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BGH Urteil vom 29.10.1974 - VI ZR 168/73 - Zur Haftung für Schäden bei einer durch den Täter veranlassten Verfolgung durch Polizeibeamte

BGH v. 29.10.1974: Zur Haftung für Schäden bei einer durch den Täter veranlassten Verfolgung durch Polizeibeamte


Der BGH (Urteil vom 29.10.1974 - VI ZR 168/73) hat entschieden:
Zur Haftung desjenigen, der sich einer berechtigten polizeilichen Verfolgung durch Flucht entzieht, für den dabei entstandenen Körperschaden des Verfolgenden. (Ergänzung zu BGH 1971-07-13 VI ZR 125/70 = BGHZ 57, 25 und BGH 1971-07-13 VI ZR 165/69 = NJW 1971, 1982).


Siehe auch Herausforderungshaftung und <Stichwörter zu Schadensersatz und Haftung


Tatbestand:

Polizeiobermeister T. seinen Auftrag, den damals 17jährigen Beklagten festzunehmen, durchführen. Dieser sollte einen Jugendarrest verbüßen, weil er ohne Fahrerlaubnis mit einem Moped gefahren war. T. erschien zwischen 6.00 Uhr und 7.00 Uhr morgens in der im Erdgeschoss gelegenen Wohnung der Eltern des Beklagten. Nachdem dieser sich fertiggemacht hatte, suchte er mit Erlaubnis des Beamten die Toilette auf. Dort schob er eine Waschmaschine vor die Türe und sprang aus dem Fenster in den Hof. Hierbei musste er eine 2 m tiefe und 1,50 m breite Ausschachtung überwinden, die sich unterhalb des Fensters befand und zum Hofraum hin mit einem Zaun gesichert war. Als der Polizeibeamte, der die Örtlichkeit nicht kannte, bemerkte, dass der Beklagte entweichen wollte, drückte er die Toilettentüre auf und sprang dem Beklagten nach. Dabei zog er sich einen Fersenbeinbruch zu. Der Beklagte, der sich im Hof hinter Sträuchern versteckt hatte, wurde wenig später von dem zweiten Beamten, der im Fahrzeug geblieben war, und der Besatzung eines Streifenwagens festgenommen.

Polizeiobermeister T. war bis zum 31. Januar 1972 dienstunfähig. Das klagende Land wandte für ihn Arzt- und Behandlungs*-kosten auf.

Mit der Klage fordert das klagende Land kraft Rechtsübergangs Ersatz in Höhe dieser Aufwendungen und Erstattung der dem Beamten während seiner Dienstunfähigkeit gezahlten Bezüge.

Landgericht und Oberlandesgericht haben die Klage abgewiesen. Die zugelassene Revision des klagenden Landes führte zur Aufhebung und Zurückverweisung.


Entscheidungsgründe:

Nach Auffassung des Berufungsgerichts steht dem klagenden Land ein nach § 99 BG NRW übergegangener Schadensersatzanspruch des Polizeiobermeisters T. gegen den Beklagten aus unerlaubter Handlung (§ 823 BGB) nicht zu. Zwischen dessen Flucht und dem Fersenbeinbruch des Beamten besteht nach Meinung des Berufungsgerichts kein die Haftung begründender Ursachenzusammenhang, weil der Entschluss des T., den Beklagten zu verfolgen, zum Abbruch des Kausalverlaufs geführt habe (das Berufungsurteil ist in NJW 1973, 1929 veröffentlicht).

I.

Dem vermag der Senat nicht zu folgen.

1. Dass der Beklagte die Körperverletzung des T. im Sinne des Bedingungszusammenhanges verursacht hat, zieht auch das Berufungsgericht nicht in Zweifel. Seine Bedenken gegenüber der Adäquanz - die es dahinstehen lässt, weil es dem Beklagten aus anderen Gründen die Verletzung des T. nicht zurechnet - greifen nicht durch. Sofern man ihr im Bereich der haftungsbegründenden Ursächlichkeit einen Platz zuweist (vgl Nachweise in BGHZ 57, 25, 27; vgl aber auch BGHZ 58, 162, 163), bestehen keine durchgreifenden Bedenken gegen ihre Bejahung. Die Flucht des Beklagten und der dadurch ausgelöste Entschluss des T., ihn wie geschehen zu verfolgen, sowie der weitere Ablauf, nämlich der Sturz des T. und die hierbei erlittene Verletzung, sind nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge nicht so besonders eigenartig und unwahrscheinlich, dass sie nach dem bisherigen und üblichen Verständnis der Adäquanz als einer besonderen Form des Ursachenzusammenhangs schon deshalb außer Betracht zu lassen wären.

2. Darüber hinaus prüft das Berufungsgericht zutreffend in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des erkennenden Senats (vgl insbesondere BGHZ 57, 25 und Urteil vom 13. Juli 1971 - VI ZR 165/69 = LM BGB § 823 (C) Nr 39 = NJW 1971, 1982), ob der durch das Verhalten des Beklagten verursachte Verletzungserfolg (Körperverletzung) auch im übrigen - also auch bei Bejahung der Ursächlichkeit - dem Beklagten objektiv zuzurechnen ist. Diese Frage ist auf Grund einer wertenden Betrachtung zu beantworten.

Entscheidend ist, wie der erkennende Senat in den erwähnten beiden früheren Urteilen ausgeführt hat, dass der Beklagte, für ihn zumindest erkennbar, wenn hier nicht sogar erkannt, durch sein Weglaufen ohne Notwendigkeit in zurechenbarer Weise eine Lage erhöhter Verletzungsgefahr für T. geschaffen hat, indem er dessen mit dem Gesetz in Einklang stehende Verfolgung herausforderte, obgleich er dessen Gefährdung voraussehen und vermeiden konnte (vgl von Caemmerer DAR 1970, 283, 291).

Dass T. durch seinen Entschluss zur Verfolgung und dessen Ausführung selbst ein Schadensrisiko eingegangen ist, steht einer Zurechnung der verursachten Rechtsgutverletzung nicht ohne weiteres entgegen, wie der Senat ebenfalls bereits früher ausgeführt hat (vgl insbesondere BGHZ 57, 25, 29 mw Nachw). Allerdings sind bei solcher Gestaltung Fälle anerkannt, in denen trotz bestehenden Ursachenzusammenhangs der Ausschluss der Zurechnung geboten ist (vgl Larenz, Schuldrecht I, 10. Aufl § 27 III 3; ders Festschrift für Honig 1970 S 70, 83o). Insbesondere ist sie dann nicht gerechtfertigt, wenn der Entschluss des Verletzten nicht "herausgefordert" ist (vgl BGH Urteil vom 24. März 1964 - VI ZR 33/63 - = NJW 1964, 1363 = LM BGB § 823 Nr 32), wenn vielmehr das Verhalten des die erste Ursache Setzenden lediglich den äußeren Anlass und nur die Gelegenheit für den Verletzten darstellt, sich zusätzlich einem unfallfremden Risiko auszusetzen (vgl BGH Urteil vom 12. Februar 1963 - VI ZR 181/62 = LM BGB § 823 (C) Nr 28 = NJW 1963, 1671; BGHZ 58, 162). Wird aber der Entschluss des Verletzten wie hier durch das Verhalten herausgefordert, so ist in der Regel die Verantwortlichkeit nicht schon wegen des Dazutretens des Verletzten ausgeschlossen (vgl Larenz, Schuldrecht I aaO; ders Festschrift für Honig S 79, 87).

Der Senat hat es damit bei dieser Fallgruppe für geboten erachtet, den Verfolgten nicht ohne weiteres für sämtliche verursachten Rechts- und Rechtsgut*-verletzungen - vorbehaltlich des Verschuldens - schlechthin einstehen zu lassen (vgl dazu unter dem Gesichtspunkt der psychisch vermittelten Ursächlichkeit auch Deutsch JZ 1972, 551).

Die so gebotene wertende Einschränkung kommt, wie das Berufungsgericht nicht verkennt, bereits und insbesondere darin zum Ausdruck, dass ein herausgefordertes Dazwischentreten (Eingreifen) für die Zurechnung vorausgesetzt wird. Das hat der Senat in BGHZ 57, 25 dahin erläutert, dass dem nicht schon genügt ist, wenn sich der Verletzte "tatsächlich" zum Eingreifen hat bewegen lassen, wenn sein Verhalten also bloß veranlasst (psychisch verursacht) worden ist, sondern nur wenn er sich zum Eingreifen herausgefordert fühlen "durfte". Unter diesem Gesichtspunkt ist auch von Belang, ob ein angemessenes Verhältnis zwischen dem Zweck der Verfolgung und deren erkennbarem Risiko gewahrt ist. Damit findet eine wertende Betrachtung zu einer im Einzelfall gebotenen Einschränkung Eingang in die rechtliche Beurteilung.

3. Diese Grundsätze legt auch das Berufungsgericht seiner Beurteilung zugrunde. Es meint aber, ihre Anwendung führe hier bereits im Grunde zur Verneinung einer Haftung des Beklagten, weil es an der Verhältnismäßigkeit zwischen Zweck und erkennbarem Risiko der Verfolgung fehle.

Dem vermag der Senat nicht zu folgen.

a) Allerdings ist, wie bereits erwähnt, in BGHZ 57, 25 ausgesprochen, worauf das Berufungsurteil zutreffend hinweist, zu dem vorausgesetzten herausgeforderten Dazutreten (Eingreifen) genüge nicht bereits, dass sich der Verletzte tatsächlich zum Eingreifen hat bewegen lassen. Vielmehr ist außer dieser psychischen Verursachung notwendig, dass sich der Eingreifende zum Handeln herausgefordert fühlen durfte und zwar überhaupt und gegebenenfalls in der von ihm gewählten Art und Weise. Damit sollten - insoweit ist dem Berufungsgericht zu folgen - auch Fälle angesprochen werden, die bereits wegen des zu hohen, übersteigerten Risikos die Zurechnung des Handelns des Verfolgenden im Hinblick auf die zivilrechtliche Verteilung des Schadensrisikos zwischen ihm und dem Verfolgten als nicht mehr tragbar erscheinen lässt. Das besagt aber nicht, dass jedes nicht ungefährliche Verhalten schon wegen seiner Gefahren eine Zurechnung bereits im Grunde ausschließt. Sinn dieser Einschränkung, die zu einer Verneinung der Haftung bereits im Grundsatz führt, ohne dass Raum für eine Abwägung nach § 254 BGB verbleibt, ist, das mit einer Flucht verknüpfte Haftungsrisiko nicht ins Unermessliche wachsen zu lassen. Nur dann, wenn eine Verfolgung überhaupt und deren konkrete Durchführung derart ist, dass der Verfolgte mit ihr nicht rechnet und nicht zu rechnen braucht, scheidet eine Haftung bereits im Grundsatz aus. Dass nicht schon jede gefährliche Verfolgung eine Haftung des Verfolgten ausscheiden lässt, zeigen auch deutlich die Beurteilungen der früheren Sachverhalte (Urteil vom 24. März 1964 - VI ZR 33/63 = aaO und vom 3. Februar 1967 - VI ZR 115/65 = LM BGB § 823 (C) Nr 36 = JZ 1967, 639). So hat der Senat denn auch in BGHZ 57, 25, 31 ausdrücklich darauf hingewiesen, dass der dort im Grundsatz bejahte Ersatzanspruch des Verfolgenden durch ein mitwirkendes Verschulden auf seiner Seite gemindert sein kann, was im übrigen damals vom Berufungsgericht auch angenommen worden war.

Eine so verstandene Grenzziehung ist auch, abgesehen von anderen Erwägungen, aus folgenden Gründen geboten. Eine Sicht, die in solchen Fällen nur die Möglichkeiten kennt, den Ersatzanspruch entweder zu verneinen oder zu bejahen, würde weithin ohne Notwendigkeit eine differenzierende Abwägung erschweren oder gar verhindern und stünde damit einer gerechten Beurteilung im einzelnen Fall im Wege. Eine dem Einzelfall gerecht werdende Wertung ist aber bereits in der Bestimmung des § 254 BGB vorgesehen mit ihrer Reichweite von voller Haftung bis zu ihrer Verneinung. Eine Sicht, die in zu weit gehender und nicht gebotener Weise die Haftung bereits im Grundsatz ausschließt, begibt sich dieser Möglichkeit. Es entspricht auch sonst der Rechtsentwicklung, das sog "Alles-oder-nichts" Prinzip zurückzudrängen.

b) Würdigt man unter diesen Gesichtspunkten den zu beurteilenden Sachverhalt, dann rechtfertigen die festgestellten Tatumstände es nicht, bereits die objektive Zurechnung und damit schon im Grundsatz eine Haftung zu verneinen.

Allerdings mag es sein, worauf der Tatrichter hinweist, dass die Personalien des Beklagten, der bei seinen Eltern wohnte, bekannt waren, und dass bei geglückter Flucht die Strafvollstreckung wahrscheinlich nicht vereitelt, sondern nur hinausgeschoben worden wäre. Auch war die Verfehlung des Beklagten, die zur Verhängung des Jugendarrestes führte, verhältnismäßig gering. Immerhin kann das (öffentliche) Interesse an dem Eingreifen des T. nicht außer Betracht bleiben (vgl rechtsvergleichend Lüer, Die Begrenzung der Haftung bei fahrlässig begangenen unerlaubten Handlungen, 1969 S 148/149), womit die in anderen Verfolgungsfällen erheblichen Abwägungsgesichtspunkte zumindest in ihrem Gewicht beeinflusst werden. T. war zur Verfolgung des Beklagten jedenfalls berechtigt, dienstrechtlich sogar trotz der damit verbundenen Selbstgefährdung verpflichtet. Es handelt sich um den Ersatz von Schäden, die der Beamte durch seinen vom verfolgten Beklagten unmittelbar herausgeforderten Einsatz erlitten hat (vgl dazu auch Martens NJW 1972, 740, 746 Fn 37 und Hübner JuS 1974, 496, 499). Schutzwürdige Interessen des Beklagten an seiner Flucht, die demgegenüber in Frage kommen, fehlen. Durch sein Weglaufen suchte er sich der Überführung in die Jugendarrestanstalt und damit dem Vollzug der gegen ihn ausgesprochenen Strafe zu entziehen. Darin allein liegt in diesem Zusammenhang kein Umstand, der besonderer Berücksichtigung zugängig ist (vgl BGHZ 57, 25, 28; Urteil vom 13. Juli 1971 - VI ZR 165/69 = aaO zu 2a).

Unter diesen Umständen steht das Risiko der Verfolgung durch T. an sich nicht außer Verhältnis zu seinem Zweck. T. versuchte dem Beklagten durch das Fenster der im Erdgeschoss liegenden Toilette ins Freie zu folgen, nachdem der Beklagte diesen Weg mit Erfolg genommen hatte. Diesem hier gesteigerten Risiko der Verfolgung durch einen Sprung aus dem ebenerdigen Fenster fehlt nicht die Verhältnismäßigkeit zu dem Anliegen des T. . Bei diesen Gegebenheiten musste der Beklagte damit rechnen, dass ihm T. durch das Fenster folgen würde, weil dieser sich herausgefordert fühlen durfte.


II.

Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ist daher eine Haftung des Beklagten nicht schon im Grundsatz ausgeschlossen. Sonach konnte das Berufungsurteil aus den ihm gegebenen Gründen keinen Bestand haben.

1. Dem erkennenden Senat ist verwehrt, selbst zu entscheiden.

22 Daher war die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. 2. Das Berufungsgericht führt zum Schluss der Entscheidungsgründe aus, da die Körperverletzung des T. dem Beklagten schon wegen der fehlenden Verhältnismäßigkeit zwischen Zweck und erkennbarem Risiko der Verfolgung nicht zuzurechnen sei, bedürfe es keiner Entscheidung, ob hier ein gesteigertes Verfolgungsrisiko vorgelegen habe. Damit wird offenbar das angesprochen, was in BGHZ 57, 25, 32 (und im Urteil vom 13. Juli 1971 - VI ZR 165/69 = aaO zu 2d am Ende) ausgeführt ist.

Dort ist dargelegt, dass, sofern nach der gebotenen Abwägung im Einzelfall für die beim Verfolgenden eingetretenen Verletzungen grundsätzlich eine Haftung zu bejahen ist, diese nur die besonderen (gesteigerten) Risiken der Verfolgung und nicht das normale Risiko des Eingreifenden umfasst, wie das schon das Erfordernis des inneren Zusammenhangs mit dem Grund der Haftung (der geschaffenen erhöhten Gefahrenlage) nahelege. So greift auch bei an sich bejahter Zurechnung die Haftung des Verfolgten nicht ein, wenn beispielsweise ein geschütztes Rechtsgut durch das Platzen eines Reifens des Streifenwagens verletzt wird, ohne dass dieses Ereignis auf eine für die Reifen gefährliche Verfolgung (Geschwindigkeit oder Fahrweise) zurückzuführen ist (vgl dazu Fallgestaltungen bei Deutsch JZ 1967, 642 zu 2d; vgl auch Lüer aaO S 150 u.).

Legt man die bisherigen tatrichterlichen Feststellungen zugrunde, so spricht Überwiegendes für die Annahme, dass sich hier ein durch die Verfolgung deutlich erhöhtes Risiko verwirklicht hat und es sich nicht um ein mit der zugerechneten Gefahrerhöhung ohne inneren Zusammenhang stehendes Ereignis handelt.