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OLG Hamm Beschluss vom 22.12.2009 - 1 Ss OWi 960/09 - Kein Beweisverwertungsverbot für Videoaufzeichnungen ohne gesetzliche Grundlage

OLG Hamm v. 22.12.2009: Kein Beweisverwertungsverbot für Videoaufzeichnungen ohne gesetzliche Grundlage


Das OLG Hamm (Beschluss vom 22.12.2009 - 1 Ss OWi 960/09) hat entschieden:
§ 100h StPO ist nicht Ermächtigungsgrundlage für eine Videomessung. Das Fehlen der Ermächtigungsgrundlage führt aber nicht zu einem Beweisverwertungsverbot.


Siehe auch Video-Messverfahren und Verwertungsverbote


Gründe:

I.

Durch Urteil vom 10. September 2009 hat das Amtsgericht Unna den Betroffenen wegen fahrlässiger Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit zu einer Geldbuße von 80,- € verurteilt und ihm für die Dauer von einem Monat verboten, Kraftfahrzeuge jeder Art im öffentlichen Straßenverkehr zu führen.

Das der Verurteilung zu Grunde liegende Messergebnis beruht nach den durch die Rechtsbeschwerde nicht angegriffenen amtsgerichtlichen Feststellungen auf einer Geschwindigkeitsmessung am 3. März 2009 auf der Bundesautobahn Al bei Kilometer 75,500 mittels des Verkehrskontrollsystems der Firma VIDIT, VKS 3.0, Version 3.1. Dieses System ermöglicht es, aus einer Videoaufzeichnung Geschwindigkeiten von Fahrzeugen festzustellen. Hierbei kommt es zu einer Fahrervideoaufzeichnung, die der Identifizierung des Fahrers sowie der Kennzeichenerfassung dient, und einer Tatvideoaufzeichnung, die eine Abstands- und Geschwindigkeitsmessung ermöglicht. Auf dem Tatvideo wird der gesamte auflaufende Verkehr in einem bestimmten Streckenbereich aufgezeichnet. Die Videoaufzeichnung wird codiert. Die Auswertung des codierten Videobandes erfolgt durch ein Computersystem unter Verwendung auf der Fahrbahn angebrachter, eingemessener Markierungen. Da das verwendete System im Unterschied zu der Nachfolgeversion eine anlassbedingte Zuschaltung der Kameras bei Vorliegen des Verdachts eines Geschwindigkeitsverstoßes nicht leisten kann, wird der gesamte fließende Verkehr aufgezeichnet.

Nach dem Messergebnis fuhr der Betroffene bei einer im Messbereich bestehenden Geschwindigkeitsbeschränkung auf 100 km/h mit seinem Pkw Daimler-Chrysler mit dem amtlichen Kennzeichen ... eine Geschwindigkeit von 132 km/h.

Das Amtsgericht hat unter Bezugnahme auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 11. August 2009 (2 BvR 941/08) wegen der fehlenden gesetzlichen Grundlage für eine Geschwindigkeitsmessung mittels Videoaufzeichnung des gesamten an einer Messstelle auflaufenden Verkehrs das Bestehen eines Beweiserhebungsverbots angenommen, ein daraus folgendes Beweisverwertungsverbot je doch verneint.

Gegen die vorgenannte Entscheidung wendet sich der Betroffene mit seiner Rechtsbeschwerde vom 16. September 2009. Er macht mit der Verfahrensrüge geltend, dass das Amtsgericht trotz seines rechtzeitigen Widerspruchs in der Hauptverhandlung am 10. September 2009 das Ergebnis der zuvor dargestellten Geschwindigkeitsmessung vom 3. März 2009 zu seinen Lasten verwertet habe, obwohl nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 11. August 2009 auch von dem Bestehen eines Beweisverwertungsverbots ausgegangen werden müsse.

Zudem erhebt der Betroffene die Sachrüge.


II.

Die Bußgeldsache wurde durch alleinige Entscheidung des mitunterzeichnenden Einzelrichters gemäß § 80 a Abs. 3 OWiG auf den Bußgeldsenat in der Besetzung mit drei Richtern übertragen, da die Nachprüfung des erstinstanzlichen Urteils zur Fortbildung des Rechts und zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung ge boten ist.


III.

Die gemäß § 79 Abs. 1 Nr. 2 OWiG statthafte, form- und fristgemäß eingelegte und begründete Rechtsbeschwerde des Betroffenen hat in der Sache keinen Erfolg.

1. Soweit der Betroffene mit der Verfahrensrüge die Verwertung des Ergebnisses der verfahrensgegenständlichen Geschwindigkeitsmessung zulasten des Betroffenen trotz des Bestehens eines Beweisverwertungsverbots geltend macht, ist die Rüge in zulässiger Weise erhoben. Die Rügebegründung genügt den nach § 79 Abs. 3 OWiG i.V.m § 344 Abs. 2 S. 2 StPO zu stellenden Anforderungen. Insbesondere ist der Rügebegründung in Verbindung mit dem Hauptverhandlungsprotokoll vom September 2009 zu entnehmen, dass der Betroffene der Verwertung des Messergebnisses in der Hauptverhandlung rechtzeitig bis zu dem durch § 257 StPO be stimmten Zeitpunkt widersprochen hat.

Mit der zulässig erhobenen Verfahrensrüge dringt der Betroffene jedoch nicht durch.

Das Amtsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass die Geschwindigkeitsmessung mittels Videoaufzeichnung des gesamten auflaufenden Verkehrs rechtswidrig war, da es für den damit verbundenen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Betroffenen aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Recht auf informationelle Selbstbestimmung an einer Ermächtigungsgrundlage fehlt. Jedenfalls durch die Aufzeichnung von Daten, die in einem späteren Bußgeldverfahren die Identifizierung des Betroffenen ermöglichen, wird in das Recht des Betroffenen auf informationelle Selbstbestimmung eingegriffen. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist der Einschränkung im überwiegenden Allgemeininteresse zugänglich, wobei es jedoch einer gesetzlichen Grundlage, die dem rechtsstaatlichen Gebot der Normenklarheit entspricht und verhältnismäßig ist, bedarf. Anlass, Zweck und Grenzen des Eingriffs müssen in der Ermächtigung bereichsspezifisch, präzise und normenklar festgelegt werden. (vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 16. August 2009, 2 BvR 941/08).

An einer solchen Ermächtigungsgrundlage fehlt es im vorliegenden Fall. Insbesondere kann nicht auf die in der Stellungnahme des Innenministeriums Nordrhein- Westfalen vom 9. September 2009 zu der vorgenannten Bundesverfassungsgerichtsentscheidung genannten Vorschriften (§24 StVG, §§ 4, 49 StVO, §§ 53, 46 OWIG i.V.m. 100 h StGB) zurückgegriffen werden.

Der Einsatz technischer Mittel im Sinne des § 100 h StPO, insbesondere die Her stellung von Bildaufnahmen, ist nur bei Vorliegen des Verdachts einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit zulässig (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 52. Aufl., 2009, § 100h Rn. 1). Die Videoaufzeichnung durch das am 3. März 2009 verwendete Mess system erfolgte nach den für das Rechtsbeschwerdegericht bindenden Feststellungen des Amtsgerichts gerade nicht anlassbezogen. Vielmehr wurde der gesamte, an der Messstelle auflaufende Verkehr in der Weise aufgezeichnet, dass eine spätere Identifizierung eines jeden Fahrzeugs und Fahrers möglich war.

Der Verstoß gegen das für Geschwindigkeitsmessungen mittels nicht anlassbezogener Videoaufzeichnung des an der Messstelle auflaufenden Verkehrs bestehende Beweiserhebungsverbot zieht in dem hier vorliegenden Einzelfall jedoch kein Beweisverwertungsverbot nach sich.

Ob ein auf rechtswidrige Weise erlangtes Beweismittel zulasten des Betroffenen verwertet werden darf, ist nach der herrschenden und vom Bundesverfassungsgericht gebilligten Rechtsprechung im Einzelfall insbesondere nach Art des Verbotes und dem Gewicht des Verfahrensverstoßes sowie der Bedeutung der betroffenen Rechtsgüter unter Abwägung der widerstreitenden Interessen zu entscheiden, wenn es - wie hier - an einer ausdrücklichen gesetzlichen Anordnung eines Verwertungsverbotes fehlt (BVerfG NJW 2008, 3053, 3054; 2006, 2684/2686; NStZ 2006, 46, 47; BGHSt 51, 285, 290; 44, 243, 249; OLG Hamm, Beschluss vom 24. November 2009, 5 Ss 441/09; OLG Hamburg NJW 2008, 2597, 2598; OLG Stuttgart NStZ 2008, 238, 239; OLG Bamberg NJW 2009, 2146;BGH NJW 2007, 2269 ff.; OLG Celle NdsRPfl. 2009, 295 f.). Dabei ist zu beachten, dass die Annahme eines Verwertungsverbotes, auch wenn die Strafprozessordnung nicht auf die Wahrheitserforschung um "jeden Preis" gerichtet ist, ein wesentliches Prinzip des Strafrechts, nämlich den Grundsatz, dass das Gericht die Wahrheit zu erforschen und dazu die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken hat, die von Bedeutung sind, einschränkt (vgl. BGHSt 51 und 44, a.a.O.). Ein Beweisverwertungsverbot ist ohne ausdrückliche gesetzliche Anordnung daher nur ausnahmsweise aus übergeordneten wichtigen Gesichtspunkten im Einzelfall anzunehmen, wenn einzelne Rechtsgüter-durch Eingriffe fern jeder Rechtsgrundlage so massiv beeinträchtigt werden, dass dadurch das Ermittlungsverfahren als ein nach rechtsstaatlichen Grundsätzen geordnetes Verfahren nachhaltig geschädigt wird (vgl. BGHSt 51, a.a.O.). Insoweit wird ein Beweisverwertungsverbot dann angenommen, wenn die zur Fehlerhaftigkeit der Ermittlungsmaßnahmen führenden Verfahrensverstöße derart schwerwiegend waren oder bewusst oder willkürlich begangen wurden (vgl. nur BVerfGE 113, 29, 61; BVerfG, Beschluss vom 16. Märi2006, 2 BvR 954/02; OLG Hamm, Beschluss vom 12. März 2009, 3 Ss 31/09: OLG Köln VM 2009, 5; OLG Stuttgart VRS 113, 363).

Nach den vorgenannten Grundsätzen ist im vorliegenden Fall kein Beweisverwertungsverbot anzunehmen.

Angesichts der hohen Bedeutung der Verkehrsüberwachung für die Sicherheit des öffentlichen Straßenverkehrs, des Gewichts des Verstoßes im Einzelfall und des Um standes, dass im Zeitpunkt der Messung im März 2009 die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 11. August 2009 den Ordnungsbehörden noch nicht bekannt war, stellt sich der Verfahrensverstoß durch die Dauervideoüberwachung weder als bewusste Gesetzesverletzung der beteiligten Personen noch als objektiv willkürlich dar.

Dabei verkennt der Senat nicht, dass die ohne die erforderliche Ermächtigungsgrundlage angewandte Messmethode der Dauervideoüberwachung des fließenden Verkehrs mit einem systematisch angelegten, nicht anlassbezogenen Eingriff in die Grundrechte einer unbestimmten Vielzahl von Personen verbunden ist (vgl. OLG Oldenburg, Beschluss vom 27. November 2009, Ss Bs 186/09).

Die Intensität des Eingriffs in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung durch die Videoaufzeichnung des fließenden Verkehrs ist jedoch im Einzelfall sehr gering. Die aufgezeichneten Daten betreffen insbesondere nicht den Kernbereich privater Lebensgestaltung des Betroffenen oder seine engere Privatsphäre. Vielmehr setzt sich der Betroffene durch die Teilnahme am öffentlichen Straßenverkehr selbst der Wahrnehmung und Beobachtung durch andere Verkehrsteilnehmer wie auch der Kontrolle seines Verhaltens im Straßenverkehr durch die Polizei und die Ordnungsbehörden aus, so dass der verfahrensgegenständliche Verstoß ohne weiteres durch eine rechtmäßige, anlassbezogene Geschwindigkeitsmessung hätte festgestellt wer den können.

Dem gegenüber steht das hohe öffentliche Interesse an der Sicherheit des Straßenverkehrs, die gerade durch erhebliche Geschwindigkeitsüberschreitungen im besonderen Maße gefährdet ist.

Zudem kommt dem öffentlichen Interesse an der Verfolgung der Ordnungswidrigkeit im vorliegenden Einzelfall eine besonders hohe Bedeutung zu. Zum einen handelt es sich bei der vorliegenden Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit um 32 km/h um einen erheblichen Verstoß. Zum anderen gewinnen der Verstoß und das öffentliche Interesse an einer Verfolgung der Ordnungswidrigkeit zusätzlich dadurch an Bedeutung, dass der Betroffene in der Vergangenheit nach den Feststellungen des Amtsgerichts bereits mehrfach wegen erheblicher Geschwindigkeitsüberschreitungen in Erscheinung getreten ist und mit Geldbußen und einem Fahrverbot belegt würde. Zuletzt hat die Bußgeldbehörde der Stadt Dortmund am 8. Januar 2009, rechtskräftig seit dem 27. Januar 2009 gegen den Betroffenen wegen einer Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 31 km/h bei einer zugelassenen Geschwindigkeit von 80 km/h eine Geldbuße in Höhe von 120,- € verhängt. Die in den einschlägigen Vorbelastungen zum Ausdruck kommende Unbelehrbarkeit des Betroffenen und die deshalb von ihm ausgehende erhebliche Gefahr für die Sicherheit des öffentlichen Straßenverkehrs verleiht dem öffentlichen Interesse an einer effektiven Verfolgung der Ordnungs widrigkeit hier eine besondere Bedeutung, die insbesondere angesichts der dargestellten geringen Intensität des Eingriffs in das Recht des Betroffenen auf informationelle Selbstbestimmung die Annahme eines Beweisverwertungsverbotes ausschließt.

2. Da auch die auf die allgemeine Sachrüge erfolgte Überprüfung des Urteils in materiell-rechtlicher Hinsicht keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Betroffenen ergeben hat, war die Rechtsbeschwerde gem. § 79 Abs. 3 i.V.m. § 349 Abs. 2 StPO als offensichtlich unbegründet zu verwerfen.


IV.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 473 Abs. 1 S. 1 StPO.