deren Richtigkeit vom Betroffenen bestritten wird, vorgenommen wurde. Im Urteil heißt es dazu, dass das Gericht überzeugt sei, dass er die Geschwindigkeitsüberschreitung begangen habe. Das würde
„bestätigt durch die in der Hauptverhandlung in Augenschein genommene Videoaufnahme.“
Dazu heißt es im Urteil weiter:
„Wegen der Einzelheiten wird auf die sich bei der Akte befindliche DVD mit der entsprechenden Videosequenz Bezug genommen ( § 267 Abs. 1 S. 3 StPO )“.
Wie sich aus § 267 Abs. 1 S. 3 StPO ergibt, ist die Verweisung nur „wegen der Einzelheiten“ zulässig, d.h. eine Beschreibung des Wesentlichen in knapper Form kann nicht unterbleiben, da durch die Vorschrift sichergestellt werden soll, dass das Urteil noch aus sich heraus verständlich bleibt ( BayObLG NStZ-RR 1996, 211; vgl. auch Meyer-Goßner StPO 52. Aufl. § 267 Rdn. 10). Hier ist dies aber unterblieben. Die Beweiswürdigung ist so aus sich heraus nicht verständlich, denn es wird noch nicht einmal im Ansatz dargestellt, was auf dem Videofilm zu sehen ist. Angesichts dessen kann der Senat dahinstehen lassen, ob es überhaupt angängig ist, auf einen Videofilm (bzw. eine Videosequenz) insgesamt nach § 267 Abs. 1 S. 3 StPO Bezug zu nehmen. Das wird vom OLG Zweibrücken ( VRS 102, 102, 103) als zulässig angesehen, vom OLG Brandenburg ( DAR 2005, 635) hingegen angezweifelt. Möglicherweise könnte der Wortlaut „Abbildung“ eher dagegen sprechen, einen Verweis auf einen ganzen Videofilm für zulässig zu erachten. Der Sache nach besteht ein Film aus einer Vielzahl hintereinander in kurzen Abständen gezeigten einzelnen Abbildungen. Durch den Verweis auf einen ganzen Film – ohne dass ggf. eine Angabe von Einzelbildern „von … bis“ möglich ist oder geschieht – könnte unklar werden, auf welche Abbildungen konkret verwiesen wird.
Die Beweiswürdigung ist darüber hinaus auch deswegen lückenhaft, weil schon nicht mitgeteilt wird, wie die Messung mittels des Messgerätes vorgenommen wurde. Dargelegt ist nur, dass eine Messung mittels der Videoverkehrsüberwachungsanlage Provida 2000 erfolgt ist. Da dieses Messsystem verschiedene Einsatzmöglichkeiten zulässt (z. B. Messung aus stehendem Fahrzeug, Nachfahren oder Vorwegfahren mit konstantem Abstand, Weg-Zeit-Messung), die unterschiedliche Voraussetzungen und Folgen haben, ist der bloße Hinweis auf den Einsatz der Videoüberwachungsanlage Provida 2000 nicht ausreichend (vgl. OLG Jena Beschl. v. 08.05.2006 – 1 Ss 60/06 – juris; OLG Hamm NZV 2002, 245, jew. m.w.N.).
Des weiteren werden auch die konkreten Messergebnisse der Geschwindigkeitsmessung (Messtrecke, Geschwindigkeit, Messdauer etc., vgl. z.B. OLG Hamm Beschl. v. 08.01.2008 – 4 SsOWi 837/07 – juris) nicht mitgeteilt und auch nicht der Weg, wie die Höhe der Geschwindigkeit berechnet wurde. Es heißt im Urteil dazu lediglich: „Aus diesem Beiblatt [zur Ordnungswidrigkeitenanzeige] geht hervor, dass der Messbeamte die vom Betroffenen gefahrene Geschwindigkeit anhand einer Weg-Zeit-Berechnung ermittelt hat“. Da Verweise auf andere Urkunden nicht zulässig sind, ist die Beweiswürdigung insoweit aus sich heraus nicht verständlich. Der Senat kann nicht überprüfen, ob die Berechnung fehlerfrei erfolgt ist.
Der Senat kann nicht ausschließen, dass bei ordnungsgemäßer Beweiswürdigung eine dem Betroffenen günstigere Entscheidung ergangen wäre, so dass das Urteil auch auf den aufgezeigten Rechtsfehlern beruht.
2. Da das Urteil schon vollumfänglich auf die Sachrüge hin aufzuheben war, bedurfte die Verfahrensrügen keiner Erörterung mehr.