Das Verkehrslexikon

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OLG Saarbrücken Urteil vom 13.04.2010 - 4 U 425/09 - Zur fehlenden Anwendung des Anscheinsbeweises gegen Fußgänger bei unübersichtlicher Fahrbahn

OLG Saarbrücken v. 13.04.2010: Zur fehlenden Anwendung des Anscheinsbeweises gegen Fußgänger bei unübersichtlicher Fahrbahn


Das OLG Saarbrücken (Urteil vom 13.04.2010 - 4 U 425/09) hat entschieden:
Ereignet sich ein Verkehrsunfall in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Überqueren der Fahrbahn durch einen Fußgänger, so kann der Anscheinsbeweis dafür streiten, dass der Fußgänger unter Missachtung der Sorgfaltsanforderungen des § 25 Abs. 3 StVO ohne hinreichende Beachtung des Fahrzeugsverkehrs auf die Fahrbahn trat. Allerdings ist der Anscheinsbeweis erschüttert, wenn die Straße in der Annährungsrichtung des unfallbeteiligten Kraftfahrzeugs nur eingeschränkt eingesehen werden kann und die Möglichkeit besteht, dass der Kraftfahrer bei Beginn der Überquerung noch nicht wahrgenommen werden konnte.


Gründe:

I.

Im vorliegenden Rechtsstreit nimmt der Kläger den Beklagten aufgrund eines Verkehrsunfalls, welcher sich am 24.8.2007 gegen 17:15 Uhr auf der L 157 ereignete, auf Schadensersatz in Anspruch. Der Kläger befuhr mit seinem Motorrad der Marke Suzuki GSX R 1000 mit dem amtlichen Kennzeichen …-...-… die Landstraße von W. in Richtung R.. Die Unfallörtlichkeit liegt aus der Fahrtrichtung des Klägers in einer lang gezogenen Linkskurve; etwa 100 m vor der Unfallörtlichkeit ist die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf 50 km/h herabgesetzt. Im Bereich der Unfallstelle mündet aus Richtung des Klägers gesehen von links der Weg „“ in die Landstraße ein, der sich rechts von der Landstraße in die Zufahrt zum B. Kapellchen verlängert.

Der Beklagte war mit dem Zeugen B., seinem Vater, auf der Straße „“ unterwegs und wollte die L 175 überqueren. Standort und Verhalten des Beklagten im Zeitpunkt der Annäherung des Klägers stehen zwischen den Parteien im Streit. Unstreitig bremste der Kläger sein Motorrad stark ab, stürzte, fiel vom Motorrad und rutschte beziehungsweise schleuderte weiter, bis er – ohne den Beklagten oder dessen Fahrrad zu berühren – an einer Böschung rechts der Fahrbahn zum Stillstand kam. Der Kläger wurde verletzt. An dem Motorrad entstand Sachschaden.

Der Kläger hat behauptet, sein Motorrad mit angepasster und zulässiger Geschwindigkeit geführt zu haben. Er habe den Beklagten erstmals wahrgenommen, als dieser sein Fahrrad aus Richtung des Klägers von links über die Landstraße geschoben habe. Der Beklagte habe sich zu diesem Zeitpunkt zügig gehend etwa im Bereich der Mittellinie befunden. Hätte der Beklagte die Überquerung in bisheriger Weise zügig fortgesetzt, so hätte er die Fahrbahn längst geräumt gehabt, bevor der Kläger den Kreuzungsbereich erreicht hätte.

Nunmehr sei der Beklagte jedoch unvermittelt auf der rechten Fahrbahn mittig stehen geblieben, wobei er mit seinem Fahrrad die Fahrspur des Klägers zum überwiegenden Teil versperrt habe. Als der Kläger das ungewöhnliche und unerwartete Verhalten des Beklagten wahrgenommen habe, habe er sein Motorrad sofort stark abgebremst. Hierbei sei er gestürzt.

Der Kläger hat die Erstattung des an seinem Motorrad entstandenen Sachschadens, den er in Gestalt des Wiederbeschaffungsaufwandes unter Berücksichtigung eines Wiederbeschaffungswertes von 9.900 EUR abzüglich darin enthaltener Umsatzsteuer in Höhe von 198 EUR und eines Restwerts von 4.135 EUR mit 5.567 EUR beziffert. Darüber hinaus hat der Kläger die Freistellung von Gutachterkosten in Höhe von 883,81 EUR sowie die Zahlung einer Kostenpauschale in Höhe von 26 EUR erstrebt. Schließlich hat der Kläger den Beklagten auf Erstattung außergerichtlicher Anwaltskosten in Anspruch genommen.

Der Kläger hat beantragt,
  1. den Beklagten zu verurteilen, an den Kläger 5.593 EUR nebst Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 13.9.2007 sowie außergerichtliche Anwaltskosten in Höhe von 603,93 EUR zu zahlen;

  2. den Beklagten weiterhin zu verurteilen, ihn von der Inanspruchnahme durch den Kfz-Sachverständigen A. L., (richtig: …), , zum Aktenzeichen ~7 (richtig: ~7) mit Gutachterkosten in Höhe von 883,81 EUR nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 13.9.2007 freizustellen.
Dem ist der Beklagte entgegengetreten. Der Beklagte hat behauptet, er habe mit dem Zeugen B. an der Kreuzung angehalten, um sich zu vergewissern, ob die Fahrbahn frei sei. Hierbei habe der Beklagte fahrbereit auf seinem Fahrrad gesessen und einen Fuß auf der Straße abgestellt. Nachdem er sich durch einen Blick in den aufgestellten Verkehrsspiegel vergewissert gehabt habe, dass die Straße frei gewesen sei, habe er als Erster fahrend die Landstraße überquert. Er sei bereits vollständig auf der anderen Straßenseite gewesen, als er plötzlich einen lauten Knall gehört habe. Er sei stehen geblieben, habe nach rechts geschaut und gesehen, wie von rechts ein fahrerloses Motorrad von der Landstraße über den Asphalt beziehungsweise den Grünstreifen auf ihn zu geschleudert sei. Offensichtlich sei der Kläger mit weit überhöhter Geschwindigkeit gefahren und sei in der Linkskurve zu weit nach rechts auf den Grünstreifen geraten, wo er die Kontrolle über sein Motorrad verloren habe und gestürzt sei.

Das Landgericht hat der Klage unter Klageabweisung im Übrigen auf der Grundlage einer 75-prozentigen Haftung des Beklagten stattgegeben. Es ist zu der Überzeugung gelangt, dass die Unfallschilderung des Klägers zutreffend sei. Auf der Grundlage dieser Unfallschilderung sei dem Beklagten ein fahrlässiger Verstoß gegen § 25 Abs. 3 StVO vorzuwerfen. Demgegenüber sei nicht bewiesen, dass der Kläger die vorgeschriebene Geschwindigkeit nicht eingehalten habe. Die Berücksichtigung der Betriebsgefahr des klägerischen Motorrads rechtfertige einen 25-prozentigen Abschlag. Auf den Inhalt der angefochtenen Entscheidung wird auch hinsichtlich der darin enthaltenen Feststellungen gemäß § 540 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 ZPO Bezug genommen.

Mit seiner hiergegen gerichteten Berufung erstrebt der Beklagte die vollständige Abweisung der Klage. Er wendet sich ausschließlich gegen die Haftungsverteilung des Landgerichts und vertritt die Auffassung, das Landgericht sei unter rechtsfehlerhafter Würdigung des Beweisergebnisses zu der Überzeugung gelangt, dass die Unfallschilderung des Klägers der Wahrheit entspreche. Es widerspreche jeder Lebenserfahrung, dass der Zeuge B. seinen Sohn über die Straße geschickt habe, obwohl sich ein Fahrzeug aus Richtung W. genähert habe. Auch sei das Landgericht rechtsfehlerhaft zu dem Ergebnis gelangt, dass eine Überschreitung der vorgeschriebenen Höchstgeschwindigkeit durch den Kläger nicht bewiesen sei. Der Sachverständige Dr. P. habe nachgewiesen, dass die Geschwindigkeit mindestens bei 65 km/h gelegen habe. Für die Annahme des Landgerichts, wonach die Geschwindigkeit auch unter 65 km/h gelegen haben könne, fänden sich keine Anhaltspunkte. Die lediglich theoretische Möglichkeit, dass der Kläger auch bei Einhaltung einer Geschwindigkeit von 50 km/h zu Fall gekommen wäre, werde nicht durch objektive Anhaltspunkte belegt. Soweit das Landgericht die Auffassung vertreten habe, dass es dem Kläger nicht angelastet werden könne, wenn er sich in einer plötzlich auftretenden Gefahrenlage nicht so verhalte, wie es sich bei nachträglicher Betrachtungsweise als zweckmäßig herausstelle, verkenne das Gericht, dass sich die Unfallstelle in einem ausdrücklich gekennzeichneten Gefahrenbereich "kurvenreiche Strecke“, „landwirtschaftlicher Verkehr kreuzt“ und „gefährliches Gefälle“ befinde. Folglich müsse ein Verkehrsteilnehmer in der Fahrsituation des Klägers mit plötzlich auftretenden Gefahren rechnen und seine Fahrweise entsprechend anpassen. Wenn der Kläger in einer solchen Situation trotz Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit die Kontrolle über sein Motorrad verloren habe, dann müsse davon ausgegangen werden, dass der Kläger entweder unaufmerksam oder nicht in der Lage gewesen sei, sein Kraftrad sicher zu führen. Der Umstand, dass der Kläger ohne unmittelbare Einwirkung während des Bremsvorgangs sein Motorrad nicht unter Kontrolle habe halten können und gestürzt sei, lasse darauf schließen, dass der Kläger beim Einfahren in die Linkskurve einen Fahrfehler begangen habe.

Der Beklagte beantragt,
unter Abänderung des Urteils des Landgerichts Saarbrücken vom 15.7.2009 – 9 O 81/08 – die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.
Der Kläger verteidigt die angefochtene Entscheidung und vertieft seinen erstinstanzlichen Prozessvortrag. Der Kläger vertritt die Auffassung, das Landgericht sei unter verfahrensfehlerfreier Würdigung der Beweise zu der Überzeugung gelangt, dass die Aussagen des Zeugen B. und des Beklagten nicht glaubhaft seien. Auch habe der Sachverständige eine Geschwindigkeitsüberschreitung durch den Kläger nicht festgestellt, sondern er sei lediglich zu der Auffassung gelangt, dass die wahrscheinliche Geschwindigkeit bei Einleitung der Bremsverzögerung zwischen 65 und 102 km/h gelegen habe.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Berufungsbegründung vom 26.10.2009 (Bl. 169 ff. d. A.) und der Berufungserwiderung vom 12.11.2009 (Bl. 178 ff. d. A.) Bezug genommen. Hinsichtlich des Ergebnisses der mündlichen Verhandlung wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 16.3.2010 (Bl. 192 f.) verwiesen.


II.

A.

Die zulässige Berufung bleibt überwiegend ohne Erfolg: Soweit das Landgericht zu dem Ergebnis gelangt ist, dass der Beklagte dem Kläger gemäß § 823 Abs. 1,2 BGB wegen eines fahrlässigen Verstoßes gegen die Verkehrsvorschrift des § 25 Abs. 3 StVO zum Ersatz des aus dem Verkehrsunfall entstandenen Sachschadens verpflichtet ist, hält die angefochtene Entscheidung den Angriffen der Berufung im Ergebnis stand. Allerdings ist bei der Haftungsabwägung nach § 254 Abs. 1 BGB neben der Betriebsgefahr des Motorrades auch eine Geschwindigkeitsüberschreitung des Klägers von 15 km/h zu gewichten, weshalb eine Haftungsquote von 2/3 zu 1/3 zu Gunsten des Klägers festzusetzen war.

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts geriet der Kläger deshalb zu Fall, weil er dem mitten auf der Fahrbahn stehenden Beklagten ausweichen wollte. Diese Feststellungen binden den Senat im eingeschränkten Prüfungsmaßstab des § 529 ZPO, da sie verfahrensfehlerfrei getroffen wurden und keine konkreten Anhaltspunkte ersichtlich sind, die Zweifel an ihrer Richtigkeit wecken.

a) Das Landgericht hat in der Beweiswürdigung eingehend und überzeugend dargelegt, weshalb es dem Klägervortrag gefolgt ist. Wesentlich ist hierbei, dass der Sachverständige Dr. P. in erheblicher Entfernung vom rechten Fahrbahnrand Kratz- und Schleuderspuren auf der Fahrbahn sicherte. Dieses Spurenbild wäre nicht zu erwarten, wenn der Kläger – so die Darstellung des Beklagten und des Zeugen B. – wegen Überschreitung der Geschwindigkeit rechts aus der Linkskurve getragen worden wäre. Hingegen steht das Spurenbild mit der Darstellung des Klägers in Einklang, er sei infolge einer Vollverzögerung gestürzt. Für dieses Fahrmanöver bestand ein nachvollziehbarer Anlass, wenn der Beklagte mitten auf der rechten Fahrbahn stehen blieb und dem Kläger die Weiterfahrt versperrte.

b) Sodann hat sich das Landgericht eingehend damit auseinandergesetzt, dass die schriftsätzliche Darstellung des Beklagten in auffallender Weise von der Verkehrsunfallanzeige abweicht:

Der am 22.9.2007 verfasste Unfallbericht im beigezogenen Ordnungswidrigkeitenverfahren des Landkreises M./W. deckt sich mit der klägerischen Darstellung. Auf Seite 2 beschreibt der Bericht, dass beide Radfahrer vom Rad abgestiegen seien, um die Fahrbahn zu überqueren. Als Grund für dieses Absteigen wird angegeben, dass die Landstraße insbesondere nach rechts schwer einzusehen gewesen sei. Bevor der Beklagte die Fahrbahn überquert gehabt habe, habe er ein Geräusch von rechts gehört und sei stehen geblieben. Im gleichen Augenblick sei auch schon das Motorrad vor ihm vorbei in die Böschung geflogen.

Es ist kein Anhaltspunkt dafür ersichtlich, dass die in der polizeilichen Unfallaufnahme geschilderte Sachverhaltsdarstellung nicht auf den damaligen Angaben der Unfallbeteiligten beruht. Auch die Berufungsbegründung zeigt keine Umstände auf, die geeignet sind, die Widersprüche anders zu gewichten, als dies das Landgericht getan hat: Nach anerkannten Rechtsgrundsätzen ist auch der Prozessvortrag in die Beweiswürdigung einzubeziehen, der insbesondere dann Beweisrelevanz besitzt, wenn sich die Partei in Widersprüche verstrickt, die einen Verstoß gegen die prozessuale Wahrheitspflicht nahelegen (BGH, Urt. v. 12.12.2001 – X ZR 141/00, NJW 2002, 1276; Urt. v. 24.2.2000 – I ZR 141/97, GRUR 2000, 866 – Programmfehlerbeseitigung; Urt. v. 5.7.1995 – KZR 15/94, GRUR 1995, 700, 701).

2. Allerdings ist mit dem Nachweis des äußeren Unfallhergangs noch nicht zugleich bewiesen, dass der Beklagte schuldhaft gegen die Sorgfaltsanforderungen des § 25 Abs. 3 StVO verstieß:

a) Ein Verstoß gegen § 25 Abs. 3 StVO kommt zunächst dann in Betracht, wenn der Beklagte ohne hinreichende Beachtung des von rechts nahenden Straßenverkehrs auf die Landstraße trat. Hiergegen wendet die Berufung des Beklagten ein, dass die Straße frei gewesen sei, als er zum Überqueren angesetzt habe. Soweit das Landgericht die Feststellungen vom Vorliegen dieses Sorgfaltverstoßes auf die Grundsätze des Anscheinsbeweises gestützt hat, begegnet die angefochtene Entscheidung durchgreifenden Bedenken. Im Ergebnis beruht die Entscheidung jedoch nicht darauf:

aa) Der Anscheinsbeweis erlaubt bei typischen Geschehensabläufen den auf der Lebenserfahrung beruhenden Schluss, dass ein Ereignis auf einer bestimmten Ursache oder einem bestimmten Ablauf beruht (st. Rspr. BGHZ 100, 31, 33; vgl. BGH, Urt. v. 29.6.1982 – VI ZR 206/80, NJW 1982, 2447, 2448; Urt. v. 22.9.1982 – VIII ZR 246/81, VersR 1982, 1145). Die Anknüpfungstatsachen des Erfahrungssatzes müssen entweder unstreitig oder nach Maßgabe des § 286 ZPO bewiesen sein. Jedoch steht der durch den Anscheinsbeweis bewiesene Zusammenhang nicht unverrückbar fest. Hierbei ist der Gegenbeweis nicht erst dann geführt, wenn ein atypischer Unfallverlauf in einer den Anforderungen des § 286 ZPO entsprechenden Weise feststeht. Vielmehr kann der Gegner die auf dem Erfahrungssatz beruhende Schlussfolgerung bereits dann erschüttern, wenn aufgrund erwiesener Tatsachen die Möglichkeit besteht, dass sich der Unfall durch einen atypischen Verlauf ereignet haben kann (BGHZ 6, 169, 170; Urt. v. 17.1.1995 – X ZR 82/93, VersR 1995, 723, 724; Urt. v. 3.7.1990 – VI ZR 239/89, NJW 1991, 230, 231; vgl. Zöller/Greger, ZPO, 27. Aufl., vor § 284 Rdnr. 29; MünchKomm(ZPO)/Prütting, 3. Aufl., § 286 Rdnr. 48 ff., 65; Stein/Jonas/Leipold, ZPO, 21. Aufl., § 286 Rdnr. 87 ff., 98; Prütting/Gehrlein/Laumen, ZPO, § 286 Rdnr. 28).

bb) Diese Einschränkung der beweisrechtlichen Aussagekraft des vom Landgericht herangezogenen Erfahrungssatzes kommt im zur Entscheidung stehenden Sachverhalt zum Tragen: Es gibt in Gestalt der besonderen Gegebenheiten der Örtlichkeit und unter Berücksichtigung des Ergebnisses der Begutachtung durch den Sachverständigen Dr. P. hinreichend konkrete Anhaltspunkte, die den vom Beklagten im Berufungsrechtszug vorgetragenen Sachvortrag zumindest als möglich erscheinen lassen:

Die Örtlichkeit ist aus der Bewegungsrichtung des Beklagten nach rechts nicht übersichtlich. Die Landstraße beschreibt eine Linkskurve und ist von einem Verkehrsteilnehmer, der im Bereich der Straße „“ am linken Fahrbahnrand steht, nach den Feststellungen des Sachverständigen Dr. P. unter Benutzung des Straßenspiegels in einer Tiefe von circa 140 m einzusehen (Bl. 86 d. A.). Der Sachverständige gelangte unter Auswertung des vorgefundenen Spurenbildes zu der Einschätzung, dass die Ausgangsgeschwindigkeit zwischen 65 und 102 km/h gelegen haben könnte. Legt man eine mittlere Geschwindigkeit von 80 km/h zu Grunde, so hätte der Kläger für das Zurücklegen einer Strecke von 140 m nur zirka 6 Sekunden gebraucht. Dies entspricht in etwa der Zeit, die der Beklagte benötigte, um die Straße zu überqueren. Nach dem im Berufungsrechtszug unstreitigen Vortrag hatte der Beklagte bis zur vollständigen Überquerung der Straße bei der von ihm gewählten Bewegungsrichtung 10,5 m zurückzulegen. Bei einer zu unterstellenden durchschnittlichen Geschwindigkeit eines Fußgängers von 1,6 m/s, kann es durchaus so gewesen sein, dass die Landstraße bei Beginn der Überquerung aus Sicht des Beklagten frei war. Dies gilt erst recht, wenn sich die Geschwindigkeit des Klägers dem oberen vom Sachverständigen festgesetzten Grenzwert näherte.

b) Allerdings schöpfen die bisherigen Erwägungen die Sorgfaltsanforderungen des § 25 Abs. 3 StVO nicht aus: Ein die Fahrbahn überquerender Fußgänger darf sich nicht darauf beschränken, den fließenden Verkehr, gegenüber dem der Fußgänger wartepflichtig ist, bei Einleitung der Überquerung zu beobachten. Er ist spätestens ab der Straßenmitte gehalten, erneut nach rechts zu blicken, um sich zu vergewissern, ob ein gefahrloses Voranschreiten möglich ist (Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 40. Auflage, § 25 StVO Rdnr. 36). Diese Sorgfaltsanforderungen hat der Beklagte nicht erfüllt.

aa) Dem schriftsätzlichen Sachvortrag des Beklagten ist nicht zu entnehmen, dass der Beklagte dieser erneuten Umschaupflicht nachkam. Unter Zugrundelegung der Sachverhaltsschilderung des Beklagten im Termin vom 10.12.2008 erscheint es geradezu ausgeschlossen, dass der Beklagte in der Mitte der Fahrbahn erneut Umschau hielt: Der Beklagte hat angegeben, er habe das herannahende Motorrad erst im letzten Augenblick wahrgenommen, als das Motorrad schon an ihm „vorbei geflogen“ sei (Bl. 59 d. A.). Hätte sich der Beklagte zuvor nach rechts in der gebotenen Weise umgeblickt, so hätte er das Motorrad nach den Gegebenheiten der Örtlichkeit nicht erst im letzten Moment bemerkt.

bb) Hinzu kommt folgende Erwägung: Aus der maßstabsgetreuen Skizze des Gutachtens ist zu ersehen, dass die Straße eine Breite von circa 7,20 m hat. Demnach hatte der an der Mittellinie befindliche Beklagte bei Einhaltung des gebotenen kürzesten Weges bis zur anderen Straßenseite nur noch 3,60 m zurückzulegen. Für diese Strecke hätte der Beklagte allenfalls circa 2 Sekunden benötigt. Selbst wenn der Kläger mit 100 km/h gefahren wäre, die Sicht des Beklagten nach rechts auch an der Mittellinie nicht weiter als 140 m betragen hätte und sich der Kläger gerade noch außerhalb des Sichtbereichs befunden hätte, so hätte der Beklagte die restliche Strecke bequem und ohne Gefährdung des Klägers zurückgelegen können: Dieser hätte im Zeitintervall von circa 2,25 Sekunden nur 62,5 m zurückgelegt und wäre bei Abschluss der Straßenüberquerung noch circa 37,50 m vom Standort des Beklagten entfernt gewesen. Diese Berechnungen bestätigen, dass der Beklagte seiner an der Mittellinie gebotenen Umschau nicht nachgekommen sein kann.

3. Mit Erfolg wendet sich die Berufung allerdings gegen die Feststellung des Landgerichts, dass dem Kläger bei der Haftungsabwägung nach § 254 Abs. 1 BGB außer der Betriebsgefahr des von ihm gehaltenen und zum Unfallzeitpunkt gefahrenen Motorrads (zur Anrechnung der Betriebsgefahr im Rahmen der deliktischen Haftung: vgl. BGH, Urt. v. 17.11.2009 – VI ZR 64/08, VersR 2010, 268 ff.) kein Mitverschulden angelastet werden könne: Das Landgericht hat hinsichtlich des Nachweises eines Verstoßes gegen die vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h (§ 41 Abs. 2 Nr. 7 StVO) die Beweisanforderungen des § 286 ZPO überspannt:

a) Der Sachverständige Dr. P. ist unter Auswertung der an der Unfallstelle gesicherten Spurenzeichnung und unter Berücksichtigung des Umstandes, dass die tatsächliche Bremsverzögerung des Motorrades mit Blick auf das nicht feststehende Bremsverhalten zwischen 3,0 und 9,0 m/s² gelegen haben konnte, zu dem Ergebnis gelangt, dass der Kläger mit einer Ausgangsgeschwindigkeit zwischen 65 und 102 km/h gefahren sei. Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger langsamer als 65 km/h fuhr, sind dem Gutachten nicht zu entnehmen. Letztlich bietet auch das Ergebnis der persönlichen Anhörung des Klägers keine Handhabe, um die Richtigkeit der Ausführungen des Sachverständigen in Zweifel zu ziehen: Der Kläger hat vorgetragen, er könne sich zu seiner exakten Geschwindigkeit nicht äußern. Überdies war in Anbetracht der erheblichen Motorisierung seines Kraftrades (146 kW) eine Überschreitung der vorgeschriebenen Geschwindigkeit leicht möglich.

b) Dieser nachgewiesene Verkehrsverstoß hätte bei der Haftungsabwägung nur dann außer Betracht bleiben dürfen, wenn die Kausalität des Sorgfaltverstoßes zweifelhaft erschiene. Diesen Weg hat das Landgericht wohl beschreiten wollen, indem es auf LGU Seite 10 ausgeführt hat, es sei nach den Ausführungen des Sachverständigen letztlich auch denkbar, dass es bei einer Geschwindigkeit von 50 km/h zu einem Sturz gekommen wäre. Diese Feststellungen binden den Senat nicht, da sie bei der gebotenen Würdigung aller Faktoren erfahrungswidrig erscheinen: Ein besonnener, hinreichend geübter Motorradfahrer, der 50 km/h gefahren wäre, hätte die Gefahr ohne Sturz beherrscht. Im Einzelnen ist auszuführen:

Der Sachverständige hat auf Seite 23 seines Gutachtens den Anhalteweg eines Motorrades aus einer Geschwindigkeit von 50 km/h bei Betätigung beider Bremsen und ohne erhöhte Sturzgefahr unter Zugrundelegung einer Bremsverzögerung von 5 m/s² mit 31,80 m errechnet. Aus der Skizze des Gutachtens ist zu ersehen, dass der Kläger bei Einleitung der Bremsung (dem Beginn der Reifenblockierspur) gut 53 m vom Schnittpunkt der Bewegungsrichtungen entfernt war. Folglich hätte der Kläger bei Einhaltung der vorgeschriebenen Geschwindigkeit den vom Sachverständigen errechneten Anhalteweg noch erheblich überschreiten können. Bei dieser Sachlage kann die lediglich theoretische Möglichkeit, dass ein zu Überreaktionen neigender, im Umgang mit Motorrädern nicht hinreichend erfahrener Fahrer auch bei der Einhaltung der vorgeschriebenen Geschwindigkeit von 50 km/h möglicherweise zu Fall gekommen wäre, der Kausalität des nachgewiesenen Geschwindigkeitsverstoßes nicht entgegengehalten werden. Es gibt keine konkreten Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger kein hinreichend erfahrener Motorradfahrer war. Letztlich könnte sich der Kläger mit dem Hinweis auf eine fehlende Erfahrung im Umgang mit schweren Motorrädern im Rahmen der Abwägung der Mitverschuldensanteile nach § 254 Abs.1 BGB nicht entlasten. Denn es stellt eine eigenständig zu würdigende Missachtung der in eigenen Angelegenheiten zu wahrenden Sorgfalt dar, wenn sich der Kläger dazu entschlossen hätte, ein so schweres Motorrad ohne hinreichende Fahrpraxis zu führen.

4. Bei der Gewichtung der beiderseitigen Verursacherbeiträge ist eine Haftungsquote von zwei Drittel zu einem Drittel zu Gunsten des Klägers angemessen: Der Verstoß gegen die Sorgfaltsanforderungen des § 25 Abs. 3 StVO wiegt schwerer als die nachgewiesene Geschwindigkeitsüberschreitung von lediglich 15 km/h. Auch muss die Haftungsquote zum Ausdruck bringen, dass es der Beklagte war, der durch sein Verhalten die eigentliche Gefahrenlage schuf.

5. Gegen die Berechnung der Schadenshöhe erhebt die Berufung keine Einwendungen:

a) Aus den zutreffenden Gründen der angefochtenen Entscheidung steht dem Kläger gemäß § 249 Abs. 2 S. 1 BGB als Sachschadensersatz in Höhe des Nettowiederbeschaffungsaufwandes ein Anspruch auf Geldentschädigung zu. Zwar ist es nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH, Urt. v. 9.5.2006 – VI ZR 225/05, NJW 2006, 2181) nicht zulässig, bei der Berechnung des Wiederbeschaffungswertes den Umsatzsteueranteil unter Zugrundelegung des regelmäßigen Steuersatzes von 19% und des Differenzumsatzsteuersatzes von 2% zu mitteln. Stattdessen ist eine empirische Schätzung vorzunehmen, wie Gebrauchtfahrzeuge der konkreten Art im Regelfall angeboten werden. Allerdings erheben die Parteien gegen die Schadensschätzung des Wiederbeschaffungsaufwandes keine Bedenken, weshalb sich der Senat im Rahmen der nach § 287 ZPO gebotenen Sachverhaltsaufklärung nicht zu weitergehenden Tatsachenfeststellungen veranlasst sieht. Bei einem Wiederbeschaffungsaufwand von 5.567 EUR verbleibt unter Berücksichtigung der Haftungsquote ein Schadensersatz von 3.711,33 EUR.

b) Darüber hinaus steht dem Kläger dem Grunde nach ein Anspruch auf Freistellung von den entstandenen Sachverständigenkosten und auf Zahlung der Schadenspauschale zu (nach der Rspr. des Senats: 25 EUR), deren Höhe auf der Grundlage der Feststellungen des Landgerichts an die geänderte Quote anzupassen war (16,67 EUR). Der Anspruch auf Freistellung von vorprozessualen Rechtsanwaltskosten war ausgehend von der Höhe der berechtigten Forderung (3.728 EUR + 589,20 EUR) unter Anwendung von §§ 13, 14 RVG nach Maßgabe der zutreffenden Berechnungsgrundlagen der landgerichtlichen Entscheidung zu ermitteln. Der Zinsanspruch folgt aus Verzugsgesichtspunkten.


B.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 708 Nr. 10, § 713 ZPO. Die Revision war nicht zuzulassen, da die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung besitzt und weder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung noch die Fortbildung des Rechts eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordert (§ 543 Abs. 2 ZPO).



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