Das Verkehrslexikon
OLG Jena Beschluss vom 06.05.2010 - 1 Ss 20/10 - Zur Gestaltung von Verkehrsschildern und zum Sichtbarkeitsgrundsatz
OLG Jena v. 06.05.2010: Zur Gestaltung von Verkehrsschildern und zum Sichtbarkeitsgrundsatz sowie zur Schuldminderung bei irreführender Gestaltung
Das OLG Jena (Beschluss vom 06.05.2010 - 1 Ss 20/10) hat entschieden:
- Verkehrseinrichtungen müssen so gestaltet sein, dass sie für einen Verkehrsteilnehmer mit durchschnittlicher Aufmerksamkeit durch einen beiläufigen Blick deutlich erkennbar sind und eine möglichst gefahrlose Abwicklung des Verkehrs ermöglichen; sie dürfen weder irre-führend noch undeutlich sein. Verkehrszeichen müssen deshalb so angebracht und - bei Schilderkombinationen - gestaltet sein, dass auch ein ortsunkundiger Verkehrsteilnehmer Sinn und Tragweite der getroffenen Regelung ohne Weiteres erkennen kann, ohne nähere Überlegungen hierüber anstellen zu müssen.
- Eine unzweckmäßige oder irreführende Gestaltung von Verkehrszeichen kann je nach Sachlage entweder das Verschulden eines Verkehrsteilnehmers, der den Sinn des Zeichens missversteht, mindern und ein Mitverschulden des für die Gestaltung Verantwortlichen begründen oder aber zur Folge haben, dass dem Verkehrsteilnehmer aus der Fehldeutung des Zeichens überhaupt kein Schuldvorwurf zu machen ist.
Gründe:
I.
Mit Urteil des Amtsgerichts Bad Salzungen vom 23.04.2009 ist der Angeklagte wegen fahrlässiger Körperverletzung zu einer Geldstrafe in Höhe von 25 Tagessätzen zu je 30 € verurteilt worden.
Die Berufung des Angeklagten gegen dieses Urteil hat das Landgericht Meiningen am 22.12.2009 mit der Maßgabe verworfen, dass die Geldstrafe 15 Tagessätze zu je 30 € beträgt.
Gegen dieses Urteil hat der Angeklagte am 25.12.2009 Revision eingelegt, die er, nachdem ihm das Urteil in vollständig abgefasster Form am 27.01.2010 zugestellt worden war, mit beim Landgericht am selben Tage eingegangenen Schriftsatz seines Verteidigers vom 10.02.2010 mit der näher ausgeführten Sachrüge begründet hat.
In ihrer Stellungnahme vom 04.03.2010 hat die Thüringer Generalstaatsanwaltschaft beantragt, die Revision als offensichtlich unbegründet zu verwerfen.
Die Stellungnahme ist dem Verteidiger des Angeklagten am 06.03.2010 zugegangen.
Mit Schriftsatz vom 07.04.2010 hat sich der Nebenklägervertreter der Stellungnahme der Thüringer Generalstaatsanwaltschaft angeschlossen.
II.
Die zulässig eingelegte Revision hat in der Sache Erfolg.
Die Urteilsfeststellungen rechtfertigen den Schuldspruch wegen fahrlässiger Körperverletzung nicht.
Nach den getroffenen Feststellungen fuhr der Angeklagte am Pfingstsonntag, dem 11.05.2008, bei schönem trockenen Wetter mit seinem verkehrssicheren Fahrrad von Bad S... über U... nach T... . Er befuhr hierbei zunächst den rechten Fahrbahnrand der rechten Fahrspur der Kreisstraße ... . Dem Angeklagten waren die Fahrstrecke sowie der weitere Verlauf der Straße innerorts einschließlich der späteren Unfallstelle bekannt. Kurz vor der Ortschaft T... war zum damaligen Zeitpunkt in Fahrtrichtung des Angeklagten am rechten Fahrbahnrand ein Gefahrzeichen nach § 40 Abs. 6 StVO a. F., Zeichen 138 „Radfahrer kreuzen“ aufgestellt und unterhalb des Verkehrszeichens ein Hinweiszeichen „W...radwanderweg“ mit einem grünen Fahrradsymbol sowie einem Pfeil nach links auf weißem Grund ca. 50 m vor Beginn des Weges angebracht. Dieser aus roten Pflastersteinen bestehende Weg führt linksseitig in Fahrtrichtung des Angeklagten gesehen in einer Breite von ca. 2,10 m an der Landstraße entlang bis zur Ortschaft T..., um dort in der Ortschaft unmittelbar und ohne Belagänderung in den linksseitigen Gehweg überzugehen. Dieser Gehweg verläuft unmittelbar an den Grundstücksgrenzen der mit der Bezeichnung „Am S...“ durch den Ort führenden Landstraße, wobei die einzelnen Häuser und Grundstücksausfahrten unmittelbar an den Gehweg angrenzen. Der Abschnitt des späteren Unfallortes vor dem Haus Nr. 6 der Straße „Am St...“ ist von seiner äußeren Erscheinung und Gestaltung (Verbundpflaster) mit der Begrenzung durch die Häuser und Grundstücksausfahrten auf der einen und der Fahrbahn mit Bordsteinkante auf der anderen Seite als Gehweg ausgestaltet. Vorschriftszeichen nach § 41 Abs. 2 Nr. 5 StVO a. F. (Sonderweg), Zeichen 237 „Radfahrer“, 240 „gemeinsamer Fuß- und Radweg“ und 241 „getrennter Rad- und Fußweg“ sind nicht angebracht gewesen. Auch das Zeichen 239 „Fußgänger“ war nicht aufgestellt.
Im Bereich des Zeichens 138 “Radfahrer kreuzen“ folgte der Angeklagte dem unterhalb dieses Verkehrszeichens angebrachten Hinweiszeichen „W...radwanderweg“ nach links auf den straßenbegleitenden Weg. Er befuhr diesen auch in der Ortslage T... . Vor dem Haus „Am S... Nr. 6“ kollidierte der zu diesem Zeitpunkt ca. 10 bis 15 km/h fahrende Angeklagte etwa in der Mitte des Gehwegs mit der aus ihrer Hofeinfahrt auf den Gehweg herauslaufenden 82-jährigen Nebenklägerin. Diese kam dadurch zu Fall und wurde schwer verletzt. Unter Berücksichtigung der Örtlichkeit und der Sichtverhältnisse für beide Unfallbeteiligte hätte der Angeklagte auf dem Gehweg fahrend die Kollision mit der Nebenklägerin nicht vermeiden können.
Den Fahrlässigkeitsvorwurf gegen den Angeklagten hat das Landgericht allein darauf gestützt, dass es ihm an der Unfallstelle nicht erlaubt gewesen sei, als Erwachsener mit seinem Fahrrad auf dem Gehweg zu fahren.
Auch das lediglich touristisch ausgeprägte Zusatzschild mit dem Hinweis auf einen linksseitig liegenden „W...radwanderweg“ habe dem Angeklagten erkennbar kein Recht zur Benutzung eines Gehwegs mit dem Fahrrad gegeben. Bei diesem Zusatzschild handele es sich lediglich um eine Wegstreckenführung ohne jeglichen Straßenverkehrsordnungsbeschilderungscharakter, die einzig und allein der Orientierung diene, ohne straßenverkehrsrechtliche Verpflichtungen oder Berechtigungen aufgrund seines Hinweischarakters zu begründen. Dieses Zusatzhinweisschild habe auch nicht dazu geführt, dass der Angeklagte sich zum Fahren mit dem Fahrrad auf dem Gehweg berechtigt habe wähnen dürfen.
Hiergegen bestehen durchgreifende rechtliche Bedenken.
Diese gehen allerdings nicht dahin, dass es dem Angeklagten etwa erlaubt gewesen wäre, den Gehweg an der Unfallstelle zu befahren. Zutreffend hat das Landgericht ausgeführt, dass Fahrradfahrer gemäß § 2 Abs. 1 StVO a. F. grundsätzlich die Fahrbahn benutzen müssen, von zwei Fahrbahnen die rechte. Hierbei ist nach Abs. 2 der genannten Vorschrift möglichst weit rechts zu fahren. Gemäß § 2 Abs. 4 Satz 2 StVO a. F. müssen Radfahrer Radwege benutzen, wenn die jeweilige Fahrtrichtung - was hier nicht der Fall gewesen ist - mit Zeichen 237, 240 oder 241 gekennzeichnet ist. Andere rechte Radwege dürfen sie benutzen. Sie dürfen ferner rechte Seitenstreifen benutzen, wenn keine Radwege vorhanden sind und Fußgänger nicht behindert werden, § 2 Abs. 4 Sätze 3 und 4 StVO a. F.
Hiernach war der Angeklagte, der auch ersichtlich nicht unter die Ausnahmevorschrift des § 2 Abs. 5 StVO fiel, objektiv nicht berechtigt, an der Unfallstelle den Gehweg mit dem Rad zu befahren.
Daran ändert auch der Hinweis des Angeklagten auf § 2 Abs. 4 Satz 3, II.1. der auf Grundlage des § 6 Abs. 1 Nr. 3, Nr. 16 StVG erlassenen Verwaltungsvorschrift zur StVO vom 22.10.1998 nichts. Die Vorschrift sieht vor, dass die (ausnahmsweise) Freigabe linker Radwege für die Gegenrichtung durch die Straßenverkehrsbehörden mit Zeichen „Zur Benutzung durch die Radfahrer auch in Gegenrichtung“ anzuordnen ist. Das war hier jedoch nicht geschehen.
Wie dem Urteilszusammenhang zu entnehmen ist, hat das Landgericht seiner rechtlichen Bewertung des Fahrlässigkeitsvorwurfs zugrunde gelegt, dass sich der Angeklagte aufgrund der beschriebenen Beschilderung und des Umstandes, dass der von ihm schon außerorts befahrene linksseitige Weg innerorts unmittelbar und ohne Belagänderung in den linksseitigen Gehweg übergegangen ist, für berechtigt hielt, auch an der Unfallstelle mit dem Rad zu fahren.
Da der Angeklagte nach den getroffenen Feststellungen in der Unfallsituation selbst nicht sorgfaltswidrig handelte, könnte er nur dann wegen fahrlässiger Körperverletzung verurteilt werden, wenn ihm sein Irrtum, den linken Gehweg mit dem Fahrrad benutzen zu dürfen, vorzuwerfen wäre. Ein solcher Vorwurf wird aber durch die Feststellungen des angefochtenen Urteils nicht getragen. Verkehrseinrichtungen müssen so gestaltet sein, dass sie für einen Verkehrsteilnehmer mit durchschnittlicher Aufmerksamkeit durch einen beiläufigen Blick deutlich erkennbar sind und eine möglichst gefahrlose Abwicklung des Verkehrs ermöglichen; sie dürfen weder irreführend noch undeutlich sein (BayObLG, Beschluss vom 29.11.1977, Az.: 1 Ob OWi 582/77, bei juris, m. w. N.).
Verkehrszeichen müssen deshalb so angebracht und - bei Schilderkombinationen - gestaltet sein, dass auch ein ortsunkundiger Verkehrsteilnehmer Sinn- und Tragweite der getroffenen Regelung ohne Weiteres erkennen kann, ohne nähere Überlegungen hierüber anstellen zu müssen.
Diesen Anforderungen wird die hier in Rede stehende Schilderkombination aus dem Gefahrenzeichen nach § 40 Abs. 6 StVO a. F., Zeichen 138 „Radfahrer kreuzen“ und dem darunter angebrachten Hinweiszeichen „W...radwanderweg“ mit einem grünen Fahrradsymbol sowie einem Pfeil nach links auf weißem Grund ca. 50 m vor Beginn des Weges nicht gerecht. Vielmehr erscheint die Wegweisung gerade als Teil einer Regelung für die dortige Verkehrssituation. Das von der Straßenverkehrsbehörde in diesem Bereich aufgestellte Zeichen 138 „Radfahrer kreuzen“ war ersichtlich ausschließlich im Hinblick darauf angebracht worden, dass wegen des auf den straßenbegleitenden Weg verweisenden Fahrradwegweisers mit Radfahrern zu rechnen war, die die Verbindungsstraße überqueren, um diesen straßenbegleitenden Weg zu befahren.
Eine unzweckmäßige oder irreführende Gestaltung von Verkehrszeichen kann je nach Sachlage entweder das Verschulden eines Verkehrsteilnehmers, der den Sinn des Zeichens missversteht, mindern und ein Mitverschulden des für die Gestaltung Verantwortlichen begründen oder aber zur Folge haben, dass dem Verkehrsteilnehmer aus der Fehldeutung des Zeichens überhaupt kein Schuldvorwurf zu machen ist (BayObLG, a. a. O., m. w. N.). Bei einer Schilderkombination wie der vorliegenden ist unter Berücksichtigung der Örtlichkeiten das letztere anzunehmen. Ein Fahrzeugführer, der sich einem derartigen Verkehrszeichen gegenübersieht, hat keine Zeit, über dessen Bedeutung lange Überlegungen anzustellen. Ihm kann daher im allgemeinen kein Vorwurf gemacht werden, wenn er einem zur Irreführung geeigneten Zeichen eine nach dessen Erscheinungsbild naheliegende Bedeutung beimisst, ohne sich Gedanken darüber zu machen, ob das Zeichen nicht auch eine andere Bedeutung haben könnte.
Der Irrtum des Angeklagten über seine Berechtigung, den rot gepflasterten Weg mit dem Fahrrad befahren zu dürfen, kann dem Angeklagten daher nicht vorgeworfen werden.
Dies gilt auch für die Unfallstelle, obwohl sich diese innerorts befunden hat und der rot gepflasterte Weg dort deutlich als Gehweg ausgebildet war. Denn gemäß § 41 Abs. 2 Nr. 5 Satz 4 StVO a. F. hätte es der Aufstellung des Zeichens 239 „Fußgänger“ bedurft, wenn der straßenbegleitende Weg innerörtlich als ausschließlicher Fußweg weitergeführt werden sollte. Eine derartige Klarstellung war in Anbetracht der vorangehenden irreführenden Beschilderung notwendig. Wenn Radfahrer nur etwa 200 m vor der Ortslage durch einen Wegweiser in Bezug auf den „W...radwanderweg“ auf einen straßenbegleitenden Weg geleitet werden, so kann der Radfahrer darauf vertrauen, dass er diesen Weg auch innerhalb der Ortslage weiter benutzen darf. Dabei kommt es weniger darauf an, dass der Weg - rein tatsächlich - innerhalb der geschlossenen Ortschaft in unveränderter Beschaffenheit weitergeführt wird. Entscheidend ist vielmehr, dass das Überqueren der Straße 200 m vor der Ortslage für Radfahrer, aber auch für andere Verkehrsteilnehmer, potentiell gefährlich ist. Die Straßenverkehrsbehörde hat diesem Umstand auch durch das Aufstellen des Gefahrenzeichens „Radfahrer kreuzen“ Rechnung getragen. Abgesehen davon, dass es nicht sinnvoll wäre, die Benutzer eines viel befahrenen Radwanderweges innerhalb einer Distanz von etwa 200 m zweimal zum Überqueren einer Straße zu veranlassen, hat es an jeglicher Beschilderung, die auf ein solches - zweites - Kreuzen von Radfahrern hinweist, gefehlt. Wenn also seitens der Verkehrsbehörde die Absicht bestanden hätte, den Weg innerhalb der Ortschaft lediglich noch als Fußweg auszuweisen, so hätte es zumindest einer klarstellenden Beschilderung mit Zeichen 239 „Fußgänger“ bedurft.
Mit der Begründung des Landgerichts kann dem Angeklagten daher der Vorwurf der fahrlässigen Körperverletzung nicht gemacht werden. Weil die sachverständig beratene Kammer zudem festgestellt hat, dass der Angeklagte bei der Fahrt auf dem Gehweg mit der angegebenen Geschwindigkeit zwischen 10 und 15 km/h unter Berücksichtigung der Örtlichkeit und der Sichtverhältnisse für beide Unfallbeteiligte eine Kollision nicht hätte vermeiden können, ist auszuschließen, dass der Fahrlässigkeitsvorwurf an andere Umstände als den vom Landgericht herangezogenen angeknüpft werden könnte. Deshalb war der Angeklagte freizusprechen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 467 Abs. 1 StPO.