Das Verkehrslexikon

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OLG Hamm Beschluss vom 29.11.1981 - Ss 905/82 - Zur Annahme von Unterschlagung bei Tanken ohne Bezahlung auf einer Selbstbedienungstankstelle

OLG Hamm v. 29.11.1981: Zur Annahme von Unterschlagung bei Tanken ohne Bezahlung auf einer Selbstbedienungstankstelle


Das OLG Hamm (Beschluss vom 29.11.1981 - Ss 905/82) hat entschieden:
  1. Es ist auch bei stark intellektuell geprägten Menschen nicht ausgeschlossen, dass sie vergessen, eine gerade gekaufte Ware zu bezahlen.

  2. Beim Tanken durch Selbstbedienung ist in der Regel - insbesondere, wenn der Verkäufer den Käufer nicht kennt - mangels anderweitiger Vereinbarung ein Eigentumsvorbehalt des Verkäufers an dem getankten Kraftstoff bis zur alsbaldigen Bezahlung oder zur ausdrücklichen Stundung des Kaufpreises als stillschweigend vereinbart anzusehen. Der zunächst zahlungswillige Kunde, der sich nach Beendigung des Tankens entschließt, ohne Bezahlung wegzufahren, macht sich bei Ausführung dieses Entschlusses der Unterschlagung schuldig und bleibt nicht straflos (gegen Herzberg, JA 1980, 385 und OLG Düsseldorf, NStZ 1982, 249 = JR 1982, 343 mit Anm. Herzberg).


Siehe auch Tankbetrug und Verkehrsstrafsachen


Zum Sachverhalt:

Die Angeklagte tankte an einer Tankstelle Normalbenzin für 10 DM. Als der Tankstellenpächter vom Verkaufsraum zur angrenzenden Werkstatthalle ging, fuhr sie, ohne das getankte Benzin bezahlt zu haben, mit ihrem Pkw davon.

Die Angekl. hat sich in der Verhandlung vor dem AG dahin eingelassen, sie habe das Bezahlen “schlicht vergessen". In dem Verfahren hat der Verteidiger hilfsweise den Antrag gestellt, “ein psychologisches Sachverständigengutachten zu der Frage einzuholen, inwieweit es möglich war, das die Angekl. in Anbetracht ihrer psychisch belasteten Situation bei dem automatisierten Handlungsvorgang des Tankens den darin enthaltenen Vorgang des Bezahlens schlicht vergessen, d.h. im Geiste übersprungen hat".

Das AG hat die Angekl wegen Unterschlagung zu einer Geldstrafe von 8 Tagessätzen zu je 20 DM verurteilt und gleichzeitig des hilfsweise gestellten Antrag abgelehnt.

Die Revision der Angeklagten war erfolgreich.


Aus den Entscheidungsgründen:

"... Die Beweiswürdigung des angefochtenen Urteils enthält jedoch Erwägungen, die darauf hindeuten, dass das AG seine Sachkunde überschätzt und deshalb seine richterliche Aufklärungspflicht verkannt hat. Insb. ist die Annahme des AG unzutreffend, dass die von der Angekl. behaupteten "Ausfallerscheinungen" beinahe psychopathische Akzente aufgewiesen hätten. Dass jemand vergisst, eine gerade gekaufte Ware zu bezahlen, ist zwar sicher nicht die Regel, kommt jedoch gelegentlich vor. Insb. ist es - entgegen der Annahme des AG - auch bei stark intellektuell geprägten Menschen nicht ausgeschlossen, sondern von ihnen eher öfter zu erwarten als von einfach strukturierten Personen. So ist die Typenbezeichnung "zerstreuter Professor" nicht ohne jeden Grund allgemein bekannt. Auch ein beherrschter Charakter und eine durch Selbstbeobachtung und Beobachtung anderer Menschen gekennzeichnete Persönlichkeit schließen nicht generell und unter allen Umständen aus, dass eine an sich selbstverständliche geschuldete Handlung - hier: die Bezahlung der gekauften Ware - insb. bei und infolge Ablenkung durch auf völlig anderem Gebiet liegende Probleme oder sonstige beherrschende Gedanken "vergessen" wird. Ehe das AG seine nicht generell zutreffenden Annahmen seiner Beweiswürdigung zugrunde legte, hätte es daher dem Hilfsbeweisantrag des Verteidigers nachkommen müssen. Das darin angebotene Beweismittel war auch nicht völlig ungeeignet i. S. des § 244 III StPO; denn es ging hier nicht um die Auswirkungen einer Geisteskrankheit (vgl. dazu BGHSt 23, 8 [12]) auf die Glaubwürdigkeit einer Person, sondern darum, ob ein geistig gesunder Mensch wie die Angekl. das Bezahlen des soeben gekauften Benzins vergessen haben kann. ...

Herzberg JA 1980, 385) und ihm folgend das OLG Düsseldorf (NStZ 1982, 249 = JR 1982, 343 mit Anm. Herzberg) vertreten allerdings die Meinung, dass beim Tanken durch Selbstbedienung bereits das vom Tankstellenbesitzer oder seinem befugten Personal zugelassene Einfüllen des Kraftstoffes in den Tank nicht nur das Zustandekommen der schuldrechtlichen Vereinbarung (Kaufvertrag), sondern auch die dingliche Übereignung des Kraftstoffes bewirke. Für die dingliche Einigung gelte das insb., weil an die Klarheit eines vom Verkäufer bei der Übergabe einseitig erklärten Eigentumsvorbehalts - bis zur Bezahlung oder ausdrücklichen Stundung - besondere Anforderungen zu stellen seien. Die von keiner ausdrücklichen Vorbehaltserklärung begleitete Übergabe der Sache an den Käufer sei. i.d.R. Erfüllung der Verkäuferpflicht, drücke also den unbedingten Übereignungswillen des Verkäufers aus. Von dieser Regel für den Vorgang des Selbstbedienungstankens abzuweichen, bestehe kein Anlass.

Würde der Senat dieser Ansicht folgen, hätte er die Angekl. aufgrund des vom AG festgestellten Sachverhalts bereits aus Rechtsgründen freisprechen müssen. Denn nach diesen Feststellungen hat die Angekl. den Entschluss, ohne Bezahlung abzufahren, "spontan" erst gefasst, als sie sich - nach dem Einfüllen des Benzins in den Tank ihres Pkw - vom Tankstellenpächter unbeobachtet glaubte. Der Senat versteht die Feststellungen des AG dahin, dass die Angekl. bis zu diesem Zeitpunkt noch gewillt war, den getankten Kraftstoff zu bezahlen. Waren bei dieser Konstellation mit dem vom Tankstellenpächter zugelassenen Einfüllen des Kraftstoffs in den Tank der Kaufvertrag zustande gekommen und Besitz und Gewahrsam an dem getankten Kraftstoff mit Zustimmung des Verkäufers auf die Angekl. als Käuferin übergegangen und hätte die Angekl. darüber hinaus wie Herzberg und das OLG Düsseldorf (jeweils aaO) meinen - auch bereits Eigentum an dem getankten Benzin erworben, wäre ihr Wegfahren ohne Bezahlung aufgrund eines nach dem Einfüllen des Kraftstoffs in den Tank gefassten Entschlusses straflos (so ausdrücklich Herzberg, aaO, S. 392: "Grundsätzlich überhaupt kein Delikt liegt vor, wenn der Entschluss, ohne Bezahlung abzufahren, erst nach der Selbstbedienung gefasst wird. ... Das Benzin im Tank gehört dem Käufer, es ist also kein taugliches Diebstahls- oder Unterschlagungsobjekt.").

Der Senat kann sich der Ansicht Herzbergs und des OLG Düsseldorf, wonach in dem vom Tankstellenbesitzer zugelassenen Einfüllen des Kraftstoffs in den Tank auch bereits die dingliche Übereignung des getankten Kraftstoffs liegen soll, jedoch nicht anschließen. ...

Dass, wie Herzberg und das OLG Düsseldorf meinen, der Vorgang des Tankens an einer Selbstbedienungstankstelle nach der Verkehrsanschauung im Regelfall auch die dingliche Einigung über den Eigentumswechsel an dem getankten Kraftstoff darstelle, hält der Senat für nicht zutreffend. Zwar besteht für keine Gattung des Warenumsatzes ein Handelsbrauch, wonach ein Eigentumsvorbehalt bis zur Bezahlung der Ware als vereinbart gilt. Jedoch ist im Zivilrecht anerkannt, dass ein Eigentumsvorbehalt nicht nur ausdrücklich vereinbart werden, sondern sich auch aus den Umständen ergeben, also als stillschweigend vereinbart angesehen werden kann. Die stillschweigende Vereinbarung eines (regelmäßig kurzfristigen) Eigentumsvorbehalts ist zum Beispiel i. d. R. bei gewöhnlichen Ladenkäufen und bei Käufen auf dem Markt anzunehmen, bei denen sofortige Zahlung an der Kasse erwartet wird und die Eigentumsübertragung regelmäßig nur Zug-um-Zug gegen Bezahlung des Kaufpreises gewollt ist (Staudinger, BGB, 11. Aufl., § 455 Rdnrn. 6 und 9 (Ostler); § 929 Rdnr. 28 (Berg); vgl. auch RGRK, BGB, 12. Aufl., § 455 Rdnr. 3 (Mezger); § 929 Rdnr. 65 (Pikart); Soergel-Mühl, BGB, 11. Aufl., § 929 Rdnr. 22, und Palandt-Putzo, BGB, 41. Aufl., § 455 Anm. 2). Die für die Ansicht von Herzberg und des OLG Düsseldorf (jeweils aaO) angeführten oder darüber hinaus in Betracht zu ziehenden zivilgerichtlichen Entscheidungen (BGH, NJW 1975, 1269 = MDR 1975, 659 = BB 1975, 674 LM Nr. 14 zu § 1006 BGB; BGHZ 64, 397 = NJW 1975, 1699 MDR 1975, 1014 = BB 1975, 1037 = LM Nr. 24 zu § 929 BGB mit Anm. Merz; BGH, NJW 1979, 213 = MDR 1979, 305 = JZ 1979, 33 = BB 1979, 14 = LM Nr. 34 zu § 455 BGB), in denen für die Wirksamkeit des Eigentumsvorbehalts dessen klare und deutliche Erklärung als erforderlich herausgestellt wird, betreffen ausnahmslos andere Sachverhalte, insb. Versendungskäufe, aber keine Geschäfte des täglichen Lebens, bei denen der Kaufpreis üblicherweise durch Barzahlung des Käufers beglichen wird - falls nicht, was hier ausscheidet, diesem vom Verkäufer ausdrücklich Kredit eingeräumt wird oder bereits früher eingeräumt worden ist.

Ohne der weitergehenden Ansicht von Schulte (BB 1977, 269) folgen zu wollen oder sich im vorliegenden Fall damit auseinandersetzen zu müssen, ist der Senat der Rechtsansicht, dass wie bei Käufen auf dem Markt oder in Läden üblicherweise auch beim Tanken an Selbstbedienungstankstellen sofortige Zahlung an der Kasse erwartet wird, falls nicht etwas anderes - etwa Bezahlung jeweils am Monatsende - ausdrücklich vereinbart ist. Daraus folgt, dass in diesen Fällen ein Eigentumsvorbehalt des Verkäufers bis zur Bezahlung (oder etwa der ausdrücklichen nachträglichen Einräumung von Kredit, die hier ausscheidet) regelmäßig als vereinbart anzusehen ist. Das gilt insb. dann, wenn der Verkäufer den Käufer nicht kennt und der Käufer daher nicht davon ausgehen darf, dass ihm Kredit eingeräumt wird. Das Tanken an Selbstbedienungstankstellen ist -von den aufgezeigten Ausnahmen abgesehen - verkehrsüblich als Bargeschäft anzusehen, bei dem nach dem aus den Umständen zu entnehmenden Willen der Beteiligten sofortige Erfüllung zugesagt wird (vgl. Cramer, in: Schönke-Schröder, StGB, 21. Aufl., § 263 Rdnr. 28). ..."