Das Verkehrslexikon

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BGH Urteil vom 04.06.1985 - VI ZR 15/84 - Zur Haftungsabwägung bei Zusammenstoß zwischen wendendem Kfz-Führer und zu schnellem Gegenverkehr

BGH v. 04.06.1985: Zur Haftungsabwägung bei Zusammenstoß zwischen wendendem Kfz-Führer und zu schnellem Gegenverkehr


Der BGH (Urteil vom 04.06.1985 - VI ZR 15/84) hat entschieden:
  1. Stößt ein wendendes Kraftfahrzeug mit einem ihm entgegenkommenden Kraftwagen zusammen, so wird der für ein unfallursächliches Fehlverhalten des Wendenden sprechende Anscheinsbeweis durch die Feststellung erschüttert, dass der mit ihm kollidierende Verkehrsteilnehmer die zulässige Höchstgeschwindigkeit erheblich überschritten hat (hier 100 km/h bis 107 km/h statt erlaubter 50 km/h).

  2. Das Verschulden des Wendenden kann sich jedoch daraus ergeben, dass er den Wendevorgang eingeleitet hat, als der ihm entgegenkommende Kraftfahrer sich für ihn erkennbar bereits in einem gefährlichen Annäherungsbereich befand.

Siehe auch Wenden und Haftung/Schadensersatz

Tatbestand:

Die Parteien nehmen sich nach einem Verkehrsunfall gegenseitig auf Schadensersatz in Anspruch.

Der Widerbeklagte zu 2) (künftig: der Widerbeklagte) befuhr am 26. Dezember 1977 gegen 1.55 Uhr mit seiner bei der Klägerin haftpflichtversicherten Taxe unter Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit in H.-W. die Z.-Straße in Richtung Innenstadt. Ihm kam der bei der Erstbeklagten haftpflichtversicherte VW-PKW des Zweitbeklagten entgegen, der von dem Drittbeklagten mit einer Blutalkoholkonzentration von 0,6 bis 0,7 Promille gesteuert wurde. Der Drittbeklagte wollte den VW wenden. Dabei kam es zwischen beiden Kraftwagen zur Kollision. Bei dem Unfall wurde die in dem VW befindliche Frau A. erheblich verletzt. Die Klägerin erbrachte ihr Schadensersatzleistungen in Höhe von 83.043,56 DM, von denen sie 15.000 DM aufgrund eines mit der Erstbeklagten bestehenden Teilungsabkommens hälftig verrechnete. Mit der Klage nahm sie die Beklagten auf 70 % des Restbetrages (= 47.630,49 DM) und auf Feststellung der Ersatzpflicht in Höhe von 70 % ihrer künftigen Aufwendungen in Anspruch. Der Zweitbeklagte, dessen Fahrzeugschaden von seinem Kaskoversicherer mit der Folge einer Rückstufung des Schadensfreiheitsrabatts reguliert worden ist, verlangte im Wege der Widerklage die Feststellung, dass die Klägerin und der Widerbeklagte ihm zum Ersatz des aus der Rückstufung entstehenden Schadens verpflichtet seien.

Das Landgericht gab der gegen die Erst- und den Drittbeklagten gerichteten Klage und der Widerklage je zur Hälfte statt. Das Oberlandesgericht hat die Klage in vollem Umfang abgewiesen und auf die Widerklage die Ersatzpflicht der Klägerin und des Widerbeklagten für 70 % des dem Zweitbeklagten entstehenden Rückstufungsschadens festgestellt.

Mit ihrer Revision erstreben die Klägerin und der Widerbeklagte die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils.


Entscheidungsgründe:

I.

Das Berufungsgericht verneint einen Ausgleichsanspruch der Klägerin nach § 426 BGB, da die Beklagten für die Verletzung der Frau A. nicht einzustehen hätten. Eine Haftung der Beklagten nach den Vorschriften des Straßenverkehrsgesetzes scheide aus, weil Frau A. unentgeltlich befördert worden sei (§ 8 a StVG). Auch eine Ersatzpflicht der Erst- und des Drittbeklagten gemäß den §§ 823 BGB, 3 PflVG sei nicht gegeben, da nicht festzustellen sei, dass der Drittbeklagte bei seinem Wendemanöver schuldhaft gegen die Vorschrift des § 9 Abs. 5 StVO verstoßen habe. Für seinen grundsätzlich gegebenen Anspruch auf Ersatz des Rückstufungsschadens müsse sich der Zweitbeklagte im Rahmen seiner Feststellungswiderklage die Betriebsgefahr seines VW zurechnen lassen, die gegenüber der durch das Verschulden des Widerbeklagten erheblich erhöhten Betriebsgefahr der Taxe mit 30 % zu bewerten sei, so dass die Klägerin und der Widerbeklagte den Rückstufungsschaden des Zweitbeklagten zu 70 % zu ersetzen hätten.


II.

Das Berufungsurteil hält den Angriffen der Revision nicht stand.

1. Mit Recht verneint das Berufungsgericht allerdings eine Ersatzpflicht der Beklagten aus dem Gesichtspunkt der Gefährdungshaftung. Da Frau A. von dem Drittbeklagten in dem Fahrzeug des Zweitbeklagten unentgeltlich befördert worden ist, scheidet gemäß § 8 a Abs. 1 StVG eine Halterhaftung des Zweitbeklagten nach § 7 Abs. 1 StVG aus. Dasselbe gilt für eine Ersatzpflicht des Drittbeklagten aus vermutetem Verschulden nach § 18 Abs. 1 StVG. In Betracht kommen kann von vornherein nur eine Haftung aus von der Klägerin nachzuweisendem Verschulden.

2. Nicht gefolgt werden kann dem Berufungsgericht jedoch dahin, dass nach den getroffenen Feststellungen auch eine solche Verschuldenshaftung der Erst- und des Drittbeklagten gemäß den §§ 823 BGB, 3 PflVG ausscheide.

a) Rechtsfehlerfrei und von der Revision als ihr günstig nicht angegriffen ist der Ausgangspunkt des Berufungsgerichts, dass der erste Anschein für ein schuldhaftes Fehlverhalten des Drittbeklagten spricht. Nach der Lebenserfahrung ist dann, wenn ein wendendes Kraftfahrzeug mit einem Fahrzeug des fließenden Verkehrs zusammenstößt, die Schlussfolgerung geboten, der Wendende habe sich nicht gemäß § 9 Abs. 5 StVO so verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen war. In solchen Fällen liegt deshalb ein typischer Geschehensablauf vor, der auf ein Fehlverhalten des Wendenden als Unfallursache hinweist (zum Anscheinsbeweis allgemein siehe Senatsurteile v. 29. Januar 1974 – VI ZR 53/71 – VersR 1974, 750, 751 und v. 4. Oktober 1983 – VI ZR 98/82 – VersR 1984, 40, 41).

b) Rechtlich nicht zu beanstanden ist auch die Annahme des Berufungsgerichts, der für einen unfallursächlichen Verkehrsverstoß des Drittbeklagten sprechende Anschein sei durch die Tatsache erschüttert, dass der Widerbeklagte sich der Unfallstelle mit der die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h erheblich überschreitenden Geschwindigkeit von 100 bis 107 km/h genähert hat.

Die Ausräumung des Anscheinsbeweises erfordert, dass der von ihm Betroffene Tatsachen darlegt und gegebenenfalls beweist, aus denen sich die ernsthafte Möglichkeit eines anderen Ursachenverlaufs ergibt (Senatsurteile vom 20. Juni 1978 – VI ZR 15/77 – VersR 1978, 945 und vom 3. Juli 1984 – VI ZR 238/82 – VersR 1984, 871, 872). Diese Möglichkeit ist hier deshalb gegeben, weil der Widerbeklagte wegen der erheblich überhöhten Geschwindigkeit seiner Taxe bei Beginn des Wendemanövers des VW von diesem noch so weit entfernt gewesen sein kann, dass der Drittbeklagte auch bei – jedenfalls in Grenzen – in Rechnung zu stellender Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit durch das ihm entgegenkommende Fahrzeug (vgl. Senatsurteil vom 14. Februar 1984 – VI ZR 229/82 – VersR 1984, 440, 441) dessen Gefährdung für ausgeschlossen halten durfte. Das reicht zur Ausräumung des Anscheinsbeweises aus. Würde man von den Beklagten dazu den weitergehenden Nachweis verlangen, dass tatsächlich ein solcher Abstand der Fahrzeuge bei Beginn des Wendevorgangs gegeben war, so liefe das auf eine mit der Rechtslage nicht zu vereinbarende Beweislast der Beklagten für verkehrsgerechtes Verhalten des Drittbeklagten hinaus.

c) Mit Recht beanstandet die Revision jedoch, dass das Berufungsgericht dem Vorbringen der Klägerin nicht weiter nachgegangen ist, der Widerbeklagte sei bei Einleitung des Wendemanövers des Drittbeklagten maximal noch 50 m von dem VW entfernt gewesen. Das Berufungsgericht meint hierzu, es könne nicht festgestellt werden, dass der Drittbeklagte seinen Wendevorgang in einer Situation eingeleitet habe, in der es auch dann zu einer Kollision mit der herannahenden Taxe habe kommen müssen, wenn diese eine Geschwindigkeit von 50 km/h eingehalten oder jedenfalls nicht erheblich überschritten hätte; es sei durchaus möglich, dass der Widerbeklagte nicht sogleich gebremst habe, als der Drittbeklagte mit dem Wenden begann, und demgemäß bei Einleitung des Wendemanövers noch wesentlich weiter als 50 m von der Unfallstelle entfernt gewesen sei. Das Berufungsgericht hat insoweit nicht geprüft, welche unstreitigen oder erwiesenen Umstände für den von der Klägerin behaupteten gefährlichen Annäherungsbereich der Fahrzeuge bei Beginn des Wendemanövers des Drittbeklagten sprechen. So hätte es, gegebenenfalls nach sachverständiger Beratung, erwägen müssen, ob aus der vom Sachverständigen H. auf 71 bis 75 km/h errechneten und damit sehr hohen Aufprallgeschwindigkeit der vom Widerbeklagten gesteuerten Taxe jedenfalls dann der Schluss auf einen für den Drittbeklagten bei gehöriger Aufmerksamkeit erkennbar gefährlich geringen Abstand der beiden Fahrzeuge gezogen werden kann, wenn der Drittbeklagte den Wendevorgang zügig in einem Bogen ausgeführt hat und keine tatsächlichen Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Widerbeklagte unaufmerksam gefahren ist oder aus sonstigen Gründen verspätet reagiert hat. Dass der Widerbeklagte nach dem vom Sachverständigen im Strafverfahren erstatteten Gutachten bei Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h seine Taxe auf 25 m und damit innerhalb der Bremsspur von 29 m hätte anhalten können, ist nicht geeignet, ein unfallursächliches Fehlverhalten des Drittbeklagten auszuräumen. Zum einen musste, wie bereits gesagt, der Drittbeklagte, der unstreitig die Scheinwerfer des ihm entgegenkommenden Fahrzeugs des Widerbeklagten gesehen hat, damit rechnen, dass dieser mit höherer als der zugelassenen Geschwindigkeit fahren würde. Zum anderen entfällt ein Verstoß des Wendenden gegen das von der Vorschrift des § 9 Abs. 5 StVO verlangte äußerste Maß an Sorgfalt (BGHSt 11, 296, 298) nicht schon dann, wenn der ihm entgegen kommende Verkehrsteilnehmer noch in der Lage ist, durch (eventuell scharfes) Bremsen oder Ausweichen einen Zusammenstoß zu vermeiden (vgl. Senatsurteil vom 26. April 1960 – VI ZR 94/59 – VersR 1960, 755, 757).

3. Die Klageabweisung kann auch nicht auf die §§ 636, 637 RVO gestützt werden. Die Vorschrift des § 636 RVO befasst sich nach ihrem eindeutigen Wortlaut allein mit der Schadensersatzpflicht des Unternehmers ; sie gewährt keine Haftungsfreistellung, wenn ein Arbeitnehmer seinen Unternehmer verletzt. Eine solche kann auch nicht aus § 637 Abs. 1 RVO hergeleitet werden (vgl. Senatsurteil vom 6. Mai 1980 – VI ZR 58/79 – VersR 1980, 844, 845 f mit Anm. Plagemann, VersR 1981, 632, dessen Kritik eine hier nicht gegebene Fallgestaltung betrifft).

4. Da die vom Berufungsgericht ausgesprochene Klageabweisung der rechtlichen Nachprüfung nicht standhält, kann auch die auf ihrer Grundlage getroffene, über das Urteil des Landgerichts hinausgehende Feststellung der Pflicht der Klägerin und des Widerbeklagten zum Ersatz des dem Zweitbeklagten aus der Rückstufung in seiner Kaskoversicherung entstehenden Schadens nicht bestehen bleiben.


III.

Das angefochtene Urteil ist deshalb aufzuheben und die Sache gemäß § 565 Abs. 1 ZPO an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.