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Bundesverfassungsgericht Beschluss vom 16.07.1969 - 2 BvL 11/69 - Zur Zulässigkeit eines befristeten Fahrverbots als Nebenfolge einer Ordnungswidrigkeit

BVerfG v. 16.07.1969: Zur Zulässigkeit eines befristeten Fahrverbots als Nebenfolge einer Ordnungswidrigkeit


Das Bundesverfassungsgericht Beschluss vom 16.07.1969 - 2 BvL 11/69) hat entschieden:
Die Verhängung eines zeitlich befristeten Fahrverbots als Nebenfolge einer Ordnungswidrigkeit ist mit dem Grundgesetz vereinbar. Dem geringen Unrechtsgehalt der Ordnungswidrigkeit entspricht nach dem System des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten als angemessene Reaktion die Geldbuße. Wenn § 25 StVG daneben ausnahmsweise und unter engen Voraussetzungen bei Zuwiderhandlungen gegen Verkehrsvorschriften die Möglichkeit der Anordnung eines befristeten Fahrverbots eröffnet, so ist daraus weiter zu folgern, dass von dieser Möglichkeit jedenfalls erst Gebrauch gemacht werden darf, wenn feststeht, dass der angestrebte Erfolg im Einzelfall auch mit einer empfindlichen und im Wiederholungsfall auch mit einer verschärften Geldbuße nicht erreicht werden kann.


Siehe auch Fahrverbot und Zeitablauf und Fahrverbotsthemen


Gründe:

I.

1. Durch Art. 3 Nr. 6 des Einführungsgesetzes zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten (EGOWiG) sind mit Wirkung zum 1. Januar 1969 die bisher als Übertretungen, teilweise auch als Vergehen strafbaren Zuwiderhandlungen gegen Verkehrsvorschriften in Ordnungswidrigkeiten umgewandelt worden (§ 24 des Straßenverkehrsgesetzes n.F. - StVG). Ordnungswidrigkeiten werden, soweit das Gesetz über Ordnungswidrigkeiten (OWiG) nichts anderes bestimmt, durch Bußgeldbescheide geahndet (§ 65 OWiG). Für die Verfolgung und Ahndung von Ordnungswidrigkeiten, also für den Erlass von Bußgeldbescheiden, ist im Regelfall die Verwaltungsbehörde zuständig (§ 35 OWiG). Der Betroffene kann gegen einen Bußgeldbescheid Einspruch einlegen (§ 67 OWiG). Darauf entscheidet das Amtsgericht durch Urteil auf Grund einer Hauptverhandlung über die Beschuldigung, ohne an den im Bußgeldbescheid enthaltenen Ausspruch gebunden zu sein (vgl. § 66 Abs. 2 Nr. 1 b OWiG). Widersprechen weder der Betroffene noch die Staatsanwaltschaft der Meinung des Gerichts, dass eine Hauptverhandlung nicht erforderlich sei, so entscheidet das Gericht durch Beschluss. In diesem Falle darf das Gericht von der im Bußgeldbescheid getroffenen Entscheidung nicht zum Nachteil des Betroffenen abweichen (§ 72 Abs. 2 OWiG). Gegen das Urteil oder den Beschluss des Amtsgerichts ist unter bestimmten Voraussetzungen die Rechtsbeschwerde zulässig (§§ 79, 80 OWiG).

Außer einer Geldbuße können in einem Bußgeldbescheid oder in der auf Einspruch zu erlassenden Entscheidung bestimmte Nebenfolgen angeordnet werden. Eine Nebenfolge ist das in § 25 des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) geregelte Verbot, für eine gewisse Zeit Kraftfahrzeuge im Straßenverkehr zu führen. § 25 Abs. 1 StVG in der Fassung des Art. 3 Nr. 6 EGOWiG lautet:
Wird gegen den Betroffenen wegen einer Ordnungswidrigkeit nach § 24, die er unter grober oder beharrlicher Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers begangen hat, eine Geldbuße festgesetzt, so kann ihm die Verwaltungsbehörde oder das Gericht in der Bußgeldentscheidung für die Dauer von einem Monat bis zu drei Monaten verbieten, im Straßenverkehr Kraftfahrzeuge jeder oder einer bestimmten Art zu führen.
2. Das Amtsgericht Lauf an der Pegnitz hat nach Art. 100 Abs. 1 GG ein Verfahren nach dem Ordnungswidrigkeitengesetz ausgesetzt und dem Bundesverfassungsgericht die Frage vorgelegt, ob § 25 StVG in der Fassung vom 24. Mai 1968 verfassungswidrig ist.

a) Dem Betroffenen des Ausgangsverfahrens wird vorgeworfen, innerhalb einer geschlossenen Ortschaft die erlaubte Höchstgeschwindigkeit um mehr als 30 km/h überschritten zu haben. Wegen dieser Ordnungswidrigkeit ist gegen ihn durch Bußgeldbescheid eine Geldbuße in Höhe von 120.- DM festgesetzt und ein Fahrverbot von einem Monat angeordnet worden. Gegen diesen Bußgeldbescheid hat der Betroffene Einspruch eingelegt. Das Amtsgericht beabsichtigt, über den Einspruch durch mündliche Verhandlung zu entscheiden und zur Hauptverhandlung das persönliche Erscheinen des Betroffenen anzuordnen.

b) Zur Begründung der Vorlage führt das Amtsgericht aus:

Auf die Gültigkeit des § 25 StVG, soweit er den Ausspruch eines Fahrverbots der Verwaltungsbehörde übertrage, komme es für die von ihm zu treffende Entscheidung an. Wenn die Verwaltungsbehörde kein Fahrverbot aussprechen dürfe, weil es sich dabei um eine Strafe handle, so sei das bisherige Bußgeldverfahren unzulässig gewesen. Es fehle dann an der justizförmigen, prozessordnungsgemäßen Einleitung des Strafverfahrens durch Strafbefehlsantrag, Anklageerhebung oder Erlass einer richterlichen Strafverfügung.

Wenn der Ausspruch eines Fahrverbots als einer Nebenstrafe nur durch den Richter zulässig sei, könne ferner das Hauptverfahren vor dem Amtsgericht nicht als vereinfachtes Bußgeldverfahren nach §§ 71 ff. OWiG durchgeführt werden. Der Betroffene habe die Rechtsstellung des Angeklagten nach der Strafprozessordnung. Das Urteil des Amtsgerichts sei mit Berufung und Revision, nicht mit der Rechtsbeschwerde nach § 79 OWiG anfechtbar. Der Betroffene müsse entsprechend belehrt werden. Im übrigen müsste der Einspruch, falls er verspätet sei, nach § 70 OWiG als unzulässig verworfen werden. Daran würde das vorlegende Gericht sich jedoch gegebenenfalls gehindert sehen, weil es den Ausspruch des Fahrverbots durch die Verwaltungsbehörde für verfassungswidrig halte. Eine ähnliche Lage würde sich ergeben, wenn der Betroffene in der Hauptverhandlung unentschuldigt ausbleiben sollte.

§ 25 StVG verstoße, soweit er den Ausspruch eines Fahrverbots durch eine Verwaltungsbehörde zulasse, gegen Art. 92 GG, weil das Fahrverbot nach § 25 StVG sich weder in seiner Ausgestaltung noch in den Rechtsfolgen, die an seine Missachtung geknüpft seien, von dem Fahrverbot des § 37 StGB unterscheide. Ein Fahrverbot, das im Zusammenhang mit einem Verkehrsverstoß festgesetzt werde, sei in jedem Falle eine Strafe. Es werde von den Betroffenen nicht nur als einschneidende Maßnahme, sondern auch als gezielter Angriff auf ihre Kraftfahrerehre empfunden. Der Ausspruch des Fahrverbots sei mit einem sozialethischen Unwerturteil verbunden, das den Kraftfahrer im Kern seiner Persönlichkeit treffe. Davon, dass ihm der Ernst der staatlichen Strafe fehle, könne keine Rede sein. § 25 StVG stufe das Fahrverbot zur "Nebenfolge" einer Ordnungswidrigkeit herab, die auch von der Verwaltung angeordnet werden könne. Damit habe der Gesetzgeber eine traditionell der Rechtsprechung zugewiesene Maßnahme aus dem Kriminalbereich herausgenommen und der Exekutive übertragen. Das sei mit Art. 92 GG nicht vereinbar.


II.

1. Die sachlichen Bedenken des vorlegenden Gerichts gegen die Verfassungsmäßigkeit des § 25 Abs. 1 StVG beruhen auf der Erwägung, dass die Anordnung eines Fahrverbots stets Ausübung von Strafgewalt sei, die Art. 92 GG den Richtern vorbehalte. Diese Auffassung ist offensichtlich unbegründet. Im summarischen Verfahren nach § 24 BVerfGG kann daher dahingestellt bleiben, ob die Vorlage deshalb unzulässig ist, weil das Amtsgericht nicht über die Rechtmäßigkeit des von der Verwaltungsbehörde erlassenen Bußgeldbescheides und des darin enthaltenen Fahrverbots zu entscheiden hat, sondern lediglich darüber, ob der Betroffene freigesprochen, gegen ihn eine Geldbuße festgesetzt, eine Nebenfolge angeordnet oder das Verfahren eingestellt wird (vgl. § 66 Abs. 2 Nr. 1 b, § 72 Abs. 2, § 79 Abs. 1 OWiG).

2. a) Ein Fahrverbot ist nicht notwendig eine Kriminalstrafe. Die Kriminalstrafe ist gekennzeichnet durch die Schwere des Eingriffs in die Rechtsstellung des Staatsbürgers. Sie ist mit einem ethischen Schuldvorwurf verbunden, wird regelmäßig ins Strafregister eingetragen und gilt als Vorstrafe (BVerfGE 22, 49 (79)). An all diesen Voraussetzungen fehlt es bei dem Fahrverbot nach § 25 StVG.

Die Möglichkeit, ein Kraftfahrzeug zu führen, beruht auf einer besonderen Erlaubnis. Diese kann zurückgenommen werden, wenn die Voraussetzungen für ihre Erteilung nicht mehr vorliegen. Erweist sich jemand als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen, so muss ihm die Verwaltungsbehörde die Fahrerlaubnis entziehen (§ 4 StVG). Dem § 4 StVG entspricht im strafrechtlichen Bereich die Maßregel der Sicherung und Besserung des § 42 m StGB. Wird jemand wegen einer mit Strafe bedrohten Handlung, die er bei oder im Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeugs oder unter Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers begangen hat, verurteilt, so entzieht ihm das Gericht die Fahrerlaubnis, wenn sich aus der Tat ergibt, dass er zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet ist. Verglichen mit dieser sehr viel weiter gehenden Befugnis, die im Falle des § 4 StVG auch nur nachträglich einer gerichtlichen Kontrolle unterworfen werden kann, ist ein auf höchstens drei Monate befristetes Fahrverbot kein so schwerer Eingriff in die Handlungsfreiheit des Betroffenen, dass es schon deshalb als Kriminalstrafe qualifiziert und damit dessen Anordnung in jedem Falle einem Richter vorbehalten werden müsste.

Als weniger einschneidende Maßnahme im Vergleich zur Entziehung der Fahrerlaubnis, die den Verlust des Führerscheins zur Folge hat, sieht § 37 StGB für Täter, die sich noch nicht als schlechthin ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erwiesen haben, ein befristetes Fahrverbot vor. Wird jemand wegen einer strafbaren Handlung, die er bei oder im Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeugs oder unter Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers begangen hat, zu einer Freiheitsstrafe oder einer Geldstrafe verurteilt, so kann ihm das Gericht für die Dauer von einem Monat bis zu drei Monaten verbieten, im Straßenverkehr Kraftfahrzeuge jeder oder einer bestimmten Art zu führen. Die Tatsache, dass in § 25 StVG die Regelung des § 37 StGB zwar nicht in all ihren Voraussetzungen, wohl aber in ihren Folgen übernommen worden ist, macht das Fahrverbot gleichfalls nicht zu einer Kriminalstrafe.

Das Fahrverbot in § 37 StGB ist zwar als Nebenstrafe konzipiert (vgl. die Begründung zum Regierungsentwurf eines zweiten Gesetzes zur Sicherung des Straßenverkehrs - BTDrucks. IV/651, S. 13). Es soll jedoch nach der einhelligen Meinung von Rechtsprechung und Lehre in erster Linie spezialpräventiv auf nachlässige oder leichtsinnige Kraftfahrer einwirken. Es zielt vor allem auf pflichtvergessene Kraftfahrer, die, um zur Beachtung der Verkehrsregeln angehalten zu werden, eines nachdrücklichen Anrufs bedürfen. Steht aber schon bei dem Fahrverbot des § 37 StGB seinem Wesen und seiner Wirkung nach nicht die Vergeltung für begangenes Unrecht im Sinne einer Kriminalstrafe, sondern die an ein strafbares Verhalten neben der eigentlichen Strafe geknüpfte Pflichtenmahnung zur künftigen Beachtung der Verkehrsregeln im Vordergrund, so war der Gesetzgeber nicht gehindert, dem Fahrverbot im Rahmen der Verkehrsordnungswidrigkeiten den Strafcharakter zu nehmen und es als erzieherische Nebenfolge auszugestalten. Dies ist in § 25 StVG geschehen.

Das Fahrverbot des § 25 StVG hat nach der gesetzgeberischen Intention in erster Linie eine Erziehungsfunktion. Es ist als "Denkzettel- und Besinnungsmaßnahme" (vgl. dazu etwa BT- Drucks. V/1319, S. 90) gedacht und ausgeformt. Die Anordnung des Fahrverbots wird nicht im Strafregister eingetragen, es gilt nicht als Vorstrafe. Ein ethischer Schuldvorwurf ist mit ihm ebensowenig verbunden wie mit der Geldbuße. Davon, dass das Fahrverbot des § 25 StVG ein "gezielter Angriff auf die Kraftfahrerehre" sei und den Betroffenen "im Kern seiner Persönlichkeit" treffe, kann bei nüchterner Betrachtung nicht die Rede sein.

b) Andererseits lässt sich nicht verkennen, dass auch das relativ kurz befristete Fahrverbot besonders lästig und - insbesondere soweit es dem Betroffenen seine berufliche Tätigkeit erschwert - wirtschaftlich folgenreich sein kann. In Anbetracht dessen wäre die Anordnung eines Fahrverbots zwar - gemessen an dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit - bei einem einmaligen Verstoß gegen die in § 24 StVG umschriebenen Verkehrsvorschriften in der Mehrzahl der Fälle keine angemessene, weil übermäßige Unrechtsfolge. § 25 Abs. 1 StVG lässt indessen die Anordnung eines Fahrverbots nur bei einer Ordnungswidrigkeit zu, die "unter grober oder beharrlicher Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers" begangen worden ist. Dieser gesetzlichen Umschreibung ist zu entnehmen, dass das Fahrverbot in aller Regel erst bei wiederholter hartnäckiger Missachtung der Verkehrsvorschriften zur Anwendung gebracht werden kann und dass eine einmalige Zuwiderhandlung nur dann zum Anlass für die Anordnungen eines Fahrverbots genommen werden darf, wenn sich der Betroffene besonders verantwortungslos verhalten hat.

Dem geringen Unrechtsgehalt der Ordnungswidrigkeit entspricht nach dem System des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten als angemessene Reaktion die Geldbuße. Wenn § 25 StVG daneben ausnahmsweise und unter engen Voraussetzungen bei Zuwiderhandlungen gegen Verkehrsvorschriften die Möglichkeit der Anordnung eines befristeten Fahrverbots eröffnet, so ist daraus weiter zu folgern, dass von dieser Möglichkeit jedenfalls erst Gebrauch gemacht werden darf, wenn feststeht, dass der angestrebte Erfolg im Einzelfall auch mit einer empfindlichen und im Wiederholungsfall auch mit einer verschärften Geldbuße nicht erreicht werden kann.

Innerhalb dieser vom Gesetz selbst bereits gezogenen Grenzen hält das Fahrverbot des § 25 StVG der verfassungsrechtlichen Prüfung auch unter dem Blickpunkt des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit stand.

3. Ist nach alledem das ausnahmsweise wegen einer mit Geldbuße bedrohten Ordnungswidrigkeit im Straßenverkehr festzusetzende Fahrverbot keine Kriminalstrafe, so ist auch die Übertragung der Anordnungsbefugnis auf die Verwaltungsbehörden durch § 25 Abs. 1 StVG mit Art. 92 GG vereinbar (vgl. BVerfGE 22, 49 (81)). Art. 19 Abs. 4 GG ist dadurch hinreichend Rechnung getragen, dass der Betroffene gegen den Bußgeldbescheid, der ein Fahrverbot enthält, Einspruch einlegen kann und dass dann die ordentlichen Strafgerichte nach eigenem Ermessen über die Anordnung eines Fahrverbots entscheiden, ohne an die tatsächlichen Feststellungen und deren rechtliche Würdigung im Verwaltungsverfahren vor den Verwaltungsbehörden gebunden zu sein.

4. Davon, dass gegen die in § 25 StVG eröffnete Möglichkeit der Anordnung eines Fahrverbots durch die Gerichte verfassungsrechtliche Bedenken nicht bestehen, geht auch das vorlegende Gericht aus. Solche Bedenken sind auch nicht ersichtlich. § 25 Abs. 1 StVG ist daher auch insoweit, als er die Gerichte im Rahmen eines Verfahrens nach dem Gesetz über Ordnungswidrigkeiten zur Festsetzung eines Fahrverbots ermächtigt, mit dem Grundgesetz vereinbar.