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BGH Urteil vom 10.01.1995 - VI ZR 247/94 -Der Anscheinsbeweis spricht für die Unfallursächlichkeit alkoholbedingter absoluter Fahruntauglichkeit

BGH v. 10.01.1995: Der Anscheinsbeweis spricht für die Unfallursächlichkeit alkoholbedingter absoluter Fahruntauglichkeit


Der BGH (Urteil vom 10.01.1995 - VI ZR 247/94) hat entschieden:

   Absolute Fahruntüchtigkeit eines am Unfall beteiligten Kfz-Führers infolge Alkoholgenusses darf bei der Abwägung nach StVG § 17 nur berücksichtigt werden, wenn feststeht, dass sie sich in dem Unfall niedergeschlagen hat.

Siehe auch
Haftungsabwägung - Bildung der Mithaftungsquoten
und
Stichwörter zum Thema Alkohol>

Tatbestand:
Die Klägerin begehrt von den Beklagten den Ersatz ihres Sachschadens aus einem Verkehrsunfall, der sich am 15. April 1992 in S. ereignete. An diesem Tage bog die Klägerin gegen 18.45 Uhr mit ihrem PKW von der W.-Straße nach links in die für sie bevorrechtigte H.-Straße ein. Dabei kam es zum Zusammenstoß mit dem von rechts kommenden und vorfahrtberechtigten Beklagten zu 1), der mit dem bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversicherten PKW seiner Arbeitgeberin auf das Fahrzeug der Klägerin auffuhr. Eine dem Beklagten zu 1) um 20.22 Uhr entnommene Blutprobe ergab einen Blutalkoholgehalt von 1,16 Promille (GC) bzw. 1,18 Promille (ADH).

Das LG hat der auf Zahlung von 10.458,45 DM gerichteten Klage unter Berücksichtigung einer Mithaftung der Beklagten von einem Drittel in Höhe von 3.486,15 DM stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Berufungsgericht die Klage in vollem Umfange abgewiesen. Mit der zugelassenen Revision erstrebt die Klägerin die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils.





Entscheidungsgründe:

I.

Das Berufungsgericht, dessen Urteil in NZV 1995, 23 veröffentlicht ist, geht in Übereinstimmung mit den Parteien von einer Vorfahrtverletzung der Klägerin aus. Ein unfallursächliches Verschulden des Erstbeklagten vermag es dagegen nicht festzustellen. Dieser sei weder nachweisbar mit einer überhöhten Geschwindigkeit gefahren noch sei bewiesen, dass er verspätet oder falsch reagiert habe. Allerdings sei er infolge Alkoholgenusses absolut fahruntüchtig gewesen. Es bleibe jedoch offen, ob dies unfallursächlich geworden sei. Ein an die Trunkenheit anknüpfender Anscheinsbeweis für die Unfallursächlichkeit scheide im Hinblick auf das unfallursächliche und verkehrswidrige Verhalten der Klägerin aus.

Andererseits haben die Beklagten nach Auffassung des Berufungsgerichts nicht bewiesen, dass den Erstbeklagten als Fahrer des auffahrenden Fahrzeuges kein Verschulden an dem Unfall treffe. Dass die Fahruntüchtigkeit keinen Einfluss auf das Schadensereignis gehabt habe, stehe ebensowenig fest wie die Geschwindigkeit des Erstbeklagten und der Abstand zum Fahrzeug der Klägerin im Augenblick der Gefahrerkennung.

Die Schadenserwägung nach § 17 StVG führt nach Auffassung des Berufungsgerichts im Hinblick auf den in der Vorfahrtverletzung liegenden groben Verkehrsverstoß der Klägerin zu deren Alleinhaftung. Die alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit des Erstbeklagten habe außer Betracht zu bleiben. Sie könne im Rahmen der Abwägung nach §§ 17 StVG, 254 BGB nur dann betriebsgefahrerhöhend herangezogen werden, wenn sie sich nachweislich auf den Unfall ausgewirkt habe.



II.

Das Berufungsurteil hält den Angriffen der Revision stand.

1. Zu Recht nimmt das Berufungsgericht an, dass die Klägerin ihre Ansprüche nicht auf eine Einstandspflicht aus Verschulden des Erstbeklagten nach § 823 BGB stützen kann. Zwar hat der Beklagte zu 1) gegen das Verbot des Führens eines Kraftfahrzeuges im Zustand alkoholbedingter Fahruntüchtigkeit verstoßen. Jedoch kann die Klägerin daraus keine Schadensersatzansprüche herleiten, weil sie nicht hat nachweisen können, dass sich die Fahruntüchtigkeit in dem Unfall niedergeschlagen hat, ihre Schädigung also in einem für die Haftung erforderlichen Rechtswidrigkeitszusammenhang mit der Pflichtverletzung des Erstbeklagten steht.

Zutreffend geht das Berufungsgericht ferner davon aus, dass der Erstbeklagte als Fahrer des auffahrenden PKW der Klägerin nach § 18 StVG schadensersatzpflichtig ist, weil er den Beweis mangelnden Verschuldens nicht geführt hat. Dafür hat auch die Beklagte zu 2) einzustehen (§ 3 Nr. 1 PflVG).

2. Die Klägerin muss sich die von ihr begangene und unfallursächliche Vorfahrtverletzung schadensmindernd anrechnen lassen (§ 17 StVG). Auf Seiten der Beklagten fällt dagegen, wie das Berufungsgericht zu Recht angenommen hat, lediglich die Betriebsgefahr des auffahrenden Fahrzeuges ins Gewicht, für die der Erstbeklagte als Fahrer gemäß § 18 StVG einzustehen hat. Da nach ständiger Rechtsprechung bei der Schadensabwägung nur feststehende Umstände berücksichtigt werden dürfen (Senatsurteile vom 23. November 1965 - VI ZR 158/64 - VersR 1966, 164, 165; vom 7. Oktober 1966 - VI ZR 262/64 - VersR 1967, 132, 133 und vom 7. Juni 1988 - VI ZR 203/87 - VersR 1988, 842), hat die nach § 18 Abs. 1 Satz 2 StVG zur Haftung des Fahrers führende Schuldvermutung außer Betracht zu bleiben (Senatsurteile vom 19. Januar 1962 - VI ZR 78/61 - VersR 1962, 374, 375; vom 23. November 1965 aaO S. 165; vom 1. März 1966 - VI ZR 207/64 - VersR 1966, 585, 586 und vom 10. März 1970 - VI ZR 98/68 - VersR 1970, 441). Dagegen wendet sich die Revision auch nicht.

3. Ohne Rechtsirrtum hat das Berufungsgericht die Fahruntüchtigkeit des Erstbeklagten - obschon feststehend - hier bei der Schadensabwägung nicht zu Lasten der Beklagten herangezogen. Es entspricht ständiger Rechtsprechung des Senats, dass bei der Abwägung nach § 17 StVG nur solche Umstände Berücksichtigung finden können, die sich erwiesenermaßen auf den Unfall ausgewirkt haben (Urteil vom 19. Januar 1962 aaO S. 375; vom 23. November 1965 aaO S. 165; vom 1. März 1966 aaO S. 586; vom 10. März 1970 aaO S. 441). Dies gilt grundsätzlich auch für die alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit. Dass der Beklagte zu 1) infolge seiner Trunkenheit das Fahrzeug gar nicht erst führen durfte, ist insoweit ohne Belang. Maßgebend ist vielmehr, ob sich die Fahruntüchtigkeit als Gefahrenmoment in dem Unfall tatsächlich niedergeschlagen hat (Senatsurteil vom 1. März 1966 aaO S. 586; OLG Schleswig VersR 1975, 290; OLG Bamberg VersR 1987, 909; OLG Hamm (6. ZS) NZV 1994, 319; ebenso Berger VersR 1992, 168, 169; Greger, StVG 2. Aufl. § 17 Rdn. 50 a; Hentschel/Born, Trunkenheit im Straßenverkehr 6. Aufl. Rdn. 682; Jagusch/Hentschel, Straßenverkehrsrecht 32. Aufl. § 17 StVG Rdn. 11; Lange, Schadensersatz 2. Aufl. S. 616).

Den entgegenstehenden Entscheidungen der Oberlandesgerichte Celle (VersR 1988, 608) und Hamm - 27. ZS (NZV 1990, 393) vermag der Senat nicht zu folgen. Das Gesetz macht in § 17 StVG die Schadensersatzpflicht im Verhältnis der Beteiligten zueinander davon abhängig, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder anderen Teil verursacht worden ist. Damit bringt das Gesetz zum Ausdruck, dass in die Abwägung nur diejenigen Tatbeiträge eingebracht werden dürfen, die sich tatsächlich auf die Schädigung ausgewirkt haben. Die für die Abwägung maßgebenden Umstände müssen also feststehen, d.h. unstreitig, zugestanden oder nach § 286 ZPO bewiesen sein. Insoweit verhält es sich nicht anders als bei der Haftungsverteilung nach §§ 9 StVG, 254 BGB: auch dort müssen die Ursachenbeiträge des Geschädigten nach Grund und Gewicht bewiesen sein (Senatsurteile vom 15. November 1960 - VI ZR 30/60 - VersR 1961, 249, 250; vom 8. Januar 1963 - VI ZR 35/62 - VersR 1963, 285, 286; vom 23. November 1965 aaO S. 165; vom 29. November 1977 - VI ZR 51/76 - VersR 1978, 183, 185; Greger aaO § 9 StVG Rdn. 99 f.; Krumme/Steffen, Straßenverkehrsgesetz (1977) § 9 StVG Rdn. 10, jeweils m.w.N.). Nur vermutete Tatbeiträge oder die bloße Möglichkeit einer Schadensverursachung aufgrund geschaffener Gefährdungslage haben deswegen außer Betracht zu bleiben.

Zu Unrecht knüpfen demgegenüber die vorgenannten Entscheidungen der Oberlandesgerichte Celle und Hamm in diesen Fällen an die abstrakte Gefahrerhöhung, nämlich an die durch die alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit begründete Gefährdung an. Damit wird der Unterschied zwischen dem Haftungsgrund bei der Gefährdungshaftung (§§ 7, 18 StVG) und der Bestimmung der jeweiligen Haftungsanteile (§ 17 StVG) verkannt. Die von einem Kraftfahrzeug bei seinem Betrieb ausgehende Gefährdung bildet den Zurechnungsgrund für die Einstandspflicht des Halters nach § 7 StVG bzw. des Fahrers nach § 18 StVG, von der sie nur freigestellt werden, wenn sie den Beweis nach § 7 Abs. 2 StVG bzw. § 18 Abs. 1 S. 2 StVG führen. Anders verhält es sich dagegen, wenn die Haftung dem Grunde nach feststeht und es nunmehr um die Haftungsverteilung zwischen den an einem Unfall beteiligten Fahrzeughaltern bzw. -führern geht. In diesem Stadium müssen die Umstände, die das Gewicht der einzelnen Verursachungsbeiträge bestimmen und damit als betriebsgefahrerhöhende Faktoren den Haftungsanteil des jeweils anderen beeinflussen, bewiesen werden (zur Systematik vgl. Krumme/Steffen aaO § 17 StVG Rdn. 12 ff.; Berger aaO S. 169; Greger aaO § 17 Rdn. 50 f.; Jagusch/Hentschel aaO § 17 StVG Rdn. 1, 4, 21).

Hiervon kann im Fall absoluter Fahruntüchtigkeit nicht abgewichen werden. Andernfalls müssten auch andere Umstände (etwa überhöhte Geschwindigkeit, mangelnde Beleuchtung, Ermüdung und dgl.) ohne Rücksicht darauf, ob sie als gefahrerhöhender Moment im Unfall wirklich zum Tragen gekommen sind, im Rahmen der Abwägung nach § 17 StVG berücksichtigt werden. Das würde indes zu einer Haftungsverteilung nicht mehr nach Verursachungsanteilen, sondern nach bloßen Möglichkeiten einer Schadensentstehung führen.




Der Senat verkennt nicht, dass Trunkenheit im Bereich absoluter Fahruntüchtigkeit wegen der damit verbundenen Beeinträchtigung der Wahrnehmungs- und Reaktionsfähigkeit sowie der Gefahr von Fehleinschätzungen und -reaktionen eine erhebliche Gefährdung des Straßenverkehrs mit sich bringt (BGHSt 21, 157, 160 f.; 37, 89, 92 ff.; BGH, Urteil vom 9. Oktober 1991 - IV ZR 264/90 - VersR 1991, 1367). Solchen Gefährdungen kann jedoch in ausreichendem Maße durch Beweiserleichterungen zu Gunsten des Geschädigten Rechnung getragen werden. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs spricht der Beweis des ersten Anscheins für die Ursächlichkeit der Trunkenheit, wenn sich der Unfall in einer Verkehrslage und unter Umständen ereignet, die ein nüchterner Fahrer hätte meistern können (vgl. Senatsurteile vom 24. Januar 1956 - VI ZR 123/55 - VersR 1956, 195, 196; vom 20. Oktober 1964 - VI ZR 160/63 - VersR 1965, 81, 82; vom 1. März 1966 aaO S. 586 und fortlaufend).

Im Streitfall scheidet nach Auffassung des Berufungsgerichts mangels einer derartigen Verkehrslage ein an die Trunkenheit anknüpfender Anscheinsbeweis aus, weil der Klägerin eine Vorfahrtverletzung zur Last fällt. Das lässt keinen Rechtsfehler erkennen und wird von der Revision auch nicht angegriffen. Die Bewertung der Vorfahrtverletzung der Klägerin als groben Verkehrsverstoß und die daran anknüpfende Alleinhaftung der Klägerin lassen keinen Rechtsfehler erkennen. Auch wenn berücksichtigt wird, dass bei der Abwägung nach § 17 StVG zulasten der Klägerin ebenfalls nur ihr bewiesener Tatbeitrag bewertet werden darf, lag nach den Feststellungen des Berufungsgerichts keine Verkehrslage vor, die die Vorfahrtverletzung in einem milderen Licht erscheinen lässt.

III.

Nach alledem ergibt die Nachprüfung des Urteils aufgrund der Revisionsbegründung keinen Rechtsfehler zum Nachteil der Klägerin. Das Rechtsmittel ist daher mit der Kostenfolge aus § 97 Abs. 1 ZPO zurückzuweisen.

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