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BGH Beschluss vom 05.04.2006 - IV ZR 253/05 - Zur Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör durch vom Rechtsmittelgericht unterlassene erneute Zeugenvernehmung
BGH v. 05.04.2006: Zur Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör durch vom Rechtsmittelgericht unterlassene erneute Zeugenvernehmung
Der BGH (Beschluss vom 05.04.2006 - IV ZR 253/05) hat entschieden:
Hat das erstinstanzliche Gericht über streitige Äußerungen und die Umstände, unter denen sie gemacht worden sind, Zeugen vernommen und ist es aufgrund einer Würdigung der Aussagen zu einem bestimmten Ergebnis gekommen, so kann das Berufungsgericht diese Auslegung nicht verwerfen und zum gegenteiligen Ergebnis kommen, ohne zuvor die Zeugen gemäß § 398 Abs. 1 ZPO selbst vernommen zu haben.
Siehe auch Zeugenbeweis und ZPO-Probleme
Gründe:
Der Beklagte rügt zu Recht eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG durch rechtsfehlerhafte Anwendung der prozessualen Vorschrift des § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO. Auf dieser Verletzung beruht das angefochtene Urteil.
1. Bestehen aus Sicht des Berufungsgerichts Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen, sind die Eingangsvoraussetzungen des § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO gegeben. Es sind erneute Feststellungen geboten, wobei die eigenständige Würdigung der in erster Instanz erhobenen Beweise durch das Berufungsgericht bereits eine solche erneute Tatsachenfeststellung darstellt. Die Frage, ob und inwieweit das Berufungsgericht im Zuge dieser erneuten Tatsachenfeststellung zu einer Wiederholung der erstinstanzlichen Beweisaufnahme verpflichtet ist, beantwortet sich nach den von der Rechtsprechung schon zum bisherigen Recht entwickelten Grundsätzen (BGHZ 158, 269, 272 f., 274 f.). Nach alter Rechtslage war es erforderlich, Zeugen erneut zu vernehmen, wenn das Berufungsgericht protokollierte Aussagen anders als die Vorinstanz verstehen oder werten wollte (BGH, Urteile vom 22. Mai 2002 - VIII ZR 337/00 - NJW-RR 2002, 1500 unter II 1; vom 17. Dezember 2002 - XI ZR 290/01 - BGH-Report 2003, 453 unter II 1 a und b; vom 28. November 1995 - XI ZR 37/95 - WM 1996, 196 unter III 3). Hat also das erstinstanzliche Gericht über streitige Äußerungen und die Umstände, unter denen sie gemacht worden sind, Zeugen vernommen und ist es aufgrund einer Würdigung der Aussagen zu einem bestimmten Ergebnis gekommen, so kann das Berufungsgericht diese Auslegung nicht verwerfen und zum gegenteiligen Ergebnis kommen, ohne zuvor die Zeugen gemäß § 398 Abs. 1 ZPO selbst vernommen zu haben.
2. Diesen Grundsätzen hat das Berufungsgericht nicht Rechnung getragen.
Es hat ausweislich Ladungsverfügung und Sitzungsniederschrift die Zeuginnen B. und H. allein zu der Frage gehört, ob die Zeugin B. vor ihrer erstinstanzlichen Vernehmung vom Beklagten, ihrem geschiedenen Ehemann, unter Druck gesetzt worden ist. Ungeachtet dieses beschränkten Beweisthemas hat das Berufungsgericht im Nachfolgenden eine umfassende und von der landgerichtlichen Würdigung abweichende Bewertung der erstinstanzlichen Aussagen vorgenommen. Es hat dabei insbesondere nicht deutlich gemacht, auf welche Weise die Zeugin B. die erstinstanzlichen Bekundungen "bekräftigt" und Unklarheiten in ihren bisherigen Angaben ausgeräumt haben soll; aus Sitzungsniederschrift und Entscheidungsgründen ergibt sich dazu nichts.
Der Zeuge Bo. ist vom Berufungsgericht nicht vernommen worden. Ungeachtet dessen zeigt sich das Berufungsgericht davon überzeugt, dass dieser bei seiner landgerichtlichen Aussage "einiges durcheinander geworfen" habe und stellt die Bekundungen des Zeugen Bo. insgesamt in einen anderen Zusammenhang als das Landgericht, ohne sich einen eigenen Eindruck von dem Zeugen verschafft zu haben. Es kommt dabei nicht darauf an, dass der - vom Landgericht vernommene - Zeuge Bo. in der Berufungsbegründung nicht ausdrücklich (erneut) als Beweismittel benannt ist. Überdies hätte es sich vom - unrichtigen - Standpunkt des Berufungsgerichts aus erst recht verboten, sich mit der Aussage des Zeugen Bo. zu befassen. Stattdessen hat das Berufungsgericht die Aussage des Zeugen für seine Entscheidung herangezogen und ist noch dazu zu einem anderen Ergebnis als das Landgericht gekommen.
3. Für das weitere Verfahren wird das Berufungsgericht zu beachten haben:
a) Die Auslegung des Schreibens vom 1. Juni 1989 ist rechtsfehlerhaft, weil es über dessen Wortlaut hinausgeht und den Interessen der Beteiligten nicht ausreichend Rechnung trägt. In diesem Schreiben bestätigen die Klägerin und ihr Ehemann, der Zeuge Bo., der finanzierenden Bank, ihrem Sohn - dem Beklagten - 100.000 DM für die Baufinanzierung "zur Verfügung zu stellen". Der vom Berufungsgericht daraus gezogene Schluss, diese Formulierung lege die "Vereinbarung der Rückzahlbarkeit" deshalb nahe, weil sie das Weiterbestehen von Rechten der Eheleute B. an dem hingegebenen Betrag voraussetze und von einer Schenkung ausdrücklich nicht die Rede sei, ist nicht nachvollziehbar. Der Ausdruck "zur Verfügung stellen" ist rechtlich neutral und besagt nichts über eine etwaige Rückzahlbarkeit. Wenn zudem der Zusammenhang, in dem die Formulierung verwendet wurde, und die Interessen der damals Beteiligten berücksichtigt werden, spricht dies gegen ein Darlehen. Die Klägerin weist zu Recht darauf hin, dass es bei der Bestätigung, ein bestimmtes Eigenkapital sei vorhanden, entscheidend darauf ankommt, dass der Darlehensnehmer den Betrag "hat" und sich nicht von dritter Seite durch ein zusätzliches Darlehen verschaffen muss. Denn die finanzierende Bank beurteilt unter anderem anhand des vorhandenen Eigenkapitals das Risiko der beabsichtigten Darlehensgewährung.
Mit der testamentarischen Verfügung vom 6. April 1994 setzt sich das Berufungsgericht nicht näher auseinander, sondern geht ohne weitere Begründung davon aus, die Verfügung setze ebenfalls das "Weiterbestehen von Rechten an dem hingegebenen Betrag voraus".
b) Das Berufungsgericht wird schließlich den aus § 432 BGB begründeten Einwendungen des Beklagten nachzugehen haben.