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Verwaltungsgericht Neustadt Beschluss vom 09.02.2011 - 1 L 87/11 - Kein Entzug der Fahrerlaubnis bei rechtswidriger Anordung eines fachärztlichen Gutachtens

VG Neustadt v. 09.02.2011: Kein Entzug der Fahrerlaubnis bei Nichtbeibringung nach rechtswidriger Anordung eines fachärztlichen Gutachtens


Das Verwaltungsgericht VG Neustadt (Beschluss vom 09.02.2011 - 1 L 87/11) hat entschieden:
  1. Die in der Anforderung eines fachärztlichen Gutachtens gemäß § 11 Abs. 2 FeV gegenüber dem Fahrerlaubnisinhaber mitgeteilte Fragestellung, ob "eine Erkrankung oder ein Mangel nach Anlage 4 oder 5 der FeV" vorliegt, ohne dass die in Betracht kommende Krankheit oder der Mangel näher bezeichnet wird, ist zu unbestimmt und genügt nicht den Anforderungen des § 11 Abs. 6 FeV.

  2. Kommt der Betroffene einer solchen Aufforderung nicht nach, kann nicht gemäß § 11 Abs. 8 FeV auf seine fehlende Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen geschlossen werden.

Gründe:

Der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den für sofort vollziehbar erklärten Bescheid der Antragsgegnerin vom 20. Januar 2011 hat Erfolg. Die vom Gericht gemäß § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmende Interessenabwägung fällt zugunsten des Antragstellers aus, weil sich die ihm gegenüber verfügte Fahrerlaubnisentziehung bei der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung als offensichtlich rechtswidrig erweist.

Gemäß § 3 Abs. 1 Straßenverkehrsgesetz – StVG –, § 46 Abs. 1 Fahrerlaubnisverordnung – FeV – ist die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich deren Inhaber als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Die Behörde kann nach § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV von der Ungeeignetheit ausgehen, wenn der Fahrerlaubnisinhaber ein von ihm gefordertes Gutachten über seine Fahreignung nicht fristgerecht beibringt. Dieser Schluss ist aber nur dann zulässig, wenn die Gutachtensanforderung in formeller und materieller Hinsicht rechtmäßig, insbesondere anlassbezogen und verhältnismäßig ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 5. Juli 2001, NJW 2002, 78). Daran fehlt es hier, denn das Anforderungsschreiben der Antragsgegnerin vom 8. Oktober 2010 ist aus mehreren Gründen rechtswidrig.

Gemäß § 11 Abs. 6 Satz 1 FeV legt die Fahrerlaubnisbehörde unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalls und unter Beachtung der Anlagen 4 und 5 in der Anordnung zur Beibringung des Gutachtens fest, welche Fragen im Hinblick auf die Eignung des Betroffenen zum Führen von Kraftfahrzeugen zu klären sind und teilt ihm die Gründe für die Zweifel an seiner Eignung mit. Um diesen formellen Mindestanforderungen zu genügen, muss die Aufforderung im Wesentlichen aus sich heraus verständlich sein, und der Betroffene muss ihr entnehmen können, was konkret ihr Anlass ist und ob das in ihr Verlautbarte die behördlichen Zweifel an der Fahreignung zu rechtfertigen vermag (vgl. BVerwG, Urteil vom 5. Juli 2001, a.a.O.). Hierfür sind ihm insbesondere die Tatsachen bekannt zu geben, die den Verdacht auf bestimmte Eignungszweifel begründen (OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 10. August 1999, DAR 1999, 518; Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 40. Auflage 2009, § 11 FeV Rdnr. 19, m.w.N.). Die an den Gutachter gerichtete Fragestellung muss im Anforderungsschreiben abschließend bestimmt werden, damit eine anlassbezogene Themenstellung und Untersuchung sichergestellt ist (vgl. BayVGH, Beschluss vom 15. Mai 2008, BayVBL 2008, 724). Diesen Anforderungen entspricht das Schreiben der Antragsgegnerin vom 8. Oktober 2010 nicht.

Es legt schon keine hinreichend konkrete Frage an den Gutachter fest. Die Fragestellung:
„Liegt bei Herrn G... eine Erkrankung oder ein Mangel nach Anlage 4 oder 5 der FeV vor, wodurch die Eignung oder die bedingte Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ausgeschlossen wird?“
bezieht sich auf sämtliche in den Anlagen 4 und 5 zur FeV aufgeführten Krankheiten und Mängel, die von mangelndem Sehvermögen und Schwerhörigkeit bis Nierenerkrankungen und Schlafstörungen reichen. Die Anlage 5 behandelt Eignungsfragen, die in Bezug auf die Fahrerlaubnis des Antragstellers überhaupt nicht einschlägig sind. Die Fragestellung an den Gutachter ist damit völlig unbestimmt und geht inhaltlich viel zu weit.

Des Weiteren enthält das Anforderungsschreiben auch keine substantiierte Darlegung der Eignungszweifel unter Angabe von Tatsachen, auf denen diese Zweifel beruhen. In dem Schreiben wird nur eine einzige – vom Antragsteller auch nicht bestrittene – Tatsache genannt, nämlich dass er in einem Gerichtsverfahren ein Attest des Dr. ..., Arzt für Neurologie und Psychiatrie, vorgelegt hat. Mit diesem Attest, das in den Verwaltungsakten der Antragsgegnerin nicht vorliegt, hat er offenbar sein Fernbleiben vom Verhandlungstermin wegen psychischer Belastung gerechtfertigt. Aus dieser Tatsache allein ergeben sich keine ernst zu nehmenden Zweifel an seiner Fahreignung, denn die psychische Verfassung, einen Gerichtstermin als Betroffener wahrnehmen zu können oder nicht, sagt nichts über die Fähigkeit zum Führen eines Kraftfahrzeugs aus. Die weiteren Ausführungen der Antragsgegnerin „wurde uns bekannt, dass Sie unter latenten Suizidimpulsen und depressiven Dekompensationen leiden sollen“ beinhalten keinerlei konkrete Anknüpfungstatsachen für diesen Verdacht, sondern bleiben auf Mutmaßungen und Äußerungen vom Hörensagen beschränkt.

Die Antragsgegnerin bezeichnet ferner nicht substantiiert die Eignungszweifel, die aus diesen Umständen entstehen sollen. Die Formulierung „es liegt daher der Verdacht auf eine Erkrankung und/oder einen Mangel nach Anlage 4 der Fahrerlaubnisverordnung (FeV) vor“ nimmt keine konkrete, in der Anlage 4 zur FeV aufgeführte Erkrankung oder einen bestimmten, dort genannten Mangel in Bezug. Die weiter oben im Schreiben vom 8. Oktober 2010 angeführten „latenten Suizidimpulse und depressiven Dekompensationen“ sind in der Anlage 4 zur FeV nicht aufgeführt. Die Antragsgegnerin legt auch weder den Verdacht auf eine der dort unter Ziffer 7 aufgelisteten psychischen Störungen dar, noch erläutert sie in sonstiger Weise substantiiert und nachvollziehbar, welche - möglicherweise eignungsausschließende - andere Erkrankung durch das fachärztliche Gutachten abgeklärt werden muss.

Schließlich hat die Behörde in der Anordnung gemäß § 11 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 FeV zu bestimmen, welcher medizinischen Fachrichtung der für die Fragestellung zuständige Facharzt mit verkehrsmedizinischer Zusatzqualifikation angehören muss (vgl. Hentschel/König/Dauer, a.a.O., § 11 FeV Rdnrn. 11, 19), woran es hier ebenfalls fehlt.

Der nach alledem rechtswidrigen Aufforderung, ein Fachgutachten beizubringen, musste der Antragsteller nicht nachkommen und ihm kann folglich auch nicht vorgeworfen werden, nicht das Seine zur Klärung berechtigter Eignungszweifel beigetragen zu haben (vgl. erneut BVerwG, Urteil vom 5. Juli 2001, a.a.O.).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Festsetzung des Streitwerts folgt aus §§ 52 Abs. 1, 53 Abs. 3 GKG i.V.m. Ziff. 46.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichte (Hälfte des Auffangstreitwerts im Eilverfahren über die Entziehung einer Fahrerlaubnis der Klasse B samt Einschlussklassen).



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