Das Verkehrslexikon

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Kammergericht Berlin Urteil vom 24.01.2002 - 12 U 4324/00 - Zur Haftung des in eine Vorfahrtstraße Einbiegenden, der noch nicht die für die Vorfahrtstraße übliche Normalgeschwindigkeit erreicht hat

KG Berlin v. 24.01.2002: Zur Haftung des in eine Vorfahrtstraße Einbiegenden, der noch nicht die für die Vorfahrtstraße übliche Normalgeschwindigkeit erreicht hat


Das Kammergericht Berlin (Urteil vom 24.01.2002 - 12 U 4324/00) hat entschieden:
  1. Ein Erfahrungssatz des Inhalts, dass Personen, die überwiegend in einer bestimmten Art und Weise am Straßenverkehr teilnehmen (als Pkw-Fahrer, als Lkw-Fahrer, als Kradfahrer, als Radfahrer oder als Fußgänger) sich im Fall eines Unfalls im Zweifel mit demjenigen Unfallbeteiligten solidarisieren, der in derselben Art und Weise wie sie am Straßenverkehr teilnimmt, ist dem Gericht nicht bekannt.

  2. Nach dem Verlassen des Kreuzungsbereichs ist das Vorfahrtrecht des Berechtigten verbraucht. Insbesondere erstreckt sich das Vorfahrtsrecht aus § 8 StVO nicht auf Wendemanöver, die in einem Bereich 20 m hinter der Kreuzung bzw. dem Einmündungsbereich der wartepflichtigen Straße durchgeführt werden. Für diese gilt vielmehr die Vorschrift des § 9 Abs. 5 StVO.



Siehe auch Stichwörter zum Thema Vorfahrt und Zeugen - Zeugenbeweis


Gründe:

(ohne Tatbestand)

1. Die zulässige Berufung der Klägerin hat in der Sache keinen Erfolg, weil das angefochtene Urteil richtig ist und auch das Vorbringen in der Berufung keine andere Entscheidung rechtfertigt. Das Gericht folgt den zutreffenden Gründen der angefochtenen Entscheidung (§ 543 Abs. 1 ZPO). Im Hinblick auf das Vorbringen in der Berufung weist es ergänzend auf Folgendes hin:

a) Die Angriffe der Klägerin gegen die Beweiswürdigung des Landgerichts greifen nicht durch.

aa) § 286 ZPO fordert den Richter auf, nach seiner freien Überzeugung zu entscheiden. Dies bedeutet, dass er lediglich an Denk- und Naturgesetze, an Erfahrungssätze sowie ausnahmsweise gesetzliche Beweisregeln gebunden ist, ansonsten aber die im Prozess gewonnenen Erkenntnisse nach seiner individuellen Einschätzung bewerten darf; so darf er beispielsweise einer Partei mehr glauben als einem beeideten Zeugen oder trotz mehrerer bestätigender Zeugenaussagen das Gegenteil einer Beweisbehauptung feststellen (vgl. Zöller/Greger, ZPO, 22. Aufl., § 286 Rdn. 13).

Das Gericht ist andererseits aber auch verpflichtet, den ihm gewährten Freiraum auszuschöpfen und alle Erkenntnisquellen der Beweiswürdigung (Parteivortrag, Prozessverhalten, Ergebnis der Beweisaufnahme, Erfahrungssätze sowie beigezogene Akten und Unterlagen) im Rahmen einer Gesamtschau zu würdigen; die unvollständige Beweiswürdigung verstößt gegen § 286 ZPO (BGH NJW 1998, 3197, 3198).

Ferner sind die leitenden Gründe und wesentliche Gesichtspunkte für die Überzeugungsbildung nachvollziehbar und widerspruchsfrei im Urteil darzustellen (BGH NJW 1991, 1894).

bb) Gegen diese Grundsätze hat das Landgericht im angefochtenen Urteil nicht verstoßen. Das Gericht schließt sich der Beweiswürdigung des Landgerichts an. Insbesondere können Zweifel an der Richtigkeit der Aussage des Zeugen M nicht, wie die Klägerin meint, damit begründet werden, der Zeuge habe sich in seiner Eigenschaft als Motorradfahrer mit dem Beklagten zu 1), der bei dem Unfall ebenfalls ein Motorrad geführt hatte, unbewusst solidarisiert. Ein Erfahrungssatz des Inhalts, dass Personen, die überwiegend in einer bestimmten Art und Weise am Straßenverkehr teilnehmen (als Pkw-Fahrer, als Lkw-Fahrer, als Kradfahrer, als Radfahrer oder als Fußgänger) sich im Fall eines Unfalls im Zweifel mit demjenigen Unfallbeteiligten solidarisieren, der in derselben Art und Weise wie sie am Straßenverkehr teilnimmt, ist dem Gericht nicht bekannt. Auch der Umstand, dass der Zeuge M bei seiner Vernehmung durch das Landgericht bekundet hat, er selbst habe als Motorradfahrer bereits zweimal ähnliche Unfälle erlebt und sei dabei verletzt worden, ist nicht geeignet, Zweifel an der Richtigkeit seiner Aussage zu begründen.

b) Der Klägerin kann auch nicht darin gefolgt werden, wenn sie meint, es läge eine Vorfahrtsverletzung seitens des Beklagten zu 1) vor, so dass gegen diesen der Beweis des ersten Anscheins spräche, den Unfall durch eine Vorfahrtsverletzung verschuldet zu haben.

aa) Der Wartepflichtige ist nach § 8 Abs. 2 StVO verpflichtet, durch sein Verhalten, insbesondere durch mäßige Geschwindigkeit erkennen zu lassen, dass er warten wird. Er darf nur weiter fahren, wenn er übersehen kann, dass er den, der die Vorfahrt hat, weder gefährdet noch wesentlich behindert. Diese Pflichten hat der Beklagte zu 1) unstreitig erfüllt. Er hat im Einmündungsbereich der M-Straße in die U-Straße gewartet und die Klägerin mit ihrem Pkw Opel Astra den Einmündungsbereich ungehindert passieren lassen. Nachdem die Beklagte den Einmündungsbereich der M-Straße verlassen hatte und ihr Fahrzeug, wie sie im Bußgeldverfahren mit Schriftsatz vom 31. März 1999 hat vortragen lassen, sich etwa 20 m hinter der Einmündung befand, war das Vorfahrtsrecht der Klägerin gleichsam "verbraucht". Insbesondere erstreckt sich das Vorfahrtsrecht aus § 8 StVO nicht auf Wendemanöver, die in einem Bereich 20 m hinter der Kreuzung bzw. dem Einmündungsbereich der wartepflichtigen Straße durchgeführt werden. Für diese gilt vielmehr die Vorschrift des § 9 Abs. 5 StVO.

bb) Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der von der Klägerin zitierten Rechtsprechung zur Frage des Anscheinsbeweises zwischen einem die Vorfahrtstraße befahrenden Fahrzeug und einem Fahrzeug, das aus einer untergeordneten Straße eingebogen ist, wenn sich der Unfall außerhalb des Einmündungsraumes ereignet. Diese Rechtsprechung besagt, dass dann, wenn das wartepflichtige Fahrzeug zum Unfallzeitpunkt noch nicht die auf der Vorfahrtstraße allgemein eingehaltene Geschwindigkeit erreicht hat, der Beweis des ersten Anscheins dafür sprechen kann, dass eine unfallursächliche Vorfahrtsverletzung vorgelegen hat (OLG München, NZV 1989, 438; vgl. auch Senat, Urteil vom 22. Juni 1992 - 12 U 7008/91 -). Der vorliegende Sachverhalt unterscheidet sich jedoch in grundlegender Weise von der zuvor genannten Fallgruppe. Denn abweichend von dem vom OLG München zu entscheidenden Sachverhalt ist der Wartepflichtige hier nicht vor sondern hinter dem vorfahrtsberechtigten Fahrzeug in die Vorfahrtstraße eingebogen. Demgegenüber war in der dortigen Entscheidung der Wartepflichtige vor dem dortigen Beklagten in die Vorfahrtstraße eingebogen. Unmittelbar hinter dem Einmündungsbereich war das vorfahrtsberechtigte Fahrzeug von hinten auf das einbiegende Fahrzeug aufgeprallt.

c) Soweit die Klägerin schließlich meint, die Beklagten seien ihr gegenüber deshalb zum Schadensersatz verpflichtet, weil der Beklagte zu 1) beim Einbiegen von der M-Straße in die U-Straße die Kurve geschnitten habe, kann dahin stehen, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang ein derartiges Verhalten eine Mithaftung der Beklagten begründen könnte. Denn die für ein Mitverschulden des Beklagten zu 1) beweispflichtige Klägerin hat einen derartigen Sachverhalt nicht zu beweisen vermocht. Der Zeuge M konnte keine Angaben dazu machen, ob der Beklagte zu 1) die Kurve geschnitten hatte. Auch die Klägerin selbst hat bei ihrer Anhörung durch das Landgericht einen derartigen Sachverhalt nicht bestätigt. Dort hat sie erklärt, das Motorrad des Beklagten zu 1) sei ihr zum ersten Mal aufgefallen, als sie den Einmündungsbereich der M-Straße passiert habe. Als sie sodann vor dem beabsichtigten Wendevorgang in Innen- und Außenspiegel geblickt habe, habe sie das Motorrad nicht gesehen. Sie habe es erst wieder unmittelbar vor der Kollision gesehen, als es sich schon auf der Höhe ihres Fahrzeugs befunden habe.

2. Die Revision war nach §§ 543 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 ZPO n.F. i.V. mit § 26 Nr. 7 EGZPO nicht zuzulassen, da die Sache weder grundsätzliche Bedeutung hat noch eine Entscheidung des Revisionsgerichts zur Rechtsfortbildung oder der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich ist.

3. Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 97 Abs. 1, 708 Nr. 10, 713 ZPO.