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Landgericht Saarbrücken Urteil vom 12.03.2010 - 13 S 215/09 - Bei einem Fahrstreifenwechsel spricht der Anscheinsbeweis gegen den Spurwechsler

LG Saarbrücken v. 12.03.2010: Bei einem Fahrstreifenwechsel spricht der Anscheinsbeweis gegen den Spurwechsler


Das Landgericht Saarbrücken (Urteil vom 12.03.2010 - 13 S 215/09) hat entschieden:
Wird gegen eine Schutzvorschrift verstoßen, die auf bestimmten Erfahrungen über die Gefährlichkeit einer Handlungsweise beruht, so kann bei einem Schadenseintritt nach erstem Anschein darauf geschlossen werden, dass sich die von ihr bekämpfte Gefahr verwirklicht hat, sofern sich der Schadensfall in zeitlichem und sachlichem Zusammenhang mit dem vorschriftswidrigen Verhalten ereignet hat. Jedenfalls wenn es in einem engen räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem Fahrstreifenwechsel eines Fahrzeuges zu einer Kollision mit einem auf der anderen Fahrspur befindlichen Fahrzeug kommt, wird regelmäßig von einem Anscheinsbeweis für einen schuldhaften Verstoß des den Fahrstreifen wechselnden Fahrzeugführers ausgegangen.


Gründe:

I.

Der Kläger macht gegen die Beklagten Ersatzansprüche aus einem Unfallgeschehen geltend, das sich am 12.7.2008 auf der ... in ... ereignet hat. Nachdem der Erstbeklagte mit seinem bei der Zweitbeklagten haftpflichtversicherten Fahrzeug (...) im Bereich der Auffahrt auf die BAB ... Fahrtrichtung ... von der rechten, nach ... führenden, auf die linke Fahrspur, die auf die Autobahn führt, wechselte, geriet das klägerische Fahrzeug (damals: ...) gegen die linksseitige Leitplanke und wurde hierbei beschädigt. Auf den Schaden von insgesamt 3.526,65 EUR zahlte die Zweitbeklagte vorgerichtlich 545,11 EUR auf der Grundlage einer Haftung in Höhe von 25%. Den Restbetrag von 2.981,54 EUR sowie vorgerichtliche Rechtsanwaltsgebühren jeweils nebst gesetzlicher Zinsen macht der Kläger mit der Klage geltend.

Er behauptet, die beiden Fahrzeuge seien über eine Strecke von 10-20 Meter nebeneinander gefahren, als der Erstbeklagte im Bereich der Sperrfläche zwischen den beiden Fahrspuren unerwartet und ohne Vorankündigung die Spur gewechselt habe. Der Kläger habe abgebremst und sei nach links ausgewichen, um eine Kollision zu vermeiden, und sei dabei mit der Leitplanke kollidiert.

Die Beklagten behaupten, vor dem Spurwechsel habe sich der Erstbeklagte im Außen- und Innenspiegel nach hinten versichert, wobei das Klägerfahrzeug noch mit deutlichem Abstand hinter dem Beklagtenfahrzeug gefahren sei. Der Spurwechsel sei ordnungsgemäß und frühzeitig durch Betätigung des linken Fahrtrichtungsanzeigers eingeleitet worden und nicht im Bereich der Sperrfläche erfolgt. Die Ursächlichkeit des Fahrspurwechsels mit der Kollision des Klägers haben sie bestritten.

Das Erstgericht hat den Kläger informatorisch angehört, die staatsanwaltschaftliche Ermittlungsakte beigezogen und die Zeugin ... vernommen. Nachdem der Erstbeklagte zu einem ersten Termin entschuldigt und nach erneuter Ladung zum Termin unentschuldigt nicht erschienen war, hat das Erstgericht auf dessen informatorische Anhörung verzichtet und die Beklagten gesamtschuldnerisch zur Zahlung von 1.231,- EUR und vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten von 186,24 EUR jeweils zuzüglich gesetzlicher Zinsen verurteilt und die Klage im Übrigen abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die näheren Umstände des Unfallgeschehens seien nicht mehr aufklärbar, so dass auch nicht ausgeschlossen werden könne, dass der Kläger infolge eines Fahrfehlers, der dem Erstbeklagten nicht zugerechnet werden könne, verunglückt sei. Deshalb könne nur die Betriebsgefahr beider Fahrzeuge berücksichtigt werden, so dass die Parteien jeweils hälftig für den Unfall einzustehen hätten.

Mit seiner Berufung verfolgt der Kläger den abgewiesenen Zahlungsanspruch nebst vorgerichtlichen Anwaltskosten weiter. Er meint, das Erstgericht hätte das unentschuldigte Fernbleiben des Erstbeklagten in entsprechender Anwendung des § 446 ZPO als Zugestehen der klägerischen Unfalldarstellung werten müssen. Die Beklagten verteidigen das angegriffene Urteil.

Die Kammer hat die beteiligten Fahrer angehört und Beweis erhoben durch erneute Vernehmung der Zeugin .... Hinsichtlich des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Sitzungsprotokoll vom 1.3.2010 Bezug genommen.


II.

Die zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhobene Berufung ist nach Durchführung einer erneuten Beweisaufnahme begründet. Danach haften die Beklagten für die Unfallfolgen allein.

1. Der rechtliche Ausgangspunkt des Amtsgerichts, das von einer grundsätzlichen Haftung sowohl des Klägers als auch der Beklagten gemäß der §§ 7 Abs. 1, 17 Abs. 1 Straßenverkehrsgesetz (StVG) i.V.m. § 155 Versicherungsvertragsgesetz (VVG) ausgegangen ist, weil der Unfall erkennbar nicht auf höherer Gewalt i.S.d. § 7 Abs. II StVG beruht und keiner der Unfallbeteiligten im Stande ist, das Vorliegen eines für ihn unabwendbaren Ereignis i.S.d. § 17 Abs. 3 StVG nachzuweisen, ist zutreffend und wird auch in der Berufungsinstanz nicht in Zweifel gezogen.

2. Ebenfalls zu Recht ist das Amtsgericht ferner davon ausgegangen, dass für den Umfang der Haftung nach § 17 Abs. 1 und 2 StVG eine Abwägung der beiderseitigen Verursachungs- und Verschuldensanteile der Fahrer der beteiligten Fahrzeuge unter Berücksichtigung der von beiden Fahrzeugen ausgehenden Betriebsgefahr geboten ist. Der Annahme des Erstgerichts, vorliegend von einer Haftungsteilung auszugehen, kann allerdings nach der erneut durchgeführten Beweisaufnahme nicht gefolgt werden.

a) Nach dem Ergebnis der zweitinstanzlichen Beweisaufnahme und den Angaben der Parteien in der mündlichen Verhandlung ist davon auszugehen, dass der Erstbeklagte aus verhältnismäßig langsamer Fahrt – nach seiner Einlassung war er mit maximal 10 – 15 km/h unterwegs – über die schraffierte Fläche hinweg auf die Fahrspur des Klägers eingefahren ist und diesen dadurch zu einer Ausweichreaktion gezwungen hat, in deren Verlauf der Kläger mit seinem Fahrzeug in die Leitplanke fuhr. Dies ergibt sich aus den eigenen, in jeder Hinsicht nachvollziehbaren Angaben des Erstbeklagten und den ebenfalls glaubwürdigen Angaben des Klägers, die sich teilweise und insbesondere in der Beurteilung der Örtlichkeit des Fahrspurwechsels decken. Die Zeugin ..., die allerdings zu dem Verhalten des Erstbeklagten beim Fahrspurwechsel nur wenig Ergiebiges auszusagen vermochte, konnte zudem bestätigen, dass dem Fahrspurwechsel eine deutliche Geschwindigkeitsreduzierung des Beklagtenfahrzeuges vorausging.

b) Zum einen hat der Erstbeklagte damit verbotswidrig eine Sperrfläche i.S.d. § 41 StVO (Zeichen 298, vgl. auch die Nachweise bei Jagow/Burmann/Heß, Straßenverkehrsrecht, 20. Aufl., § 2 StVO Rdn. 98) überfahren. Zugleich liegt hierin ein Verstoß gegen das Gebot des § 7 Abs. 5 StVO, wonach ein Fahrstreifenwechsel nur erfolgen darf, wenn eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist.

c) Dass dieser Fahrstreifenwechsel eine Gefährdung für das klägerische Fahrzeug darstellte und zugleich für dessen anschließende Kollision mit der Leitplanke ursächlich war, ergibt sich vorliegend aus den Grundsätzen zum Anscheinsbeweis.

aa) Steht zur richterlichen Überzeugung ein Sachverhalt fest, der nach den Regeln des Lebens und nach der Erfahrung vom Üblichen und Gewöhnlichen typisch für einen bestimmten Geschehensablauf – etwa für die bestimmte Wirkung einer bestimmten Ursache – ist, so vermittelt diese Typizität die richterliche Überzeugung auch im zu entscheidenden Einzelfall (vgl. BGH VersR 1997, 205; Geigel/Knerr, Haftpflichtprozess, 24. Aufl., Kap. 37 Rdn. 43). Wird gegen eine Schutzvorschrift verstoßen, die auf bestimmten Erfahrungen über die Gefährlichkeit einer Handlungsweise beruht – hier die Schutzvorschriften der §§ 41 und 7 Abs. 5 StVO -, so kann bei einem Schadenseintritt nach erstem Anschein darauf geschlossen werden, dass sich die von ihr bekämpfte Gefahr verwirklicht hat, sofern sich der Schadensfall in zeitlichem und sachlichem Zusammenhang mit dem vorschriftswidrigen Verhalten ereignet hat (Geigel/Knerr aaO Kap 37 Rdn. 47; Geigel/Freymann aaO Kap. 15 Rdn. 12, jew. m.w.N.).

bb) Jedenfalls wenn es in einem engen räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem Fahrstreifenwechsel eines Fahrzeuges zu einer Kollision mit einem auf der anderen Fahrspur befindlichen Fahrzeug kommt, wird regelmäßig von einem Anscheinsbeweis für einen schuldhaften Verstoß des den Fahrstreifen wechselnden Fahrzeugführers ausgegangen (vgl. die Nachweise Jagow/Burmann/Heß aaO § 7 StVO Rdn. 25). Vorliegend hat der Kläger einen Zusammenstoß vermieden. Gleichwohl kann nach den Feststellungen der Kammer zum Sachverhalt hier nichts anderes gelten, als wenn es zu einem Zusammenstoß gekommen wäre. Dass die Ausweichbewegung des Klägers in unmittelbarem räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem unerlaubten Fahrspurwechsel erfolgt, ist nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung nicht zweifelhaft. Denn auch dann, wenn man den Angaben des Erstbeklagten folgt und davon ausgeht, dass sich das Klägerfahrzeug im Zeitpunkt des Fahrspurwechsels noch einige Meter hinter dem Beklagtenfahrzeug befand, wäre der Kläger aufgrund der Geschwindigkeitsdifferenz – er fuhr nach seinen Angaben 30 km/h – durch den Fahrstreifenwechsel und das damit entstehende plötzliche Hindernis gefährdet worden, so dass der räumliche und zeitliche Zusammenhang hier zu bejahen ist. Dass diese Gefährdung für die Ausweichbewegung auch ursächlich gewesen ist, liegt dann auf der Hand, zumal Hinweise auf eine Überreaktion oder einen anderen Fahrfehler des Klägers nicht ansatzweise erkennbar sind.

d) Mit Blick darauf, dass im Rahmen der Abwägung der Verursachungs- und Verschuldensanteile auf Seiten des Klägers lediglich die Betriebsgefahr seines Fahrzeuges zu berücksichtigen war, erscheint es gerechtfertigt, diese hinter den mit Blick auf die besondere Gefährlichkeit des zudem noch unerlaubten Fahrspurwechsels besonders gewichtigen Verkehrsverstoß des Erstbeklagten zurücktreten zu lassen mit der Folge, dass die Beklagten für die der Höhe nach nicht mehr streitigen Unfallschäden des Klägers alleine haften (vgl. auch Jagow/Burmann/Heß aaO § 7 StVO Rdn. 25 m.w.N.).


III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 ZPO, die Entscheidung über die Vollstreckbarkeit auf §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO, § 26 Nr. 8 EGZPO. Die Revision war nicht zuzulassen, da die Sache keine grundsätzliche Bedeutung hat und sie keine Veranlassung gibt, eine Entscheidung des Revisionsgerichts zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung herbeizuführen ( § 543 Abs. 2 ZPO ).



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