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OLG Karlsruhe Urteil vom 12.01.2012 - 9 U 169/10 - Zur vollen Haftung des Wartepflichtigen bei einem Einmündungsunfall "rechts vor links"
OLG Karlsruhe v. 12.01.2012: Zur vollen Haftung des Wartepflichtigen bei einem Einmündungsunfall "rechts vor links"
Das OLG Karlsruhe (Urteil vom 12.01.2012 - 9 U 169/10) hat entschieden:
- Bei einer Vorfahrtsverletzung an einer Einmündung, an der die Regel "rechts vor links" gilt, haftet der Wartepflichtige in der Regel allein, wenn eine Pflichtverletzung des Vorfahrtsberechtigten nicht vorliegt bzw. nicht nachgewiesen ist.
- Zu Gunsten des Vorfahrtsberechtigten gilt der so genannte Vertrauensgrundsatz; das heißt, er darf normalerweise darauf vertrauen, dass ein Fahrzeug, das sich von links nähert, rechtzeitig vor der Einmündung anhalten wird.
- Den Vorfahrtsberechtigten trifft kein Vorwurf, wenn er in der Zeit unmittelbar vor der Kollision nicht nach links schaut, weil er seinerseits den Vorrang von Fahrzeugen berücksichtigen muss, die sich eventuell aus der anderen Richtung - aus seiner Sicht von rechts - der Einmündung nähern.
- Aus dem Umstand allein, dass der Vorfahrtberechtigte sich mit relativ geringer Geschwindigkeit der gleichberechtigten Einmündung nähert, kann und darf der Wartepflichtige nicht auf einen Vorfahrtsverzicht schließen, wenn auf Grund der Örtlichkeit (Einmündungsbereich; Höchstgeschwindigkeit 30 km/h) alle Fahrzeuge ohnehin nur mit relativ geringer Geschwindigkeit fahren dürfen.
Siehe auch Die Vorfahrtregel "rechts vor links" und Verzicht auf das Vorfahrtrecht - Vorrangverzicht
Aus den Entscheidungsgründen:
I.
Am 21.03.2009 kam es in Freiburg zu einem Verkehrsunfall, an welchem die Klägerin als Fahrerin eines Pkw Opel Astra und der Beklagte als Fahrer eines Lkw Iveco beteiligt waren. Die Klägerin befuhr die Verbindungsstraße von der ... zur ..., und wollte an der Einmündung zur ... nach links einbiegen. Der Beklagte befuhr mit dem Lkw die ... – aus der Sicht der Klägerin von links kommend – und wollte an der einmündenden Straße geradeaus weiter fahren. Im Bereich der Einmündung kam es zur Kollision der beiden Fahrzeuge. Beide Fahrzeuge wurden beschädigt. Es gab im Bereich der Einmündung keine Vorfahrtsregelung durch Verkehrszeichen, so dass für die Vorfahrt die Regel rechts vor links galt. Sowohl auf der vom Beklagten befahrenen ..., als auch auf der von der Klägerin befahrenen Verbindungsstraße, war die Höchstgeschwindigkeit auf 30 km/h begrenzt.
Die Klägerin hat im Verfahren vor dem Landgericht von dem Beklagten Ersatz ihres Schadens (Fahrzeugschaden, Sachverständigenkosten, Unkostenpauschale, Abschleppkosten und Nutzungsausfall) erlangt. Sie hat die Auffassung vertreten, der Beklagte sei aufgrund einer Vorfahrtsverletzung allein verantwortlich für den Unfall. Der Beklagte ist der Klage entgegen getreten. Eine Vorfahrtsverletzung liege nicht vor. Der Beklagte hat zudem bestritten, dass die Klägerin Eigentümerin des beschädigten Pkw Opel Astra gewesen sei. Im Übrigen hat der Beklagte Einwendungen zur Höhe verschiedener Schadenspositionen erhoben.
Das Landgericht hat mit Urteil vom 22.10.2010 dem Klageantrag im Wesentlichen entsprochen, und den Beklagten zur Zahlung von 6.623,– Euro nebst Zinsen verurteilt. Nach der durchgeführten Beweisaufnahme, insbesondere nach dem Ergebnis des Gutachtens des Sachverständigen K. zum Unfallablauf, stehe fest, dass der Beklagte für den Unfall allein verantwortlich sei, weil er die Vorfahrt des von rechts kommenden Fahrzeugs der Klägerin verletzt habe. Daher hafte er für den Schaden der Klägerin in voller Höhe. Von den geltend gemachten Schadenspositionen sei lediglich beim Fahrzeugschaden ein geringfügiger Abzug vorzunehmen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf das Urteil des Landgerichts verwiesen.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die Berufung des Beklagten. Im Berufungsverfahren akzeptiert der Beklagte, dass er die Vorfahrt der Klägerin verletzt habe; hieraus ergebe sich jedoch eine Haftung lediglich in Höhe einer Quote von 50 Prozent, da die Klägerin die Kollision durch einen erheblichen eigenen Verkehrsverstoß mitverursacht habe. Die erstinstanzlichen Angaben der Klägerin zum Unfallablauf seien teilweise unglaubwürdig. Sie hätte bei genügender Aufmerksamkeit ohne Schwierigkeiten erkennen können, dass sich der Beklagte von links mit dem Lkw der Einmündung näherte. Aus dem erstinstanzlichen Gutachten des Sachverständigen K. ergebe sich, dass die Klägerin den Unfall unschwierig hätte vermeiden können, wenn sie etwa zwei Sekunden vor der Kollision nach links geschaut hätte; denn dann hätte sie das Fahrzeug des Beklagten gesehen, und hätte rechtzeitig vor der Einmündung anhalten können. Die Klägerin sei sozusagen "blind” in die ... hineingefahren. Das Landgericht habe die Feststellungen des Sachverständigen K. in diesem Punkt nicht ausreichend berücksichtigt. Angesichts des Unfallablaufs sei sogar nicht auszuschließen, dass die Klägerin den Unfall bewusst provoziert habe. Unter den gegebenen Umständen habe sich der Beklagte – entgegen der Auffassung des Landgerichts – zudem keineswegs grob verkehrswidrig verhalten, so dass in jedem Fall eine Mithaftung der Klägerin zu berücksichtigen sei. Der Beklagte bestreitet im Übrigen auch im Berufungsverfahren die Aktivlegitimation der Klägerin. Sie habe nicht nachgewiesen, dass sie zum Zeitpunkt der Kollision Eigentümerin des von ihr gefahrenen Pkw gewesen sei; die Beweiswürdigung des Landgerichts sei in diesem Punkt unzureichend. Außerdem habe die Klägerin die Höhe des Fahrzeugschadens nicht nachgewiesen. Es sei weder von der Klägerin vorgetragen, noch vom Landgericht festgestellt, in welchem Umfang ein Vorschaden des Fahrzeugs Auswirkungen auf den Wiederbeschaffungswert gehabt habe.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Landgerichts Freiburg vom 22.10.2010, Az. 8 O 123/09, im Kostenpunkt aufzuheben und im Übrigen wie folgt abzuändern:
Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 3.311,50 Euro nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 2.872,35 Euro seit 17.04.2009 und aus weiteren 173,16 Euro seit 09.06.2009 und aus weiteren 266,– Euro seit dem 26.06.2009 zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung kostenpflichtig zurückzuweisen.
Die Klägerin verteidigt das Urteil des Landgerichts. Sie ergänzt und vertieft ihren erstinstanzlichen Vortrag.
II.
Die zulässige Berufung des Beklagten führt lediglich bei der Schadenshöhe zu einer geringfügigen Korrektur der Abrechnung des Landgerichts. Im Übrigen ist die Berufung des Beklagten nicht begründet. Zu Recht hat das Landgericht festgestellt, dass der Beklagte in voller Höhe für den Schaden der Klägerin aus dem Unfallereignis vom 21.03.2009 haftet.
1. Der Beklagte hat das Urteil des Landgerichts lediglich zum Teil angefochten, nämlich insoweit, als das Landgericht seiner Abrechnung eine Haftung des Beklagten zugrunde gelegt hat, die über eine Quote von 50 Prozent hinaus geht. Das bedeutet, dass das Urteil des Landgerichts im Berufungsverfahren nicht angegriffen ist, soweit der Beklagte zur Zahlung eines Betrages in Höhe von 3.311,50 Euro mit Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 2.872,35 Euro seit dem 17.04.2009, aus weiteren 173,16 Euro seit dem 09.06.2009 und aus weiteren 266,– Euro seit dem 26.06.2009 verurteilt worden ist. Das erstinstanzliche Urteil ist im Berufungsverfahren nur insoweit zu überprüfen, als die Entscheidung des Landgerichts über die angegebenen (nicht angegriffenen) Beträge hinausgeht.
2. Die Teilanfechtung begrenzt allerdings – entgegen der Auffassung der Klägerin – nicht den Umfang der möglichen Einwendungen des Beklagten. Er ist auch bei einer quotenmäßigen Teilanfechtung berechtigt, – im Rahmen des begrenzten Berufungsantrags – den Grund des Anspruchs und die von der Klägerin geltend gemachte Schadenshöhe zu bestreiten. Die entsprechenden Einwendungen des Beklagten sind mithin im Berufungsverfahren vom Senat zu prüfen. Wenn der Beklagte einen Teil der Entscheidung des Landgerichts akzeptiert, ergeben sich daraus keine Rechtskraftwirkungen hinsichtlich der Entscheidungsgründe (im Hinblick auf Aktivlegitimation und Schadenshöhe) für den anderen Teil der Verurteilung, der aufgrund der Anträge des Beklagten Gegenstand des Berufungsverfahrens ist.
3. Das Landgericht hat den Beklagten zu Recht verurteilt, den Schaden der Klägerin aus dem Verkehrsunfall vom 21.03.2009 in voller Höhe zu ersetzen.
a) Die Haftung des Beklagten beruht auf § 18 Abs. 1 Satz 1 StVG. Er ist als Fahrer des unfallbeteiligten Fahrzeugs nach dieser Vorschrift für den Schaden der Klägerin verantwortlich. Er kann sich gegenüber dem Anspruch der Klägerin nicht auf mangelndes Verschulden (§ 18 Abs. 1 Satz 2 StVG) berufen; denn er hat den Unfall durch eine Vorfahrtsverletzung (§ 8 Abs. 1 Satz 1 StVO) verursacht. Das aus seiner Sicht im Einmündungsbereich von rechts kommende Fahrzeug der Klägerin war bevorrechtigt. Im Berufungsverfahren besteht zwischen den Parteien darüber kein Streit mehr.
b) Die Klägerin ist auch aktivlegitimiert. ... (wird ausgeführt)
4. Eine eventuelle Mitverantwortung der Klägerin führt nicht zu einer Reduzierung der Haftungsquote. Gemäß §§ 18 Abs. 3, 17 Abs. 2 StVG sind die beiderseitigen Verursachungsbeiträge bei einem Verkehrsunfall abzuwägen. Diese Abwägung führt im vorliegenden Fall dazu, dass die Mitverursachung durch die Klägerin gegenüber dem erheblichen Verschulden des Beklagten vollständig zurücktritt, so dass dieser in voller Höhe haftet.
a) Auf Seiten des Beklagten ist bei der Abwägung dessen Vorfahrtsverletzung festzustellen. Die Beachtung der Vorfahrt ("rechts vor links” gemäß § 8 Abs. 1 Satz 1 StVO) gehört zu den Grundregeln des Straßenverkehrs. Eine Vorfahrtsverletzung ist generell als schwerwiegender Verkehrsverstoß zu bewerten.
Es sind keine Umstände ersichtlich, welche die Bedeutung des Verkehrsverstoßes im vorliegenden Fall relativieren könnten. Der Beklagte hat das sich von rechts nähernde Fahrzeug der Klägerin vor der Kollision nach seinen eigenen Angaben gesehen. Es gab – sowohl nach den Angaben des Beklagten als auch nach den Feststellungen des Sachverständigen K. vor Ort – keinerlei Sichtbehinderungen. Wenn der Beklagte meinte (vgl. seine Angaben im Termin vom 27.09.2010, I 269), er sei davon ausgegangen, dass er durchfahren könne, ist dies nur durch eine objektiv nicht nachvollziehbare Fehleinschätzung der Situation zu erklären. Da er das sich der Einmündung nähernde Fahrzeug der Klägerin gesehen hatte, hätte er in jedem Fall vor der Einmündung anhalten können und müssen.
Eine abweichende Beurteilung zugunsten des Beklagten könnte allenfalls dann in Betracht kommen, wenn er aufgrund bestimmter Umstände den Eindruck hätte haben können, dass die Klägerin auf ihr Vorfahrtsrecht verzichten wollte (vgl. dazu beispielsweise Grüneberg, Haftungsquoten bei Verkehrsunfällen, 11. Auflage 2008, Vorbemerkung zu Randnummer 48). Eine solche Situation war jedoch auch nach dem eigenen Vorbringen des Beklagten nicht gegeben. Insbesondere hat er selbst nicht geltend gemacht, die Klägerin habe ihr Fahrzeug zunächst vor der Einmündung angehalten, um ihn vorbeifahren zu lassen. Aus dem Umstand allein, dass die Klägerin sich mit relativ geringer Geschwindigkeit der Einmündung näherte, konnte und durfte der Beklagte nicht auf einen Vorfahrtsverzicht der Klägerin schließen; denn aufgrund der Örtlichkeit (Einmündungsbereich; Höchstgeschwindigkeit 30 km/h) konnten alle Fahrzeuge ohnehin nur mit relativ geringer Geschwindigkeit fahren.
b) Dem erheblichen Verschulden des Beklagten steht kein schuldhafter Verkehrsverstoß der Klägerin gegenüber, welcher bei der Abwägung der Verursachungsbeiträge zu berücksichtigen wäre.
aa) Der Klägerin ist nicht vorzuwerfen, dass sie mit überhöhter Geschwindigkeit (§ 3 Abs. 1 StVO) an die Einmündung herangefahren wäre. Zum Einen hat der Beklagte selbst angegeben, die Klägerin habe sich mit langsamer Geschwindigkeit von rechts genähert (vgl. das Protokoll des Landgerichts vom 27.09.2010, Seite 4, I 269). Zum Anderen hat der Sachverständige K. in seinem Gutachten eine Kollisionsgeschwindigkeit für den Pkw von lediglich 15 bis 20 km/h ermittelt.
bb) Entscheidend für die Verpflichtungen der Klägerin in der konkreten Situation war der im Straßenverkehr geltende sogenannte Vertrauensgrundsatz. Der vorfahrtsberechtigte Verkehrsteilnehmer kann sich grundsätzlich darauf verlassen, dass andere Verkehrsteilnehmer sein Vorfahrtsrecht beachten. Diese Regel gilt nicht nur, wenn der vorfahrtsberechtigte Verkehrsteilnehmer auf einer bevorrechtigten Straße fährt, sondern auch dann, wenn ihm das Vorfahrtsrecht deshalb zusteht, weil er von rechts kommt (vgl. BGH, NJW 1985, 2757, 2758). Der Vertrauensgrundsatz gilt daher insbesondere auch in den Fällen einer sogenannten "halben Vorfahrt”, also dann, wenn an einer Einmündung die Regel "rechts vor links” gilt, so dass eine Kraftfahrerin wie die Klägerin zwar die Vorfahrt der Fahrzeuge beachten muss, die von rechts kommen, ihrerseits aber den Vorrang vor den von links kommenden Fahrzeugen hat (vgl. KG, NZV, 2002, 79). Die Klägerin hat eingeräumt, dass sie – als sie noch eine gewisse Strecke von der Einmündung entfernt war –, den sich von links nähernden Lkw des Beklagten gesehen hat. Da es umgekehrt für den Beklagten keine Sichtbehinderung gab und die Vorfahrtsregelung eindeutig war, durfte die Klägerin darauf vertrauen, dass der Beklagte ihr Fahrzeug erkennen, und ihr dementsprechend den Vorrang an der Einmündung gewähren würde.
cc) Der Beklagte weist allerdings zutreffend daraufhin, dass die Klägerin den Unfall hätte vermeiden können, wenn sie etwa zwei Sekunden vor der Kollision nach links – in die Richtung, aus der sich der Beklagte näherte – geschaut hätte. Zu diesem Zeitpunkt hat sich die Klägerin mit ihrem Fahrzeug nach dem Gutachten des Sachverständigen K. noch etwa 7 bis 7,5 Meter von der Einmündung entfernt befunden. Zum Einen hätte die Klägerin zu diesem Zeitpunkt bemerken können, dass der Beklagte sich ohne Verlangsamung mit dem Lkw dem Einmündungsbereich genähert hatte, so dass die Möglichkeit einer Vorfahrtsverletzung bestand. Zum Anderen hätte die Klägerin nach dem Gutachten des Sachverständigen K. zu diesem Zeitpunkt durch eine entsprechende Reaktion den Unfall noch vermeiden können.
Aus diesen hypothetischen Erwägungen lässt sich ein Vorwurf gegenüber der Klägerin jedoch nicht ableiten. Denn die Klägerin war zur gleichen Zeit gezwungen – wegen der Regel "rechts vor links” – nach rechts zu schauen, um dem gegebenenfalls von rechts kommenden Verkehr den Vorrang einzuräumen. Der Sachverständige K. hat in seinem Gutachten (I 167) zutreffend darauf hingewiesen, dass sich ein Kraftfahrer in der Situation der Klägerin in der unmittelbaren Annäherung an den Kreuzungsbereich üblicherweise vorrangig nach rechts orientiert, um die Vorfahrt der von rechts kommenden Fahrzeuge beachten zu können. Bei einem solchen Verhalten konnte die Klägerin nicht gleichzeitig nach links schauen, und daher das Fahrzeug des Beklagten nicht rechtzeitig bemerken. Das Verhalten der Klägerin wäre nur dann anders zu beurteilen, wenn man generell bei Kreuzungen mit rechts-vor-links-Regelung eine Verpflichtung der Kraftfahrer annehmen würde, anzuhalten, um auch auf denkbare Vorfahrtsverletzungen von nicht bevorrechtigten Kraftfahrzeugen achten zu können. Eine solche Verpflichtung gibt es nach den Regelungen der Straßenverkehrsordnung jedoch nicht. Ein solches Verhalten ist im Straßenverkehr auch nicht üblich und nicht zu erwarten; dies gilt jedenfalls dann, wenn der Kreuzungsbereich, wie vorliegend, übersichtlich und die Höchstgeschwindigkeit für die beteiligten Kraftfahrzeuge auf 30 km/h begrenzt ist.
Es kommt im konkreten Fall ein weiterer Gesichtspunkt hinzu. Aus den Lichtbildern des Sachverständigen K. (vgl. insbesondere die Luftaufnahme I 147) ergibt sich eine besondere Situation hinsichtlich der auf der Fahrbahn markierten Fahrspuren: Die Lichtbilder zeigen, dass sich die markierten Fahrspuren der Klägerin einerseits und der in die Verbindungsstraße einbiegenden Linksabbieger andererseits in einem größeren Bereich schnitten bzw. überdeckten, und zwar aus der Sicht der Klägerin noch im Bereich der Verbindungsstraße, also vor Erreichen der Einmündung. Das heißt: Die Klägerin musste schon bei der Annäherung an die Einmündung damit rechnen, dass bevorrechtigte Fahrzeuge von rechts ihre Fahrspur kreuzen konnten. Aufgrund der besonderen Situation der sich schneidenden Fahrspuren war die Klägerin in besonderem Maße – mehr als bei "normalen” Kreuzungen – gezwungen, ihre Aufmerksamkeit nach rechts zu richten, um schon bei der Annäherung an die Einmündung eine Kollision mit einem eventuell von rechts einbiegenden Fahrzeug zu vermeiden. Eine gleichzeitige Blickrichtung nach links – von wo sich der Beklagte mit dem Lkw näherte – war für die Klägerin aufgrund der besonderen Situation der Einmündung mithin zusätzlich erschwert.
dd) Das Verhalten der Klägerin wäre nur dann anders zu beurteilen, wenn aus ihrer Sicht eine unklare Verkehrslage bestand (vgl. zu diesem Begriff beispielsweise BGH NJW 2001, 152). Die Sorgfaltspflichten der Klägerin wären dann anders zu beurteilen, wenn konkrete Umstände vorgelegen hätten, aufgrund derer sie – aus ihrer Sicht – mit einer möglichen Vorfahrtsverletzung des Beklagten hätte rechnen müssen (vgl. hierzu Grüneberg, aaO., Rn. 47 mit Rechtsprechungsbeispielen).
Solche Umstände liegen jedoch nicht vor. Als die Klägerin sich in einer gewissen Entfernung der Einmündung näherte, und zu diesem Zeitpunkt – nach ihren eigenen Angaben – den Lkw des Beklagten sah, brauchte sie nicht mit einer Vorfahrtsverletzung zu rechnen, da sich der Lkw zu diesem Zeitpunkt noch in genügender Entfernung von der Einmündung befand, und mit mäßiger Geschwindigkeit (nach dem Gutachten des Sachverständigen K. zwischen 33 km/h und 41 km/h) der späteren Kollisionsstelle näherte. Die Möglichkeit einer Vorfahrtsverletzung wäre für die Klägerin erst deutlich später erkennbar geworden, nämlich ca. zwei Sekunden vor der Kollision, als der Lkw schon deutlich näher gekommen war, ohne seine Geschwindigkeit nennenswert zu vermindern (siehe oben cc)). Für diesen späteren Zeitpunkt lässt sich der Klägerin jedoch keinen Vorwurf machen, da sie vorrangig ihre Aufmerksamkeit nach rechts wegen des Vorrangs der von dort kommenden Fahrzeuge richten musste (siehe oben cc)).
ee) Soweit der Beklagte Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Angaben der Klägerin äußert, spielen diese Zweifel für die Entscheidung des Senats keine Rolle. Zum Einen vermag der Senat – in Übereinstimmung mit der Entscheidung des Landgerichts – aus geringfügig differierenden Angaben der Klägerin bei verschiedenen Anhörungen kein Indiz gegen ihre Glaubwürdigkeit herzuleiten. Solche geringen Differenzen – nach einem Zeitablauf von fast einem Jahr zwischen den beiden Terminen des Landgerichts – sind gerade bei der Schilderung von Verkehrsunfällen nicht ungewöhnlich. Zum Anderen sind für die Entscheidung des Senats nicht die eigenen Angaben der Klägerin entscheidend; maßgeblich sind vielmehr die Feststellungen des Sachverständigen K. in seinem Gutachten zum Unfallablauf und im Übrigen die eigene Darstellung des Beklagten.
ff) Soweit der Beklagte meint, es könne nicht ausgeschlossen werden, dass die Klägerin den Unfall bewusst provoziert habe, handelt es sich um eine reine Spekulation. Tatsächliche Anhaltspunkte für diese Spekulation vermag der Senat nicht zu erkennen.
c) Die Abwägung der beiderseitigen Verursachungsbeiträge (§§ 18 Abs. 3, 17 Abs. 2 StVG) führt zu einer vollen Haftung des Beklagten. Dieses Ergebnis entspricht den Grundsätzen der Rechtsprechung bei Vorfahrtsverletzungen, wenn dem erheblichen Verschulden des wartepflichtigen Fahrzeugführers kein (nachgewiesener) schuldhafter Verkehrsverstoß des anderen Fahrzeugführers gegenübersteht. Die einfache (nicht erhöhte) Betriebsgefahr des Fahrzeugs der Klägerin führt nicht zu einer Reduzierung der Haftung.
5. Der Klägerin steht ein Schadensersatzanspruch in Höhe von 6.600,32 Euro zu. Hierbei ist die Abrechnung des Landgerichts lediglich geringfügig zu korrigieren.
[folgen Ausführungen zur Schadenshöhe]
6. Die geltend gemachten Zinsen stehen der Klägerin zu gemäß §§ 286 Abs. 1, 288 Abs. 1 BGB.
7. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 97 Abs. 1, 92 Abs. 2 ZPO. Hinsichtlich der Kosten des Verfahrens vor dem Landgericht führt die geringfügige Korrektur nicht zu einer Änderung für die Kosten der ersten Instanz (§ 92 Abs. 2 ZPO).
8. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Ziffer 10, 713 ZPO.
9. Die Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 543 Abs. 2 ZPO).