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VGH Mannheim Beschluss vom 03.05.2010 - 10 S 256/10 - Die Bindungswirkung des Strafurteils erstreckt sich auch auf die Notwendigkeit einer MPU
VGH Mannheim v. 03.05.2010: Die Bindungswirkung des Strafurteils erstreckt sich auch auf die Notwendigkeit einer MPU
Der VGH Baden-Württemberg in Mannheim (Beschluss vom 03.05.2010 - 10 S 256/10) hat entschieden:
Die Verwaltungsbehörde ist an die strafrichterliche Eignungsbeurteilung nur dann gebunden, wenn diese auf ausdrücklich in den schriftlichen Urteilsgründen getroffenen Feststellungen beruht und wenn die Behörde von demselben und nicht von einem anderen, umfassenderen Sachverhalt als der Strafrichter auszugehen hat. Die Bindungswirkung lässt sich nur rechtfertigen, wenn die Verwaltungsbehörde den schriftlichen Urteilsgründen sicher entnehmen kann, dass überhaupt und mit welchem Ergebnis das Strafgericht die Fahreignung beurteilt hat. Die in § 3 Abs. 4 Satz 1 StVG angeordnete Bindungswirkung gilt nicht nur für die Maßnahme der Entziehung selbst, sondern nach ihrem Sinn und Zweck für das gesamte Entziehungsverfahren unter Einschluss der vorbereitenden Maßnahmen, so dass in derartigen Fällen die Behörde schon die Beibringung eines Gutachtens nicht anordnen darf.
Siehe auch Bindungswirkung und MPU-Themen
Gründe:
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 26.01.2010 ist zulässig (vgl. §§ 146, 147 VwGO ) und hat auch in der Sache Erfolg. Aus den in der Beschwerdebegründung dargelegten Gründen (vgl. § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO ) ergibt sich, dass abweichend von der Entscheidung des Verwaltungsgerichts das private Interesse des Antragstellers, vom Vollzug der Verfügung des Landratsamts Breisgau-Hochschwarzwald vom 10.12.2009 vor einer endgültigen Entscheidung über ihre Rechtmäßigkeit verschont zu bleiben, dem öffentlichen Interesse am sofortigen Vollzug der Verfügung vorgeht. Bei summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage besteht die hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Widerspruch des Antragstellers und eine eventuell nachfolgende Anfechtungsklage Erfolg haben werden, weil ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Entziehungsverfügung bestehen.
Das Landratsamt hat dem Antragsteller nach § 3 Abs. 1 StVG, § 46 Abs. 1 FeV i.V.m. § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV die Fahrerlaubnis entzogen, weil er ein nach § 13 Satz 1 Nr. 2b FeV angefordertes Eignungsgutachten nicht beigebracht hat. Keine rechtlichen Bedenken bestehen gegen die Annahme des Verwaltungsgerichts, dass die in Ziff. 3 des angegriffenen Bescheids erklärte Anordnung der sofortigen Vollziehung der Fahrerlaubnisentziehung dem Begründungserfordernis des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO genügt (vgl. zu diesen Anforderungen Beschluss des Senats vom 24.06.2002 – 10 S 985/02 – VBlBW 2002, 441) und die Gutachtensanordnung des Antragsgegners vom 08.10.2009 den an sie zu stellenden formellen Anforderungen entspricht. Wie das Verwaltungsgericht zu Recht näher darlegt, ist die Gutachtensanforderung trotz der falschen Datumsangabe aus sich heraus verständlich und wurde vom Antragsteller auch zutreffend verstanden. Entgegen der Auffassung der Beschwerde ist in diesem Zusammenhang unerheblich, dass sich in der Anordnung zur Beibringung des Gutachtens vom 08.10.2009 keine genaue Angabe der vom Landratsamt als Grundlage herangezogenen Bestimmung der Fahrerlaubnis-Verordnung findet (vgl. hierzu Urteil des Senats vom 18.05.2004 – 10 S 2796/03 – VBlBW 2004, 428).
Das Verwaltungsgericht hat jedoch übersehen, dass hier die Bindungswirkung des § 3 Abs. 4 Satz 1 StVG der Anordnung, ein Gutachten beizubringen, jedenfalls bei summarischer Prüfung entgegenstehen dürfte. Will die Fahrerlaubnisbehörde in einem Entziehungsverfahren einen Sachverhalt berücksichtigen, der Gegenstand der Urteilsfindung in einem Strafverfahren gegen den Inhaber der Fahrerlaubnis gewesen ist, so kann sie gemäß § 3 Abs. 4 Satz 1 StVG zu dessen Nachteil vom Inhalt des Urteils insoweit nicht abweichen, als es sich auf die Feststellung des Sachverhalts oder die Beurteilung u.a. der Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen bezieht. Mit dieser Vorschrift soll die sowohl dem Strafrichter (vgl. § 69 StGB ) als auch der Verwaltungsbehörde (vgl. § 3 Abs. 1 StVG ) eingeräumte Befugnis, bei fehlender Kraftfahreignung die Fahrerlaubnis zu entziehen, so aufeinander abgestimmt werden, dass Doppelprüfungen unterbleiben und die Gefahr widersprechender Entscheidungen ausgeschaltet wird. Der Vorrang der strafrichterlichen vor der behördlichen Entscheidung findet seine innere Rechtfertigung darin, dass auch die Entziehung der Fahrerlaubnis durch den Strafrichter als Maßregel der Besserung und Sicherung keine Nebenstrafe, sondern eine in die Zukunft gerichtete, aufgrund der Sachlage zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung zu treffende Entscheidung über die Gefährlichkeit des Kraftfahrers für den öffentlichen Straßenverkehr ist. Insofern deckt sich die dem Strafrichter übertragene Befugnis mit der Ordnungsaufgabe der Fahrerlaubnisbehörde. Während die Behörde allerdings die Kraftfahreignung aufgrund einer umfassenden Würdigung der Gesamtpersönlichkeit des Kraftfahrers zu beurteilen hat, darf der Strafrichter nur eine Würdigung der Persönlichkeit vornehmen, soweit sie in der jeweiligen Straftat zum Ausdruck gekommen ist. Deshalb ist die Verwaltungsbehörde an die strafrichterliche Eignungsbeurteilung auch nur dann gebunden, wenn diese auf ausdrücklich in den schriftlichen Urteilsgründen getroffenen Feststellungen beruht und wenn die Behörde von demselben und nicht von einem anderen, umfassenderen Sachverhalt als der Strafrichter auszugehen hat. Die Bindungswirkung lässt sich nur rechtfertigen, wenn die Verwaltungsbehörde den schriftlichen Urteilsgründen sicher entnehmen kann, dass überhaupt und mit welchem Ergebnis das Strafgericht die Fahreignung beurteilt hat. Deshalb entfällt die Bindungswirkung, wenn das Strafurteil überhaupt keine Ausführungen zur Kraftfahreignung enthält oder wenn jedenfalls in den schriftlichen Urteilsgründen unklar bleibt, ob das Strafgericht die Fahreignung eigenständig beurteilt hat (vgl. zum ganzen BVerwG, Urteil vom 15.07.1988 – 7 C 46.87 – BVerwGE 80, 43; BVerwG, Beschluss vom 01.04.1993 – 11 B 82.92 – Buchholz 442.10 § 4 StVG Nr. 89; Beschluss des Senats vom 17.11.2008 – 10 S 2719/08 – ZfSch 2009, 178). Die in § 3 Abs. 4 Satz 1 StVG angeordnete Bindungswirkung gilt nicht nur für die Maßnahme der Entziehung selbst, sondern nach ihrem Sinn und Zweck für das gesamte Entziehungsverfahren unter Einschluss der vorbereitenden Maßnahmen, so dass in derartigen Fällen die Behörde schon die Beibringung eines Gutachtens nicht anordnen darf (vgl. BVerwG, Urteil vom 15.07.1988 – 7 C 46.87 – a.a.O.).
Ausgehend von diesen Grundsätzen war die Fahrerlaubnisbehörde gemäß § 3 Abs. 4 Satz 1 StVG voraussichtlich gehindert, ein medizinisch-psychologisches Eignungsgutachten anzuordnen. Mit Strafurteil des Amtsgerichts Müllheim/Baden vom 16.09.2008 wurde der Antragsteller wegen fahrlässiger Trunkenheit im Straßenverkehr verurteilt, weil er am 01.09.2007 einen Pkw mit einer Blutalkoholkonzentration von 1,57 ‰ geführt hat. Im Urteil wird festgestellt, dass trotz § 69 Abs. 2 Nr. 2 StGB von der Entziehung der Fahrerlaubnis abzusehen war, da u.a. die Tatumstände und die seither verstrichene Zeit sowie die erheblichen, beanstandungsfreien Fahrleistungen einen Regelfall nach § 69 StGB kontraindizieren würden. Bei der Strafzumessung berücksichtigte das Gericht zu Gunsten des Antragstellers u.a. die kurze zurückgelegte Fahrstrecke sowie seine Straflosigkeit seit nahezu zehn Jahren und seinen psychischen Ausnahmezustand bei Begehung der Tat. Damit hat das Strafgericht aufgrund einer – wenn auch nur knappen – Beurteilung der Eignungsfrage von einer Entziehung der Fahrerlaubnis abgesehen. Die Urteilsgründe lassen keinen Raum für die Annahme, das Strafgericht habe von einer eigenständigen Bewertung der Kraftfahreignung abgesehen und diese Frage letztlich offen lassen wollen. Es liegt auch kein Anhaltspunkt dafür vor, dass das Strafgericht nicht aufgrund einer Eignungsbeurteilung, sondern aufgrund anderer Umstände wie etwa im Hinblick allein auf die seit der Tatbegehung verstrichene Zeit von einer Entziehung der Fahrerlaubnis abgesehen hat (vgl. zu einer derartigen Konstellation BVerwG, Beschluss vom 11.01.1988 – 7 B 242.87 – DAR 1988, 247) oder lediglich an der Ungeeignetheit gezweifelt hat. Auch eine Auslegung dahingehend, dass das Strafgericht nur das Vorliegen eines Regelfalles nach § 69 Abs. 2 StGB verneint hat, so dass eine umfassende Prüfung der Kraftfahreignung nach § 69 Abs. 1 StGB geboten ist, dürfte bereits nach dem Wortlaut der Urteilsgründe nicht in Betracht kommen. Vielmehr folgt aus der knappen, aber klaren Begründung des Strafurteils, dass der Vorfall vom 01.09.2007 der Eignung des Antragstellers zum Führen von Kraftfahrzeugen nach Auffassung des Strafgerichts nicht entgegensteht.
Auch der Umstand, dass nach dem Wortlaut des Strafurteils die Eignung des Antragstellers nicht positiv festgestellt wurde, rechtfertigt keine andere Einschätzung. Denn eine Unterscheidung zwischen positiver Feststellung der Eignung und Verneinung der Ungeeignetheit ist jedenfalls im Entziehungsverfahren rechtlich ohne Belang; ist die Ungeeignetheit nicht gegeben, muss der Kraftfahrer im Rechtssinn als (weiterhin) geeignet angesehen werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 15.07.1988 – 7 C 46.87 – a.a.O.).
Schließlich ist die Fahrerlaubnisbehörde auch nicht von einem umfassenderen Sachverhalt als das Strafgericht ausgegangen. Die durch das Amtsgericht Müllheim abgeurteilten Straftaten waren die zwei Trunkenheitsfahrten des Antragstellers am 01.09.2007 mit einer Blutalkoholkonzentration von 1,57 ‰. Zwar war die Gutachtensanforderung des Antragsgegners auf die Bestimmung des § 13 Satz 1 Nr. 2b FeV gestützt und bezog deshalb die mit Urteil des Amtsgerichts Leipzig vom 08.01.1999 geahndete Trunkenheitsfahrt vom 16.07.1998 mit ein. Ferner setzt die Bindungswirkung des § 3 Abs. 4 Satz 1 StVG voraus, dass der gleiche Sachverhalt, d. h. die Tat im Sinne des Strafverfahrensrechts, Gegenstand der verschiedenen Verfahren ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 23.02.1962 – VIII C 138/61 – VerwRspr Band 14, Nr. 281). Wie sich den Gründen des Urteils vom 16.09.2008 unzweideutig entnehmen lässt, war diese Vorverurteilung durch das Amtsgericht Leipzig dem Strafrichter bei Urteilserlass aber nicht nur bekannt (vgl. hierzu die Ausführungen unter I der Urteilsgründe); die einschlägige Vorverurteilung des Antragstellers wurde von dem Strafrichter auch bei seinen Strafzumessungserwägungen zu dessen Lasten berücksichtigt (vgl. V der Urteilsgründe). Der Strafrichter hat zwar nur die konkrete Tat abzuurteilen, trifft seine Entscheidung jedoch unter Würdigung der Persönlichkeit des Täters, dessen Vorstrafen dabei mit zu berücksichtigen sind. Daher hat der Strafrichter hier sämtliche Zuwiderhandlungen des Antragstellers in dem gleichen umfassenden Maße wie die Verwaltungsbehörde gewürdigt, so dass die Bindungswirkung des § 3 Abs. 4 Satz 1 StVG nicht ausgeschlossen ist. Unerheblich ist in diesem Zusammenhang, ob das Strafgericht zu Recht von einer Entziehung der Fahrerlaubnis gemäß § 69 Abs. 1 StGB abgesehen hat. Denn die Bindungswirkung verwehrt es der Fahrerlaubnisbehörde, das Strafurteil auf seine inhaltliche Richtigkeit zu prüfen. Würdigt das Strafgericht einen Vorfall anders als die Fahrerlaubnisbehörde, fehlt es deswegen nicht am Merkmal des gleichen Sachverhalts.
Die Bindungswirkung dürfte schließlich auch nicht deshalb entfallen, weil § 13 Satz 1 Nr. 2b FeV die Fahrerlaubnisbehörde zur Anordnung der Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens verpflichtet. Denn § 3 Abs. 4 Satz 1 StVG geht als formelles Gesetz der Fahrerlaubnis-Verordnung vor (vgl. Beschluss des Senats vom 17.11.2008 – 10 S 2719/08 – a.a.O.).
Die Fahrerlaubnisbehörde durfte den Vorfall vom 01.09.2007 daher nicht zum Anlass für die Anordnung der Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens nehmen. Ist die Gutachtensanordnung nicht rechtmäßig, kann aus der Weigerung des Antragstellers, dieses Gutachten beizubringen, oder aus der Fristversäumung nicht der Schluss auf seine Ungeeignetheit zum Führen von Kraftfahrzeugen gezogen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung findet ihre Grundlage in §§ 63 Abs. 2, 47 sowie in § 53 Abs. 2 Nr. 2 und § 52 Abs. 1 und 2 GKG i.V.m. den Empfehlungen in Nrn. 1.5 und 46.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2004.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar.